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Kind der 68er - „Einige von uns wurden sexuell missbraucht“

Der sexuelle Kontakt mit Kindern galt in manchen 68er-Kreisen als gesund und politisch fortschrittlich. Die Schriftstellerin Sophie Dannenberg hatte das in ihrem Roman „Das bleiche Herz der Revolution“ thematisiert. Bei Cicero Online lässt sie sie ihre eigenen Kinderladenerfahrungen Revue passieren

Autoreninfo

Sophie Dannenberg, geboren 1971, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Ihr Debütroman „Das bleiche Herz der Revolution“ setzt sich kritisch mit den 68ern auseinander. Zuletzt erschien ihr Buch „Teufelsberg“

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CICERO ONLINE schaut zurück auf ein Jahr voller interessanter, bewegender, nachdenklicher oder einfach schöner Texte. Zum Jahreswechsel präsentieren wir Ihnen noch einmal das Beste aus 2013.

1974, ich war drei Jahre alt, kam ich in den Kinderladen. Das war ein altes Haus in Gießen, im Schiffenberger Weg. Im verwilderten Garten standen Apfelbäume. Eines Tages aß ich einen Apfel und stieß auf einen Wurm. Ich rief meine Freunde, die mich, den Apfel und den Wurm umringten. Wir waren begeistert. Der Apfelbaum war magisch, er konnte Würmer in die Äpfel zaubern, die ihre Köpfe aus dem Fruchtfleisch steckten und uns begrüßten.

[[{"fid":"53607","view_mode":"teaser","type":"media","attributes":{"height":220,"width":165,"style":"width: 140px; height: 187px; margin: 5px 10px; float: left;","class":"media-element file-teaser"}}]]Zwischen die Bäume hatten die Erwachsenen ein altes Auto vom Schrottplatz gestellt. Wir setzten uns hinter das Steuer und „fuhren“, wir kletterten auf dem Dach herum und öffneten die Kühlerhaube, um Werkstatt zu spielen. Und wir hatten eine Schaukel und einen Sandkasten und dicke Büsche voller Blüten, und als ich das erste Mal eine Hummel sah, hielt ich sie für einen Fisch, weil sie Streifen hatte wie die Zierfische aus dem Aquarium meiner Eltern. Hinter dem Garten lag eine Brache, manchmal stiegen wir durch den verrosteten Zaun und büxten aus, um Schrott und Schnecken zu sammeln.

Im Haus gab es ein Tobezimmer, das mit alten Matratzen ausgelegt war, und ein Spielzimmer mit einem Tisch, wo gemalt, gebastelt und gegessen wurde. Wir durften fast alles machen, was wir wollten. Die meisten von uns kamen aus linken Familien. Ein Junge, Louis, war ein Gastarbeiterkind aus Spanien, und ein Mädchen, Alexandra, stammte aus einer chilenischen Exilantenfamilie, die später freiwillig in die DDR zog. Manchmal liefen wir im Kreis, Alexandra voran, und skandierten „Viva Chile! Viva Chile!“ Natürlich wussten wir nicht, was das hieß, aber es machte Spaß, es zu rufen.

Der Kinderladen wurde von jungen Eltern geführt, die meisten waren Studenten. Sie nahmen sich viel Zeit für dieses Projekt, putzten abwechselnd das Haus und besprachen regelmäßig die Entwicklung ihrer Kinder. Einer war SPD-Mitglied und wurde später Bürgermeister, eine kandidierte in den 80ern für die Grünen in Schleswig-Holstein. Die anderen wurden Ärzte, Lehrer, Forscher.

Wir hatten zwei ausgebildete Erzieherinnen, Lilo und Margit, die lieb und geduldig waren. Margit schminkte ihre Augenlider blau. Lilo sagte zu fremden Frauen „Damen“. Lange dachte ich, eine Dame sei ein spezielles Wesen, ähnlich wie ein Dackel oder wie ein Astronaut.

Wir Kinder liebten Lilo und Margit. Nie erhoben sie das Wort gegen uns. Nicht, als wir eine halbverweste Katze ins Haus schleppten, nicht, als Louis und ich uns im hohen Gras versteckten und zusahen, wie sie uns in Panik suchten, und schon gar nicht, wenn jemand von uns in die Hose machte. Dann wurden wir umgezogen und die verschmutzte Kleidung  in eine Zeitung gewickelt. Alles sollte gewaltfrei sein, trotzdem duldeten Lilo und Margit, dass wir Pistolen aus Noppersteinen bauten und uns damit beschossen.

Als meine Familie von Gießen nach Wetzlar umzog und ich dort in einen klassischen evangelischen Kindergarten sollte, weinte ich. Daraufhin fuhr mich meine Mutter jeden Morgen mit dem Auto nach Gießen zu meinen Freunden, in den verwunschenen Garten und das alte Haus.

