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() Statt in den Gottesdienst zum gemeinesamen Tatort-Schauen

Medienforschung - „Der Tatort ist ein profanisierter Gottesdienst“

Früher ist man in den Gottesdienst gegangen, heute schaut man Tatort - dort lernt man zwischen gut und böse zu unterscheiden. Dabei vermittelt der Tatort absolut konservative Lebensmodelle, meint der Medienwissenschaftler Dennis Gräf

Herr Dr. Gräf, Sie haben fast 30 Jahre „Tatort“ untersucht. Wie hat sich das Format verändert?
Strukturell hat sich nichts verändert. Der Tatort läuft immer noch sonntags um 20:15 Uhr und daran orientiert sich auch die Darstellung ­­– es werden keine extremen Ansichten vertreten, sondern konsensuelle Weltmodelle. Man spricht die gesellschaftliche Mitte an. Am Ende eines Durchschnitts-Tatorts können viele Zuschauer sagen, dass sie damit einverstanden sind, was dort abgebildet wurde.

 

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Was meinen Sie damit?
Wenn man heute also acht Millionen Menschen vor den Bildschirmen versammeln möchte, dann muss man auf Konsens setzen. Das gilt für die filmische Darstellung und das vertretene Weltbild. Das ist beim Tatort eher konservativ. Vor einigen Jahren lief zum Beispiel eine Folge, in der zu Beginn zwei Lesben auftauchten. Ich habe direkt gesagt: Die werden sicherlich sterben.

Und, sind die beiden gestorben?
Ja, natürlich sind sie gestorben - weil sie am stärksten von dem dargestellten Weltbild abwichen. Und zumindest der Durchschnitts-Tatort duldet keine Abweichung. Die Figur wird ausgegrenzt oder stirbt wie in diesem Fall. Der Mörder kommt selbstverständlich ins Gefängnis, aber erst mal sterben die beiden.

Das klingt stark generalisiert.
Wie gesagt, das ist ein Durchschnitts-Tatort. Es gibt selbstverständlich Ausnahmen und leuchtende Gegenbeispiele.

Aber der Tatort gibt sich heute doch liberal. Die Kommissare ermitteln in Brennpunkten oder beschäftigen sich mit Asylrecht…
Die Themenauswahl an sich sagt ja nichts darüber aus, welche Einstellungen zu einem Thema vermittelt werden. Der Tatort erweckt den Anschein des Liberalen, im Kern ist er in der Regel konservativ.

Das heißt die Normen und Werte haben sich nicht verändert?
Nein. Oberflächlich gibt sich der Tatort offener und liberaler, eigentlich ist er in seiner Struktur aber immer noch sehr konservativ. Das Bestehende soll bewahrt bleiben. Am Sonntag zum Beispiel kam eine Folge aus der Schweiz: Da sollte aus einer Almhütte, die über Generationen bewirtschaftet wurde, ein Wellness-Hotel werden. Schuld waren böse Investoren und Lokalpolitiker, die sich gegen die traditionsbewussten  Almbesitzer wandten. Am Ende konnte die Familientradition, typisch Tatort, fortgeführt werden.

Ist das so schlecht?
Nein, schlecht ist das nicht. Aber es geht stets ums Bewahren. Vor einiger Zeit erst war das so ähnlich, filmisch eine ausgesprochen gute Folge ­–  „Der alte König“, ein Tatort aus München. Es ging um einen traditionsreichen Metallwarenladen, der zugunsten eines neuen großen Baumarkts verschwinden sollte. Die Geschichte wird so erzählt, dass es ganz schrecklich ist, dass das gute Alte viel zu schnell verschwindet. Nur in der Lebenswirklichkeit kann es durchaus sein, dass der Baumarkt besser ist als der Metallwarenladen. Filme konstruieren eben ein eigene Weltmodelle und treffen so Aussagen über Wünschenswertes.

In verschiedenen Beiträgen ist vom „Tatort als Volkserziehung“ die Rede. Erzieht der Sonntagskrimi also zum Bewahren von Werten?
Ein Kollege von mir hat es so ausgedrückt: Der Tatort ist eine Art profanisierter Gottesdienst. Früher sind die Leute sonntags um 10 Uhr in die Kirche gegangen, heute schauen sie um 20.15 Uhr Tatort. Da lernt der Zuschauer, was richtig und was falsch ist. Er kann die vertretene Meinung mit seiner eigenen abgleichen und schauen, wie er sich zu Themen positioniert. Man kann das Erziehung nennen, man kann es auch perfide Beeinflussung nennen. Auf jeden Fall werden Normen- und Wertesets präsentiert, die, mal mehr, mal weniger, nicht gerade zur Integrativität unserer Gesellschaft beitragen.

