Kurz und Bündig - Jacques Le Goff: Die Geburt Europas im Mittelalter

Natürlich kann sich, wer noch nie ein Buch über das euro­päische Mittelalter gelesen hat, aus Jacques Le Goffs Darstellung über die «Geburt Europas im Mittelalter» ein paar wich­tige Grundlinien klarmachen. Le Goff ist ein bedeutender Mediävist, der seinen Stoff im Schlaf beherrscht. Aber schon die Alten wussten, dass auch dem Homer, wenn er schlief, kleinere Fehler unterliefen.

Natürlich kann sich, wer noch nie ein Buch über das euro­päische Mittelalter gelesen hat, aus Jacques Le Goffs Darstellung über die «Geburt Europas im Mittelalter» ein paar wich­tige Grundlinien klarmachen. Le Goff ist ein bedeutender Mediävist, der seinen Stoff im Schlaf beherrscht. Aber schon die Alten wussten, dass auch dem Homer, wenn er schlief, kleinere Fehler unterliefen. Le Goff hat sein neues Buch ge­wiss nicht im Schlaf geschrieben (was in nachhomerischen Zeiten schwer vorstellbar wäre), aber vielleicht doch im Halbschlaf, sagen wir: mit dem Diktaphon. Selten dürfte ein so großer Gelehrter so lustlos gearbeitet haben. Die «Genese Europas als Realität und als Vorstellung» ist das genauer definierte Thema Le Goffs. Beides ist strikt zu trennen, denn es vollzog sich nicht parallel. Was wir aus fer­nem Rückblick als Entste­hung europäischer Struktur-Eigentümlichkeiten erken­nen, wurde nicht gleichzeitig schon Gegenstand eines klaren eu­ropäischen Selbstbewusstseins. Die erste, grundlegende Schwäche von Le Goffs Buch ist, dass es zwar diese Ungleichzeitigkeit kennt, sie aber nicht durchgehend präzise markiert. Halb lesen wir eine Geschichte Europas, halb eine Geschichte europäischen Selbstbewusstseins. Bei Tours und Poitiers hätten im Jahr 732, so zitiert Le Goff eine ano­nyme Chronik, die «Europäer» die Muslime besiegt. Aber
was hieß das damals? Davon er­fahren wir nichts. Das Mit­telalter verfügte für die gelehrten und vornehmen Schich­ten, die über ihre lokalen Horizonte hinausblickten, über eine Mehrzahl von Einheitsbegriffen – Christianitas, Sacerdotium, Imperium –, allesamt hochkomplexe, von einer fein verästelten Forschung nach­gezeichnete Vorstellungen. Daneben gab es lokale und Grup­pen-Identitäten schier un­ermesslicher Fülle, denen gegenüber die moderne nationale Identität wie eine flur­bereinigte Monokultur wirkt. Dieses Gefüge nachzuzeichnen und sozialhistorisch zu fun­dieren ist heute eine Aufgabe, die höchste Wachheit selbst der Gelehrtesten erfordert. Le Goff rettet sich in eine über­zogene biologische Geburtsmetaphorik, in der die kühn in die Zukunft greifende Karo­linger-Zeit allen Ernstes als «fehlgeborenes Europa» dasteht – weil es danach wieder Rückschläge gab! Schöne Fehlgeburt, die die karolingische Minus­kel, zauberhafte Miniaturen, das Aachener Münster, das Ca­pitulare de Villis und die große karolingische Kalenderreform hervorbrachte! Le Goff weiß, dass ein Satz wie «die Salbung stärkte das Ansehen der Monar­­chie» schief ist, denn er verfehlt die biblisch-sakrale Dimension des Salbungsritus, die dem heutigen Leser vor Au­gen zu bringen wäre. Aber er war hier zu träge, sich eine bessere Formulierung einfallen zu lassen. Denn er schlief, als er schrieb, beziehungsweise fast, wie Henscheid sagen würde. Und der Halbschlaf des Historikers gebiert – Langweile.

 

Jacques Le Goff
Die Geburt Europas im Mittelalter
Aus dem Französischen von Grete Osterwald.
C. H. Beck, München 2004. 334 S., 24,90 €

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