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Kirill Petrenko - Nur die vierte Wahl der Berliner Philharmoniker?

Die Wahl von Kirill Petrenko zum neuen Chef der Berliner Philharmoniker wird allseits gefeiert – zurecht. Doch seiner Wahl gingen offenbar quälende Debatten hinter den Kulissen voraus. Das Getuschel wirft Fragen auf

Autoreninfo

Axel Brüggemann ist Musikjournalist und lebt in Bremen. Zuletzt erschien der von ihm herausgegebene Band „Wie Krach zur Musik wird“ (Beltz&Gelberg-Verlag)

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Sie strahlten, sie waren glücklich und der Dirigent ließ das gesamte Orchester via Telefon umarmen. Man hörte die Steine bei den Orchester-Offiziellen quasi im inneren Fortissimo purzeln, als sie gestern auf einer Pressekonferenz in der Philharmonie verkündeten, dass sie endlich jemanden gefunden hätten, der tatsächlich „Ja“ gesagt habe: Kirill Petrenko wird neuer Chef der Berliner Philharmoniker und Nachfolger von Sir Simon Rattle.

Endlich ist das leidige Kapitel abgeschlossen. Endlich ist die Schmach ausgewetzt, dass der alte Chef freiwillig das Handtuch geworfen hat, um vom selbsternannten weltbesten Orchester in Berlin nach London zu ziehen. Endlich ein Schlusspunkt hinter einer eher peinlichen Wahl mit andauernder Verschiebung von Pressekonferenzen, zerstrittenen Orchester-Blöcken und öffentlichen Absagen von großen Maestri wie Daniel Barenboim oder Mariss Jansons. Endlich sind die kakophonen B‘s und Kreuze aufgelöst, endlich wieder reines C-Dur und weißer Rauch. Die Berliner Philharmoniker haben getan, was sie ihrem Selbstverständnis schuldig waren: Sie haben sich auf den Einen, den Besten, auf ihren Dirigenten geeinigt. Aber taugt Kirill Petrenko tatsächlich zum Papst?

Klar ist, dass der Russe eher ein Benedikt als ein Franziskus ist, ein sensibler Grübler im Weinberg der Töne und kein Öffentlichkeitsarbeiter des Heiligen Klanges. Nur drei Mal hat er bei den Berliner Philharmonikern dirigiert. Er ist ungreifbar. Ein erstklassiger Musiker, sicherlich. Einer, der Simon Rattles Erbe fortsetzt, den Aufbruch in die Postmoderne, die Analyse der Details – eine weitere Abwendung von den alten Berliner Hausgöttern Wilhelm Furtwängler, Herbert von Karajan und selbst Claudio Abbado, der stets versuchte, den alten Sound zu entschlacken, aber den Rausch zu bewahren.

Kirill Petrenko zu ernennen war mutig


Kirill Petrenko ist ein Arbeiter, der den Klang nicht knetet, sondern meißelt, und eben auch ein öffentliches Geheimnis. Was wir wissen, ist, dass seine Ansprüche groß sind, seine Nerven flattern und er es ernst meint mit der Musik, manchmal unerträglich ernst für die Musiker, das Management und das Publikum.

Seine Benennung gibt dem Orchester eine Atempause. Die offensichtlichen Gräben, die innerhalb des Orchesters zwischen der Gruppe des „deutschen Klanges“ und jener der „globalisierten Vielfältigkeit“ eingerissen waren, scheinen vorerst gekittet. Man liegt sich in den Armen.

Kirill Petrenko zu ernennen war mehr als mutig. Zumal niemand weiß, wofür er steht. Nicht einmal die Musiker auf der gestrigen Pressekonferenz konnten Antworten geben. Selbst der Beginn seiner Amtszeit ist offen: vielleicht 2018, vielleicht 2020. Die Vertragsverhandlungen beginnen im Sommer. Von Petrenko selber wird es kein Interview geben. Pressegespräche hält er, wie er einmal sagte, für Zeitverschwendung.