Seite 2: Der Tatort ist ein Seismograph, kein Spiegel

Wie genau haben Sie die Reihe untersucht?
Mit den gängigen Instrumenten der Filmanalyse. Jeder Text besteht aus einer Aneinanderreihung von Zeichen, und beim Film ist das Prinzip gleich: Die Zeichen ergeben aus ihrer Kombination eine konkrete Bedeutung und erlauben aufgrund ihrer Reihenfolge gewisse Deutungsmuster. Daraus lassen sich die installierten Werte und Normen ableiten.

Noch mal zur Entwicklung: Gibt es einen thematischen Wandel?
Der Tatort hat drei große Wellen durchgemacht. Die erste war in den 70er Jahren. Es ging in erster Linie um die bürgerliche Welt, um die Mittelschicht und die Sorge, was denn bloß die Nachbarn denken könnten. Da ging es nicht um Schwerverbrecher, sondern die Frage, ob die jüngere Frau fremdgeht. Das gipfelte in einer Folge, die Ende der 70er Jahre ausgestrahlt wurde: Ein Religionsprofessor aus Essen stirbt im Taxi an einem Herzinfarkt und der Fahrer ist zufällig Zuhälter. Er bringt den Mann in ein Bordell, fotografiert den Toten mit zwei Prostituierten und erpresst die Witwe mit den Bildern. Die Sorge um die bürgerliche Scheinwahrung ist so groß, dass sie bezahlt.

Klingt ziemlich spießig.
Das war es auch: Während die 68er schon einen gesellschaftlichen Umbruch initiiert hatten, sich auch filmisch vieles getan hat, blieb der Tatort zunächst unauffällig und das Nachkriegsbürgertum beschäftigte sich darin noch stark mit sich selbst.

Wann endete diese bürgerliche Selbstreflexion?
Anfang der 1980er Jahre mit Kommissaren wie Schimanski. Das war ein anderer Stil und ganz andere Themen – er kämpfte in Duisburg gegen die organisierte Kriminalität. Das Böse war nicht Teil der Gesellschaft, sondern bedrohte sie von außen. Da ging es dann um Drogenschmuggel oder Schlepperbanden. Die 90er Jahre haben das zementiert und griffen neuere Entwicklungen auf. Die Drogen kamen dann aus Osteuropa und die Kriminellen wurden noch deutlich brutaler.

Und heute?
Mit der Jahrtausendwende kam die nächste Welle. Der Tatort setzt sich seitdem vor allem mit sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Spaltung auseinander. Insgesamt ist das Themenspektrum auch  breiter geworden. Und hinzugekommen ist vor allem eines: Betroffenheit. Leider lässt sich mit Betroffenheit in der Realität kein Problem lösen.

[gallery:Die 20 Cicero-Cover zum Tatort]

Was sagen Sie zum Etikett des Tatort als „Spiegel der Gesellschaft“?
Ich bin gegen diesen Begriff. Ein Spiegel  würde ja bedeuten, dass der Film eins zu eins zeigt, was in der Realität stattfindet. Es handelt sich selbstverständlich um die Selektion und Kombination von Medieninhalten. Der Tatort ist eine Art Seismograph – er greift gewisse Themen und Trends auf und an ihm kann man gesellschaftliche Entwicklungen ablesen.

Was glauben Sie, wie schafft es der Tatort Woche für Woche acht bis zehn Millionen Zuschauer vor den Fernseher zu locken?
Tja, die Marke ist sicherlich gut positioniert worden: Es gibt Tatort-Public-Viewings, eine Fan-Community und auch eine von der ARD gestaltete Homepage. Viele interessiert der jeweilige Tatort gar nicht, es geht viel mehr um die Reihe an sich, die Ermittler und das Serielle. Es ist eben „Kult“. Viele klassische Tatort-Zuschauer würden beim Polizeiruf gar nicht erst einschalten.

Wieso?
Die einzelnen Polizeiruf-Folgen sind, was das Filmische, die Drehbücher und die Charaktere betrifft, deutlich innovativer und interessanter gemacht, aber es fehlt das Label.  Die Leute schalten Tatort ein, weil Tatort draufsteht.

Dr. Denis Gräf, Jahrgang 1976, arbeitet am Lehrstuhl Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Passau. 2010 erschien seine Promotionsarbeit «TATORT. Ein populäres Medium als kultureller Speicher». Er ist Experte für Mediensemiotik.

Das Gespräch führte Timo Steppat.

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