Jahre später, als Jugendliche, war ich noch einmal dort. Keiner war da, ich kletterte über den Zaun und streifte durch das hohe Gras und wünschte mir, wieder klein zu sein. Nur wenig hatte sich verändert. Inzwischen waren die späten 80er Jahre angebrochen, an der Tür klebten Aufkleber mit Friedenstauben und dem Antiatomkraftzeichen. Sonst war alles wie früher. Sogar das kleine Hexenhaus stand noch im Garten, schief und modrig, und ich dachte daran, wie wir einmal einen versteinerten Igel fanden, er klebte oben an der Wand, und wir holten ihn mit Stöcken herunter. Aber es war gar kein Igel, sondern ein leeres Wespennest.

Noch heute denke ich gern an meinen Kinderladen zurück. Es war eine glückliche Zeit. Die Welt war wild und geheimnisvoll. Wir waren glückliche Kinder. Und einige von uns wurden sexuell missbraucht.

Nicht von Lilo oder Margit. Ich weiss nicht mal, ob die zwei dabei waren, wenn die Erwachsenen beim Elternabend die sexuelle Befreiung diskutierten. Der Missbrauch fand nicht vor Ort statt. Aber er hatte dort seinen Ursprung. Unsere Eltern taten das nicht, weil sie pädophil waren. Sie taten es, weil sie Sex mit Kindern für fortschrittlich hielten, weil sie dachten, dass Scham und Hemmung bourgeois seien und weil es entsprechende Texte von Wilhelm Reich und Fotobücher von Will McBride gab, wo missbrauchte Kinder fröhlich in die Kamera lachten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in jenen hermetischen Diskussionen jemals der Begriff „sexueller Missbrauch“ fiel, er war damals kein Topos. Rückblickend könnte man sagen, sie haben es nicht so gemeint. Sie haben es anders gemeint. Im Grunde haben sie nur ihre revolutionäre Pflicht getan. Ihr Schweigen dämpft ja auch einiges ab, die Erinnerung, vermutlich auch das später entstandene Schuldbewusstsein.

Als ich einmal auf Übernachtungsbesuch in einer dieser Kinderladenfamilien war, ermunterte die Mutter uns Kinder, einen Geschlechtsakt zu vollziehen. Mein Spielkamerad und ich diskutierten diese Möglichkeit eine Weile, weil wir glaubten, dass ich statt eines Kindes eine Puppe gebären würde. Das schien uns dann aber zu kompliziert.

Einer meiner Freunde sollte zu Hause seine nackte Mutter untersuchen und steckte ihr schließlich einen Stift in die Scheide. Seine Mutter schilderte das detailreich auf dem Elternabend, als Beweis für die kindliche Sexualität. Meine Eltern erzählten mir davon, als ich älter war.

In der Tat sahen sie keinen Übergriff. Das war nicht das Vokabular von damals. Aufgeheizt von diesen Debatten führten sie mir sogar selbst einen Geschlechtsverkehr vor und lachten mich dabei an, mit roten Gesichtern. Sie waren noch Jahre später stolz darauf. Irgendwann verebbte der Stolz in einer scheuen Stille. Die ist für immer geblieben.

Bis dahin wurden wir Kinderladenkinder, anders als etwa von Priestern missbrauchte Kinder, nicht zum Verschweigen angehalten, sondern zum Reden. Das gute Gewissen der Täter war ihr Schutz. Wir sollten den Fortschritt in die Welt tragen.

Aber wir hatten dafür keinen Sinn. Wir waren damit beschäftigt, Hummeln von Fischen zu unterscheiden, Igel von Wespennestern, wir wollten Flitzebögen schnitzen und klettern. Und vielleicht sind wir darum gesund geblieben.

Ich habe es einmal probiert mit dem Reden und meine Eltern auf die Szenen von damals angesprochen. In meiner Sprache, nicht in ihrer. Ich war siebzehn, und die peinlichen Erinnerungen störten mich in meiner Pubertät. Meine Eltern waren entsetzt - über mich. Sie fanden mich destruktiv und hysterisch und taten so, als würde ich phantasieren. Für mich war die Verleugnung tatsächlich schlimmer als der Übergriff selbst.

Ich bin jetzt älter als unsere Eltern damals waren. Sie könnten fast meine Kinder sein. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass ich so gern verzeihen möchte. Und dann fällt mir wieder ein, dass zum Verzeihen immer zwei gehören. Wo sich ein Täter vor der Barmherzigkeit verschließe, da werden die Tore der Hölle von innen zugehalten, las ich in einem Interview mit der Philosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkowitz. Ich bin es leid, von außen an diesen Toren zu rütteln. Die 68er haben entschieden, uns nichts zu geben. Keine Wahrheit, keine Demut. Ich glaube nicht mehr an die Möglichkeit, aber manchmal wünsche ich es mir noch immer - ein einziges ehrliches, trauriges Gespräch. Und danach wieder die Erinnerung an hohes Gras und Apfelbäume.

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