Was ist hinter den Kulissen der Berliner Philharmoniker passiert?


Letztlich haben die Berliner Philharmoniker mit ihrer Antwort unendlich viele Fragen aufgeworfen. Petrenko hasst CD-Einspielungen. Was bedeutet das für ein Orchester, dessen Image gerade auf Tonträger und der Digital Concert-Hall basiert? Das Orchester liebt es, sich öffentlich zu positionieren. Aber wie geht das mit einem Chef, der lieber musiziert als redet? Muss mit Petrenko das gesamte Organisationsgefüge der Berliner umgebaut werden?

Kaum vorstellbar, dass der eher musikferne und öffentlichkeitsscheue Intendant Martin Hoffmann sich halten wird. Petrenko braucht einen charismatischen, musikaffinen Verkäufer und einen stillen Vermittler an seiner Seite. Und was bedeutet seine Benennung für den internationalen Klassik-Zirkus von New York über Abu Dhabi bis Tokio? Immerhin eine der lukrativsten Einnahmequellen des Orchesters. Werden die Dresdner mit Thielemann, die Staatskapelle mit Barenboim, die Münchner mit Jansons, die Bostoner mit Nelsons und die Wiener mit wechselnden Dirigenten den Berlinern die Butter vom Brot spielen? Auf jeden Fall werden sie dem internationalen Publikum geben, was die Berliner Philharmoniker sich derzeit abgewöhnen: den ultimativen Rausch.

Eine weitere Frage brodelt unter der allgemeinen Glückseligkeit. Was ist hinter den Kulissen passiert? Wie kam es nach einem gescheiterten Wahltag nun innerhalb von nur zwei Stunden zur überraschenden Entscheidung für Petrenko? Was ist dran an den Gerüchten, dass man sich zunächst auf Barenboim geeinigt hatte, der aber am Telefon absagte? Dass man Thielemann fragte, der aber nicht kommen wollte, wenn sich nicht eine klare Orchester-Mehrheit für ihn ausspricht? Was ist dran an dem Gerede, dass Nelsons es vorzog, in Boston zu bleiben?

Die Zukunft ist seit gestern definiert


Solches Getuschel wirft die Frage auf, ob die häufig divenhaften Berliner Philharmoniker am Ende gar kein Traumziel mehr für die Dirigenten-Päpste dieser Welt sind. Dass die wirklichen Spitzenkandidaten lieber als Bischöfe des Klanges ihre kleinen, freien Gemeinden bedienen, weil sie hier besser gestalten können. Und was bedeutet all das für die Ernennung Petrenkos? Dass man nur die vierte Wahl nominiert hat? „Nach jedem Wahlvorgang entsteht eine neue Situation“, sagte ein Orchestermitglied auf der Pressekonferenz, „die dann wieder eine neue Grundlage darstellt“. Was aber, wenn nicht die internen Debatten des Orchesters, sondern die Absagen von Traumkandidaten diese neue Grundlage darstellen?

All das sind Spekulationen. Die Berliner Philharmoniker haben Fakten geschaffen. Sie hielten nichts davon, den Absprung Rattles zu nutzen, um – ähnlich wie die Wiener Philharmoniker – einige Jahre ohne Chef zu spielen und sich als Kollektiv neu zu finden, einander zuzuhören und am Ende einen geeigneten Kandidaten zu benennen. Sie wollten unter allen Umständen jetzt einen Papst wählen. Und der heißt Kirill Petrenko. Die Zukunft ist seit gestern definiert.

Wohin sie führt, ist vollkommen offen. Die Wahl Petrenkos ist ein Abenteuer. Im besten Falle sorgt sie dafür, dass der Neue das Orchester wieder auf jenes Feld zurückführt, das es in den letzten Jahren unter Rattle bei allen außermusikalischen Projekten vernachlässigt hat: die konzentrierte Arbeit am eigenen Sound. Und das wäre dann wirklich nicht die schlechteste aller Lösungen.

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