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Sperrklausel-Urteil - Warum Splitterparteien der Europawahl guttun

Dass Karlsruhe die Drei-Prozent-Sperrklausel bei der Europawahl für nichtig erklärt hat, hat für viel Kritik gesorgt. Dabei könnten Kleinparteien, Europagegner und Spitzenkandidaten den traditionell drögen EU-Wahlkampf aufmischen

Autoreninfo

Alexander Wragge seit Ende 2016 Redakteur und Koordinator der Initiative Offene Gesellschaft, und war zuvor als freier Journalist und als Redakteur des Diskussions-Netzwerks Publixphere tätig.

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Bis zur Europawahl arbeiten Sie die Programme der Parteien durch. Sie fragen, wer Ihre Interessen am besten vertritt, etwa beim Verbraucherschutz oder den Agrarsubventionen. Sie ziehen knallhart Bilanz: Was haben Ihre Vertreter im EU-Parlament eigentlich erreicht? Waren die überhaupt da? Wenn Sie so vorgehen, sind Sie ein vorbildlicher EU-Bürger. Aber seien wir ehrlich, wer macht das schon? Zwei Drittel der Österreicher können nicht mal einen einzigen EU-Abgeordneten namentlich nennen, zeigt eine Umfrage. Fiele sie in Deutschland anders aus?

Bisher war die Entwicklung paradox. Das EU-Parlament gewann als Ko-Gesetzgeber beständig an Bedeutung. EU-Abgeordnete entscheiden inzwischen über das Design von Zigarettenschachteln genauso mit wie über die Architektur der europäischen Finanzmärkte. Zugleich wurde das Desinteresse der Bürger immer dramatischer. Das aktuelle Parlament vertritt noch nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten. Nur 43 Prozent gingen 2009 zur Wahl, allen millionenschweren „Geht wählen!“-Kampagnen zum Trotz.

Bisher. Denn diesmal wird alles anders. Es könnte einen Europawahlkampf geben, der die Menschen bewegt und politisiert. Der wieder mehr Menschen an die Urnen führt. Der Grund: Gleich auf mehreren Ebenen gibt es neue politische Konkurrenzen.

Die etablierten Parteien müssen liefern


Mit einem Paukenschlag hat das Bundesverfassungsgericht den etablierten Parteien neue Wettbewerber beschert. Erstmals wird es bei der Europawahl in Deutschland keine Sperrklausel geben. Das heißt: Schon mit rund ein Prozent der Stimmen können Parteien Ende Mai einen der 96 deutschen Sitze im EU-Parlament erobern. Hätte bereits 2009 keine Hürde gegolten, wären beispielsweise auch Republikaner, Tierschutzpartei und Rentner-Partei eingezogen.

Viele Kommentatoren geißeln den Fall der Hürde. Splitterparteien und radikale Kräfte drohen das Parlament arbeitsunfähig zu machen, so eine gängige Reaktion. Bereits heute ist das EU-Parlament mit seinen elf Parteienfamilien sehr bunt und zersplittert. Beschlussfähig wird es oft nur, wenn Europas Konservative und Sozialdemokraten zusammenfinden. So bildete sich in der aktuellen Legislaturperiode bei rund 70 Prozent der Abstimmungen eine “große Koalition”. Eine klare politische Streitkultur können die Bürger da kaum erkennen. Dabei wären echte Richtungsentscheidungen wohl das beste Mittel, die Menschen für ihr Parlament zu interessieren, vielleicht sogar zu begeistern.

Bedrohung von rechts kann die Politik vitalisieren


Zugleich birgt die neue Konkurrenz durch Kleinparteien auch die große Chance für eine höhere Wahlbeteiligung. Denn wer sich bei den etablierten Parteien nicht wiederfindet, hat nun viele Alternativen mit realistischen Erfolgsaussichten, könnte also eher geneigt sein, zur Wahl zu gehen. Die Etablierten geraten zugleich unter Druck, für ihre Kompetenzen, Programme und politischen Bilanzen im EU-Parlament zu werben. Sollten sie sich einfach auf ihre treue Kernwählerschaft verlassen, riskieren sie kräftige Sitzverluste an die Kleinen. Vielleicht steigert auch ein neues Horrorszenario die Wahlbeteiligung. Denn wer verhindern will, dass bald deutsche Rechtsradikale im europäischen Parlament neben Polen, Spaniern und Franzosen sitzen, muss seine Stimme einer demokratischen Partei geben. Nur so lässt sich der Stimmanteil einer NPD drücken.

Der Streit mit europaskeptischen bis europafeindlichen Parteien wird auch den EU-weiten Wahlkampf prägen. In Großbritannien könnte die nationalistische United Kingdom Independence Party (UKIP) mit der Forderung nach einem EU-Austritt stärkste Kraft werden. In Frankreich liegt manchen Umfragen zufolge der rechtsextreme Front National vorn.

