Aufschwung Ost im Leseland - Blühende Leselandschaften

Kleine Führung durch die Botanik der neuesten Literatur aus der ehemaligen DDR

Kennt die Geschichte also doch ein Happy End? Fast möchte man es glauben. Wer allerdings noch vor zehn Jahren prophezeit hätte, dass im Frühjahr 2004 der neue Roman des früheren DDR-Autors Christoph Hein in der Bundeshauptstadt Berlin vom früheren Bundespräsidenten Richard von Weizs­äcker vorgestellt werden würde und in München von der ehemaligen Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts und jetzigen Präsidentin des Goethe-Instituts, Jutta Limbach – er wäre zweifellos zu seinem satirischen Humor beglückwünscht worden. Insbesondere, wenn die Weis­sagung auch noch den FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher als Moderator weiterer Präsentationen vorge­sehen hätte – denselben Frank Schirrmacher, der weiland als Feuilleton-Chef der FAZ zusammen mit dem leitenden Feuilleton-Redakteur der «Zeit», Ulrich Greiner, den so genannten deutsch-deutschen Literaturstreit inszenierte und dabei die bekanntesten DDR-Autoren als »Staatsdichter» entlarvte. Und nun wird das Unwahrscheinlichs­te wahr – zivile Gesten der Versöhnung? Oder kulturell vereinigende Staatsakte zum Dank für Vereinigungs-Literatur? Man muss sich ja nichts Böses denken, aber wundern darf man sich schon.


Ein literarischer Palast der Republik

«Sie gehen ja gar nicht richtig aus sich raus. Sie müssen sich doch maßlos freuen?» Diese Frage hatte 1991 ein etab­lier­ter Westberliner in Botho Strauß’ Theaterstück «Schluß­chor» an ein DDR-Paar gerichtet, das in der Nacht der Maueröffnung in ein Edelbistro geraten war. Das Paar, von Botho Strauß als «etwas unförmig wirkende Leute in ihren graublauen Blousons» beschrieben, hatte geantwor­tet: «Doch. Wir freuen uns riesig. Wir freuen uns auch auf die Diskussion mit Ihnen.» Doch daraus wurde nichts – jedenfalls, soweit es um die Literatur der DDR ging. Dabei fehlte es an Diskussionen keineswegs, im Gegenteil: Das bundesrepub­likanische Feuilleton erlebte einen ungeahnten Aufschwung als Debatten-Forum im Kampf um die endgültige Bewertung der DDR-Literatur (und verflüchtigte sich alsdann in seiner Eigenschaft als zentrale Zuteilungs-Instanz für historische Bedeutung gemeinsam mit der auch ideologisch abgewickelten DDR).

Unter der Parole «Wer bestimmt, was gewesen ist, der bestimmt auch, was sein wird» fasste Ulrich Greiner im November 1990 den Sinn der wütenden Auseinandersetzungen um die «Staatsdichter» des realsozialistischen Deutschland bündig zusammen, und nur ein Schelm mochte sich dabei an die Losung einer verdien­ten DDR-Aktivistin mit dem sprechenden Namen Frieda Hockauf erinnert fühlen: «So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben!» Zum Scherzen war ein Jahr nach der Wende ohnedies kaum jemand mehr aufgelegt, denn mittlerweile ging es auch in literarischen Belangen ums Ganze: Aus der düsteren Vergangenheit «machtgeschützter Innerlichkeit» in den beiden deutschen Diktatur-Literaturen des 20. Jahrhunderts sollte die vereinigte deutsche Literatur ihren Weg in eine ideologisch befreite Zukunft finden.

Was als Streit um Christa Wolfs im Juni 1990 erschienenen Roman «Was bleibt» begonnen hatte, rundete sich bereits ein halbes Jahr später zu einer Musterung der literarischen Entwicklung in beiden Teilen Deutschlands und, siehe da, «die Gesinnungs­ästhetik war das herrschende Merkmal des deutschen Literaturbetriebs, in der DDR sowieso, aber auch in der Bundesrepublik». Wenn es ein knappes Jahr nach der Wende um die Gesinnungs­ästheten ging – Autoren, die «Werk und Person und Moral» kunstwidrigerweise für «untrennbar» hielten –, waren nicht mehr allein Christa Wolf oder Volker Braun, sondern ebenso Heinrich Böll und Günter Grass gemeint.
 

Aus Dissidenten werden Komplizen

Mit einem gravierenden Unterschied allerdings. Während die Debatte innerhalb der westdeutschen Literatur auf die literatur-poli­tische Ablösung der Böll-Generation zielte, waren die reform­sozialistischen Autoren der DDR dem Vorwurf konfrontiert, sich mit ihren Plädoyers für einen «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» zu Komplizen ihres totalitären Staates gemacht zu haben. Nicht etwa tatsächliche Staatsdichter wie Hermann Kant oder Erik Neutsch wurden zur Zielscheibe, sondern gerade die Autorinnen und Autoren, deren spezifische Melange aus gemäßigter ästhetischer Moderne und allgemein-menschlichen Fragen nach Individuum, Welt und Geschichte bei Publikum und Kritik im Westen zunehmend Zustimmung gefunden hatte und schließlich auch mit wichtigen Literaturpreisen geehrt worden war.

