- „Seid ihr närrisch? Da drüben kommt der Russ!“
Am 21. August 1968 marschierten etwa eine halbe Million Soldaten des Warschauer Pakts in die damalige Tschechoslowakei ein. Sie begruben die Hoffnungen auf baldige Reformen im Ostblock. Unser Autor erinnert sich, wie er als Reporter der Invasion vor genau 50 Jahren nur knapp entkam
50 Jahre ist es her, da saßen wir in der morgendlichen Redaktionskonferenz der Münchner Abendzeitung und stritten. Wegen des sowjetischen Einmarschs in die Tschechoslowakei. Die Linksfraktion der Redaktion um Klaus Altes und Michael Jürgs forderten eine sofortige Sonderausgabe mit Tenor: Verdammung der Russen. Chefredakteur Udo Flade taktierte, besänftige und votierte fürs Abwarten. Ich war für sofortigen Aufbruch nach Prag. Die Bedenkenträger äußerten die üblichen Bedenken. Ich aber bin raus aus der Konferenz. Ich wollte unbedingt nach Prag. Nicht aus ideologischen Gründen, etwa wegen des Endes des von uns damals bejubelten „Prager Frühlings“, sondern wegen der Story. Weltgeschichte direkt vor der Haustür – das gibt es nicht alle Tage.
Ich war damals Polizeireporter, schwierige Geschichten waren das tägliche Brot. Aber das in Prag war mehr. Das war eine Riesenchance. Also hängte ich mich ans Telefon und begann zu recherchieren: Wo kommt man noch rüber, wo ist ein offener Spalt im Eisernen Vorhang. Es dauerte etwa eine halbe Stunde, dann wusste ich: Der Grenzübergang Freistadt in Österreich ist noch im Betrieb, die fertigen ab. Zurück in die Konferenz. Dort wurde noch immer gestritten, Antes und Jürgs riefen zu internationaler Solidarität mit den überfallenen Tschechen auf. Ich sagte: „Wenn der Franz und ich jetzt losfahren, dann sind wir am Abend drüben. Dort in Freistadt sind noch keine Russen, und wenn alles gut geht, sind wir am nächsten Vormittag in Prag.“
„Des geht alles auf Ihre eigene Verantwortung“
Franz Hug und ich waren ein Team. Nach einer Stunde – Pass suchen, Spesenvorschuss abholen, Klamotten mitnehmen – fuhren wir los. Im Radio gab es nur ein Thema: Das Ende des Prager Frühlings, der Einmarsch der Russen. Spät am Abend waren wir an der Grenze. Im Grenzposten sitzen vier österreichische Gendarmen. Einer telefoniert hektisch, die andren drei trinken Kaffee. Bewaffnet ist die Truppe mit ihren Dienstpistolen und drei amerikanischen Karabinern vom Typ M 2 aus dem Zweiten Weltkrieg. Kaliber 22 – Spatzengewehre. Unsere Frage: „Kommen wir rüber ohne Visum?“ löst fassungsloses Kopfschütteln aus: „Seid ihr närrisch? Da drüben kommt der Russ. Schaut raus, was da los ist!“
Draußen fährt ein Auto mit tschechischem Kennzeichen nach dem anderen über die Grenze nach Österreich. Unkontrolliert. Flüchtlinge. Der am Telefon redet inzwischen über uns. Dann legt er auf und sagt: „Also, wir haben den Dienstbetrieb eingestellt. Uns is des Wurscht, machen Sie, was Sie wollen. Visum gibts keines. Des geht alles auf Ihre eigene Verantwortung.“ Also rollen wir über den Grenzstreifen zu den Tschechen. Die lassen ihre Landsleute ohne jede Kontrolle nach Österreich rausfahren. Auch hier wurde der Dienstbetrieb eingestellt.
Das Röhren von Panzermotoren
Wir geraten an einen Major der deutsch spricht. Genau das Deutsch, das Heinz Rühmann in der Rolle als braver Soldat Schwejk auch gesprochen hatte. Er betrachtet uns kopfschüttelnd: „Sie wollen nach Prag? Sind Sie verrückt, wissen Sie denn nicht, was bei uns los ist? Wir haben die Russen im Land. Und die sind bald hier. Hören Sie das denn nicht?“
Bei all den Verhandlungen ist es inzwischen schon fast fünf Uhr, der Augustmorgen dämmert schon grau – und da hören wir es: Das Röhren und Grummeln von Panzermotoren. Der Major: „Die lassen jetzt Ihre Motoren warmlaufen, warten, bis es hell ist, und dann kommen sie. Wir haben die Verkehrsschilder umgedreht. Jetzt ist es noch dunkel, sie wissen nicht, wo sie sind und wohin sie fahren sollen. Aber das ist bald vorbei, es wird hell.“ Wir bleiben hartnäckig, schließlich nimmt er unsere Pässe und stempelt sie ab. „Jetzt sind Sie wenigstens ordnungsgemäß eingereist. Vielleicht hilft Ihnen das ja, wenn Sie in Schwierigkeiten kommen. Und das werden Sie.“ Er gibt uns die Pässe zurück, schüttelt wieder den Kopf, sagt etwas auf tschechisch und dann auf deutsch: „Fahren Sie halt, viel Glück.“
Wir fahren. In uns ein Mix aus Gefühlen: Angst, Unsicherheit und Triumph. Wir waren drin. Das letzte Gespräch hatten wir noch von der österreichischen Grenzstation mit dem Nachtredakteur geführt: „Wir fahren jetzt rüber.“ Auch er hat uns Glück gewünscht und gesagt: „Der Indianer hat gesagt, ihr sollt vorsichtig sein.“ Der Indianer – das war der Chefredakteur Udo Flade. Und nun waren wir drin.