Manchen „Pro-Europäer“ mag diese Entwicklung nur beängstigen. Auf der anderen Seite befördert sie vielleicht den überfälligen Diskurs über den europäischen Politik-Prozess. Wenn die etablierten Kräfte unter Druck geraten, das System und ihre Politik darin zu erklären, kann das Europas Demokratie nur vitalisieren. Selbst für Berufseuropäer stecken im offenen Streit mit den Europagegnern viele Chancen. Er könnte ihnen helfen, mehr Wissen über Europa zu vermitteln als mit jeder noch so gut gemeinten Informationskampagne.

Schließlich kommt es noch zu einer ganz neuen Konkurrenz-Situation. Erstmals benennen die europäischen Parteienfamilien vor der Wahl Spitzenkandidaten, die nach dem Amt des Kommissionspräsidenten streben. Im Mai sollen die Kandidaten sogar in einer EU-weit ausgestrahlten TV-Debatte aufeinander treffen. Vielleicht erlebt dann halb Europa vor dem Fernseher mit, wie die EU-Demokratie plötzlich ein menschliches Antlitz bekommt.

Taugt vielleicht auch der personalisierte Wahlkampf als Einstiegsdroge? Denn wer die Kandidaten kritisch prüft, gerät unweigerlich ins Universum der EU-Politik. Wie hat der sozialdemokratische Spitzenkandidat Martin Schulz in der Vergangenheit eigentlich abgestimmt, etwa in Fragen der Netzpolitik? Wie war Luxemburgs Ex-Premier Jean-Claude Juncker – er will konservativer Spitzenkandidat werden – zu verstehen, als er in der Eurokrise sagte: „Wenn es ernst wird, muss man lügen?“

Die größte Tücke: Das entpolitisierte Amt


Die neue Konstruktion der Spitzenkandidaturen ist ein so aufregendes wie riskantes Experiment. So darf zum Beispiel gespannt erwartet werden, wie die europäischen Kandidaten eigentlich eine europaweit einheitliche Agenda verfolgen sollen. Denn außer der gemeinsamen europäischen Parteienfamilie eint die deutsche CDU und die ungarische Fidesz-Partei von Premier Viktor Orban nicht viel. Vielleicht brechen sogar nationale Ressentiments hervor, wenn in England der Deutsche Martin Schulz von Wahlkampfplakaten lächelt oder der griechische Linkspolitiker Alexis Tsipras in Deutschland. Vielleicht passiert auch das Gegenteil: Die Wähler entdecken, wie unwichtig ihnen die Nationalität der Kandidaten ist.

Die vielleicht größte Tücke der neuen Konstruktion liegt darin, dass ein Parteienwahlkampf um ein eigentlich entpolitisiertes Amt geführt wird. Wie soll die Kommission beispielsweise weiterhin als neutraler Schiedsrichter in EU-rechtlichen Fragen auftreten, wenn ihr Chef bei seinen Wählern in der Pflicht steht, eine linke oder konservative Politik durchzusetzen? Schon jetzt stehen die Kandidaten also vor einer Gratwanderung: Versprechen sie eine parteipolitische Agenda, die sie später gar nicht einlösen dürfen oder bleiben sie möglichst wolkig, womit der Mobilisierungseffekt ihrer Kandidatur schon wieder dahin wäre? Der EU-Experte Michael Wohlgemuth vom Think Tank Open Europe Berlin listet all diese Bedenken gegenüber den Spitzenkandidaturen auf. Wohlgemuths Schlussfolgerung: Das Ganze könne „leicht nach hinten losgehen.“

Vielleicht bekommen die EU-Staats- und Regierungschefs angesichts der Risiken auch noch kalte Füße und brechen das Experiment wieder ab. Rechtlich sind sie jedenfalls nicht verpflichtet, einen der Spitzenkandidaten als Kommissionspräsidenten vorzuschlagen. Andererseits würden sie damit die Wähler frustrieren, die sich speziell wegen der Kandidaten für die Wahl begeistert hatten. Sie müssten den Geist der Bürgerbeteiligung zurück in die Flasche bugsieren und riskierten so einen weiteren Akzeptanzverlust der EU. Festzuhalten bleibt: Wenn selbst dieser Europawahlkampf langweilig wird, hat Europas Demokratie ein echtes Problem.

Alexander Wragge ist Redakteur von Publixphere.de. Publixphere ist ein unabhängiges, überparteiliches und nicht-kommerzielles Debatten-Portal. Mitte 2013 mit Unterstützung der Stiftung Mercator gestartet, bietet Publixphere politisch interessierten jungen Erwachsenen eine Plattform, sich gemeinsam und auf Augenhöhe mit Akteuren und Experten in den politischen Meinungsbildungsprozess einzubringen.

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