- Zeit der Zeigefinger
In einer komplex vernetzten Welt setzen sich zunehmend einfache Gesten durch. Neben des inflationär benutzten Facebook-Daumens erlebt nun auch der Zeigefinger eine politische Renaissance. Wie das unsere Kommunikation beeinflusst, beschreibt Sabine Bergk
Bereits im Mutterleib entwickeln Föten erste komplexe motorische Fähigkeiten. Ab der achten Woche können sie gähnen, Fruchtwasser trinken und den Daumen zum Mund führen. Nach der Geburt folgen ab dem dritten Monat erste Greifversuche. Mit einem Jahr kann ein Kind Daumen und Zeigefinger zum Scherengriff zusammenführen, ab dem zweiten Lebensjahr gelingt der sichere Pinzettengriff. Erst nach drei Jahren kann der Mensch mit dem Drei-Finger-Spitzgriff einen Stift halten.
Die Aufrichtung gegen die Schwerkraft fordert differenzierte Mechanismen der Muskelkraft und Koordination, die schließlich zu einer Vielfalt an Handlungsmöglichkeiten führen. Hand- und Fingermotorik werden dabei von der Körpermotorik getrennt betrachtet, um das weitreichende Möglichkeitsspektrum der Finger besser erfassen zu können.
Mit dem Computerzeitalter erleben unsere Hände einen umfassenden Entwicklungsrückschritt. Handschriften gehen verloren und damit stumpfen auch die Gehirnregionen ab, die durch den Drei-Finger-Spitzgriff aktiviert werden. Die Eigenschaft, einen Stift zu führen, ist jedoch nicht nur für Schönschriftmomente oder Zuspitzungen des Denkens vonnöten, sondern auch für die Fähigkeit zur Lebensführung. Einen Stift kann man nicht mit Gewalt über das Papier führen, er lehnt sich gegen jede Plattheit auf. Ein Stift braucht Geschick, Einfühlungsvermögen, sanften Druck und einen ausgewogenen Fingerschwung. Werden nur noch die Fingerkuppen innerviert, geht das gesamte Repertoire an Führungseigenschaften, das uns der Stift ins Leben mitgibt, verloren.
Die Kommunikation wird immer rauher
Wenn uns Sprache verloren geht, übernehmen wörtlich Hand und Fuß die Führung. Einfache Gesten ersetzen den komplex geführten Stift. Aggressionen und Schuldzuweisungen werden direkt mit dem Finger angezeigt, statt durch viele Rundschwünge und Schleifen in eine lesbare und handhabbare Bahn überführt zu werden. Als positiver Nebeneffekt schleift sich an den Schriftkurven, wie ein Kiesel in der Flussbiegung, auch der Geist. Gegenseitiges Verständnis ist zwar durch eine schwungvolle Stiftführung noch lange nicht garantiert, der direkte Fingerzeig ist jedoch zunächst einmal außer Kraft gesetzt und in der Vielfalt der Formulierungen, ja, selbst zwischen den Zeilen ergeben sich Wege und Auswege des Miteinanders. Leider kommen in der sozialen Netzwerkwelt längere Texte immer seltener vor, sodass auch nicht mehr viel zwischen den Zeilen stehen kann, da es schlichtweg keine Zeilen mehr gibt. Die Zwischenräume fallen damit weg. Kurzformulierungen ersetzen längere Emails oder Briefe. Die kürzeste Formulierung aber ist und bleibt der Fingerzeig.
Daumen hoch, Daumen runter. Das schlichte Bewerten mit dem Daumen gleicht einem Rückfall in primitivste Ausdrucksformen. Ein Komponistenfreund sagte mir schon vor Jahren, dass es Folgen haben würde, wenn man sich auf diktatorische Art über Dinge und Menschen unterhielte. Er machte kurzerhand bei der Facebook-Manie nicht mit und schreibt auch heute noch mit dem Bleistift. Die Schnelligkeit und Innervation des Bleistifts und vor allem das Einbinden des gesamten Körperempfindens während des Schreibens, kann selbst durch eine komfortable Tastatur nicht ersetzt werden.
Schuldzuweisung und Kraftverlust
Dass nun der Zeigefinger private und politische Renaissance feiert, scheint eine logische Konsequenz des Fötus-Facebook-Daumens zu sein. Wir bewegen uns entwicklungstechnisch vom vorgeburtlichen Stadium zur Vollendung des ersten Lebensjahres. Ab dem zwölften Lebensmonat sollen Kinder in der Lage sein, auf Gegenstände zu zeigen.
Leider wird der Zeigefinger zunehmend auch von Staatenlenkern eingesetzt. Wer anderen sagen kann, wohin die Reise geht, wirkt stark. Der Missbrauch der Kraftgeste Zeigefinger kann dagegen zu schweren Schäden führen. Ein Sprichwort des Politikers Gustav Heinemann besagt, dass derjenige, der mit dem Zeigefinger auf andere Leute zeigt, nie vergessen sollte, dass in der Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger zugleich drei andere Finger auf ihn selbst zurückweisen.
Schließlich besteht durch den ausgestreckten Zeigefinger die Gefahr des Kraftverlusts, da die Kraft von einem selbst auf einen anderen übertragen wird. Aus dieser Sicht stärkt einer seinen Gegner, indem er auf ihn zeigt. Die ursprüngliche Absicht der Schuldzuweisung wird durch den eigenen Kraftverlust konterkariert. Kleinen Kindern versuchte man früher die Geste abzugewöhnen, indem man sagte, sie erstächen damit Engel.