„Raus aus dem Auto“
Wir fahren durch ein erwachendes Land. Heruntergekommene Bauernhöfe, geschlossene Fensterläden, das Vieh wird von den Sommerweiden in die Ställe getrieben. Menschen huschen über die Strasse, Tore werden geschlossen. Junge Männer schieben Anhänger auf die Strasse, blockieren sie mit kleinen Traktoren – verzweifelte Auflehnung gegen das herangrollende Unheil. Dann die ersten Russen. In Schützenpanzern, in Jeeps, in Mannschaftstransportwagen. Die Soldaten aufgesessen, manche essen Brot. Die gucken verständnislos, wollen aber nichts von uns. Aber sie funken wohl einen befehlshabenden Offizier an. Und dann steht da ein Panzer, quer über die Strasse, kein Vorbeikommen.
Ein Offizier springt vom Panzer und kommt auf uns zu, zwei Soldaten im Schlepptau. Das Zeichen ist eindeutig: „Raus aus dem Auto.“ Dann das Gespräch: Ein Mischmach aus Russisch, Deutsch, Englisch. Russisch kann ich noch einigermaßen verstehen, dank einer mehrjährigen sozialistischen Erziehung auf der Leipziger Thomasschule. Er war wohl in der DDR stationiert gewesen, konnte ein paar Brocken deutsch. Er prüft die Papiere. Ob er verstanden hat, was da steht – ich weiß es nicht. Aber was er befehlt, das verstehe ich schon: „Ins Auto, umdrehen zurück über die Grenze. Nix Prag, nix Tschechoslowakei.“ Ich mache Einwände, will verhandeln. Er dreht sich um, zeigt auf den Panzer: „Wenn nicht zurück, kommt der. Schade um schönes Auto.“
Eine tote Grenze
Wir wenden, fahren zurück. Durch totenstille Dörfer, über vollkommen menschenleere Strassen. Russische Soldaten räumen die Hindernisse weg. Sie blicken nicht auf, als wir vorbeifahren. Hinter uns ein Jeep mit dem Offizier und drei Soldaten. An der Grenze ist der Schlagbaum oben, kein tschechischer Grenzposten ist mehr zu sehen. Nur der Major, der uns die Pässe abgestempelt hat, ist noch da. Er steht neben dem Fahnenmast. Die tschechische Flagge weht in der Morgenbrise. Sie ist auf Halbmast gesetzt worden. Als wir an ihm vorbei fahren, hebt der Major die Hand an die Mütze. Franz Hug hebt die Kamera, um die Szene zu fotografieren, ein russischer Soldat hebt die Kalaschnikow – wir haben nicht fotografiert.
Dann fahren wir über die österreichische Grenze zum Grenzposten. Inzwischen kommt kein Auto mehr aus der tschechischen Richtung. Von Österreich aus kommt auch kein Auto mehr. Eine tote Grenze. „Na, seids wieder da, da habts ja a Glück gehabt,“ sagte der Postenkommandant. Auf der Rückfahrt nach München haben wir nicht viel miteinander geredet. Wir waren bedrückt. Im Juni 1953 hatte ich in Leipzig als Kind erlebt, was bewaffnete Macht ist. Jetzt wieder. Du bist hilflos. Ohnmacht.
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.
Und das ist der Unterschied zu heutigen Deutschland. Der Volk hielt zusammen, wir hatten genug von Propaganda und Lügen und leider hat es auch nicht geholfen. In heutigen Deutschland glauben die Menschen der Propaganda und den Lügen, relativieren und modifizieren noch, aber bei uns Tschechen hatte diese Zustand der Lügen schon länger gedauert genau wie in der DDR. Deshalb reagieren wir sensiebler auf diesen Zustand und merken wie man uns manipuliert. Dafür werden wir als Nazis und Rechte diffamiert. Man kann nur hoffen, das dieses unsägliches Zustand bald vorüber geht und das die Verusacher bestrafft werden, aber glauben tu ich es nicht, vileicht dauert es noch viele Jahre.