- „Sex in einer Hängematte, aufrecht stehend“
Der Literaturkritiker Denis Scheck beginnt seinen letzten Tag mit einem Balance-Akt und geht dann ins Landwirtschaftsmuseum
Ich stelle mir vor aufzuwachen, in einem sonnendurchfluteten Schlafzimmer, um mich der Lösung einer wissenschaftlichen Frage zu widmen, die Generationen von Menschen umgetrieben hat: Ist es möglich, aufrecht stehend in einer Hängematte Sex zu haben? Natürlich muss es warm sein, in einem alten Garten muss es sein, mit alten Bäumen. Sehr gerne möchte ich diese naturwissenschaftliche Frage, diese Frage der Physik, der Körperbeherrschung, der Balance mit meiner lieben Frau austesten. Und ich hoffe, dass wir mit über 100 Jahren dazu überhaupt noch in der Lage sein werden.
Wenn wir diesen uralten Traum gelöst haben, möchte ich in das Deutsche Landwirtschaftsmuseum in Stuttgart fahren, den Tag in einer Ausstellung verbringend, die aus 192 Apfel- und 94 Birnensorten besteht. Hat die Verwechslung von Äpfeln und Birnen oder zumindest der Vergleich derselben doch einen Großteil meiner Tätigkeit als Literaturkritiker ausgemacht. Dort möchte ich an diesen Obstsorten riechen, sie verköstigen, den Horneburger Pfannkuchenapfel, die Landshäuser Brunnenbirne, den Gelbmöstler. Der Duft in diesem kleinen Ausstellungsraum schlägt einem direkt ins Stammhirn: ein Wahnsinn! Und dort, mit dem Verlöschen des Lichts – weil dieses Museum selbst sterblich ist –, wird auch das eigene Leben verlöschen. Da gibt es kein Weiter.
Ich habe kein Aussöhnungsbedürfnis. Ich möchte auch niemanden sehen. Vielen Dank. All I want, is to be alone! Bücher sollte man nicht mit ins Grab nehmen. Sie haben ein ganz eigenes Schicksal. Meine Bücher gebe ich daher der Mitwelt gerne frei, die sollen andere Leser finden. Als Henkersmahlzeit muss etwas Aufwendiges, Kompliziertes her, wie gefülltes Kamel. Der Tod ist eine Unverschämtheit. Er ist der Feind und gehört zu meinem Leben sicher nicht dazu. Gäbe es ein Unsterblichkeitsserum, mit ihm würde ich mich dem Ennui der Unendlichkeit gerne aussetzen. Wahrscheinlich halte ich den Tod deshalb für unverschämt, weil der Roman selbst eine unverschämte Kunstform ist, weil die Literatur Ansprüche an uns Leser stellt, die wir zu Lebzeiten niemals erfüllen können. Um halbwegs kompetent über die deutsche Nationalliteratur zu sprechen, müsste ich die nächsten 400 bis 500 Jahre lesen.
Als Komparatist bräuchte ich gleich ein paar Tausend Jährchen mehr. Im Vergleich zu „Zettels Traum“ oder dem Werk von Thomas Pynchon, Werke, die einem allein schon Wochen an Lesezeit abverlangen, kommt mir unsere irdische Zeit von 70, 80 Jahren unverschämt kurz vor. Deshalb kann ich mich mit meiner Sterblichkeit nicht abfinden. Ein Leben nach dem Tod? Daran glaube ich nicht. Keine Sekunde. Ich habe auch nicht das unglaubliche Bedürfnis, auf einer Wolke Vergil zu treffen. Den treffe ich ja schon in seinen Büchern. Tatsächlich steht die Kenntnis des Menschen mitunter dem Genuss der Literatur sogar im Wege. Die persönliche Bekanntschaft mit jemandem ist sicher nicht der Königsweg zu seinem Werk, nicht immer, nicht unbedingt. Natürlich gibt es unglaublich geistreiche, charmante, wunderbare Menschen, wie Harry Rowohlt. Es gibt aber auch viel öfter jenen schäbigen Rest, wie das Arno Schmidt einmal benannt hat, den man sich nach all der Zeit lieber nicht mehr ganz so direkt beschaut. Und wenn, dann ginge ich schon lieber gleich in die Hölle. Da ist die Gesellschaft amüsanter.
Er ist einer der bekanntesten deutschen Literaturkritiker, vor allem aber einer der meinungsfreudigsten: Denis Scheck, Moderator des monatlichen Büchermagazins „Druckfrisch“ im ARD -Fernsehen sowie Literaturredakteur beim Deutschlandfunk
Aufgezeichnet von Sarah-Maria Deckert
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