Der moralische Zeigefinger
Unerträglich ist in letzter Zeit der wachsende moralische Zeigefinger geworden. Er wird selbst im Alltag immer dominanter. Kein Einkauf, der nicht mit dem erhobenen Zeigefinger im Nacken stattfindet. Kaum eine Handlung, die nicht unter der Drucklast der political correctness steht. Die Angst vor dem erhobenen oder ausgestreckten Zeigefinger steckt uns im Nacken. Die Menschheit ist zur Meute geworden, wahllos werden per Fingerklick Existenzen an den Pranger gestellt. Es wird nicht mehr analysiert, es wird sofort Fingerjustiz betrieben. Der Rechtsweg wird mit einem Fingerzeig ausgehebelt. Der Schaden, den ein Fingeropfer öffentlich erlebt, ist oft um ein Vielfaches größer als die vermeintliche begangene Straftat. Für Beweise bleibt keine Zeit.
Ein Gespenst geht um, nicht nur in Europa, sondern um die ganze Welt. Es ist der Zeigefinger, der sein Unheil treibt.
Wie nun das Ungeheuer einfangen? Mit einem Stift? Der Drei-Finger-Spitzgriff könnte dabei helfen, die verloren gegangene Balance wieder zu finden. Durch unsere Finger gehen wertvolle Meridiane, die Nerven und Organe, Gedanken und Gefühle miteinander verbinden. Aus dem distanzierten Bewerten, Beschuldigen und Zuweisen könnte bei Aktivierung der Meridiane ein mitfühlend ausbalancierendes Handeln entstehen.
In der japanischen Körpertechnik Jin Shin Jyutsu ist der Zeigefinger interessanterweise der Finger der Angst und der Unsicherheit. In Angstsituationen hilft es, den Zeigefinger mit der gegenüberliegenden Hand zu umfassen und das gesamte System auf diese verbundene Weise zu beruhigen.
International fatal
In einer hypervernetzten Welt fehlt uns zuallererst der körperliche Kontakt zu uns selbst. Zu wenig haptische Erfahrungen, zu große Abschirmung durch Bildschirme führen zu distanzierten Handlungsgesten. Selbst in der Medizin ist das Fingerspitzengefühl aus der Mode gekommen. Den „sehenden Finger des Chirurgen“, der aufgrund langjähriger Erfahrung Veränderungen des Gewebes ertasten konnte, gibt es nicht mehr.
Eine Situation zu ertasten und sie mit dem Drei-Finger-Spitzgriff vorsichtig zu formulieren, scheint politisch aus der Mode gekommen zu sein. Nach dem fast triebhaft mit seinem Zeigefinger verbundenen amerikanischen Präsidenten Donald Trump hat nun auch Boris Johnson finger pointing auf Russland begangen. Die sonst so besonnen gebetsartig die Finger zusammenhaltende Bundeskanzlerin Angela Merkel ist gleich mit auf den britischen Fingerzeig aufgesprungen.
Fingergesten können international um ein Vielfaches schlimmer wirken als im eigenen Land. In der Fremde verständigen wir uns notfalls mit Händen und Füßen. Dass wir bei uns selbst inzwischen in der Fremde angekommen sind, ist ein anderes Kapitel.
Vielleicht spendet ein gestreckter Zeigefinger dem Unsicheren Halt. Wer offen auf einen Anderen zeigt, zeigt seine offene Angst. Ein ausgestreckter Finger bildet in unsicheren Situationen eine Art gewichtsausgleichendes, haltgebendes Dreieck. Bei ausreichender Kopfkontrolle ist ein solches Dreieck nicht nötig. Einem Voranstürzenden hingegen bietet der dritte Punkt Halt. Der Zeigefinger ist vielleicht die letzte Stütze eines Stürzenden.
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"Ein Gespenst geht um, nicht nur in Europa, sondern um die ganze Welt. Es ist der Zeigefinger, der sein Unheil treibt.". Wie wäre es damit:"Ein Gespenst geht um, nicht nur in Europa, sondern um die ganze Welt. Es ist die Raute, die ihr Unheil treibt.".
Trump s 'bereitet mir weniger Kummer als die Raute unserer ewigen Kanzlerin.Denn macht sie dieses Zeichen ist meistens wieder etwas alternativ los und grundsätzlich immer zum Nachteil der Deutschen.
würde Trump stürzen. Man hat ihn bisher unterschätzt, seine Taktiken falsch gedeutet, unter deutschen Moral-Ideal-Aspekten gesehen. Wie auch dieser Artikel mal wieder eine Art Moralpredit sein soll. Aber davon wird die Welt auch nicht besser.
Kurt Tucholsky ließ Lydia in „Schloß Gripsholm“ den speziellen Genitiv nutzen: „Hast du noch ein wenig des schwedischen Geldes?“ Wie schön, diesem gestelzten Casus heute noch einmal zu begegnen!
Ein aufschlussreicher Artikel. Sie hat noch den "belehrenden" Zeigefinger vergessen. Gebraucht vor allen Dingen bei Mitmenschen, die einem unbedingt ihre Meinung oktruyieren wollen.
Sie möge mir dann auch bitte deuten, was die Geste "Daumen mit Zeigefinger" beim Präsidenten ausdrücken soll.
auf Andere gerichtet wie eine Pistole, stellt eine Form der moralischen Erpressung dar und sollte in einer kultivierten Diskussion tabu sein.