Wenn Christa Wolf und Stefan Heym sich nach einem Treffen ost- und westdeutscher Schriftsteller im Juni 1990 nachrufen lassen mussten, sie sollten «bleiben, wo der Pfeffer wächst», so galt dieser Ausbruch nicht zuletzt populären Vertretern eines literarisch-politischen Konzepts, von dem der postmodern gewordene West-Intellektuelle sich in Überdruss und Mühsal endlich freigemacht hatte – Klagen um die schlechte Welt, schöngeistige Entwürfe für eine bessere hatte man hinter sich.

So stand die avancierte Literatur der DDR am Ende des Feuilleton-Gerichtstags ganz ähnlich wie der Berliner «Palast der Republik» da: Das Äußere war noch vorhanden, die Bücher gab es ja noch. Aber deren Inneres, die ästhetischen Funktionsräume gewissermaßen, wurde erst als verseucht diagnostiziert, dann im Laufe der Debatten entkernt. So dass schließlich niemand mehr wusste, was mit den Resten noch anzufangen sein sollte. Während Politiker vor ihren neuen Wählern von «blühenden Landschaften» schwärmten, DDR-Verlage wie Aufbau oder Volk & Welt abgewickelt und verkauft wurden und in den Buchhandlungen palettenweise die Grishams und Kings eintrafen, hatten die Galions­figuren einer vermeintlich besseren DDR ausgedient. Endgültig, wie es schien.


Die Feuilleton-Treuhand macht Tabula rasa

Was sich im «Literaturstreit» den von Botho Strauß so genannten «Blouson»-Menschen in Eruptionen von Siegerlaune und Verkleinerungswillen entgegengeworfen hatte, war Teil eines gesamtgesellschaftlichen Vorgangs – ebenso wie auf dem ökonomischen Sektor ging es auch in der Literatur, koste es, was es wolle, um «Modernisierung». Die Literatur, wie später auch die Bildende Kunst, stellte gewissermaßen ein Kombinat dar, das von der Feuilleton-Treuhandanstalt Abteilung für Abteilung geschlossen wurde. Dass Macht-, Verteilungs- und nicht zuletzt Marktinteressen diesen Prozess antrieben, stand außer Zweifel. Allerdings erwies es sich dabei als günstig, dass die Schriftsteller – mit Ausnahme des von alledem unberührt umherschweifenden Zeit- und Weltgeistes Heiner Müller – ihre inhaltlichen und ästhetischen Maximen eng mit ihrer persönlichen Glaubwürdigkeit verbunden hatten. Zuerst war dies den «Staatsdichtern» zum Verhängnis geworden; im nächsten Schritt machte es auch der jungen Kunst- und Literaturszene vom Prenzlauer Berg den Garaus.

Deren weitgehende Stasifizierung war ab 1991 nachgewiesen. Die Beweise legten den Eindruck nahe, hier sei Literatur geradezu nach dem Scheckbuch des Staatsapparats entstanden. Sobald Sascha «Arschloch» Anderson, Wortführer und Vorzeigekünstler der Prenzlauer-Berg-Aktionen, mitsamt deren Theoretiker Rainer Schedlinski als langjähriger Stasi-Spitzel enttarnt war, galten auch die künstlerischen Produktionen der Szene als diskreditiert und mit ihnen eine Künstler-Generation, die gerade begonnen hatte, sich im Westen einen Namen zu machen: Die Kinder der «Staatsdichter» waren über ihre besondere Verbindung von Kunst und Politik, die «Stasi Connection», zu Fall gekommen.

Dass die Kunst- und Literatur-Szene mit Spitzeln durchsetzt und Sender und Empfänger am Ende vermeintlich nicht mehr zu unterscheiden waren – die Stasi-Kooperationen von Heiner Müller und Christa Wolf, die 1993 ans Licht kamen, komplettierten das trübe Bild –, hatte mit westlichen Macht-Interessen und deren Durchsetzung freilich nichts zu tun. Hier handelte es sich schlicht und schnöde um zu DDR-Zeiten selbst geschaffene Fakten: Bevor noch ein «Besserwessi» in der Absicht feindlicher Übernahme auf den Literaturbetrieb hatte losgehen können, hatte der sich schon längst von innen her  ausgehöhlt. Mitte der neunziger Jahre fiel daher endgültig auseinander, was nicht zusammengehören sollte. Wo einmal die Literatur der DDR gewesen war, herrschte Tabula rasa.


Sind so kleine Menschen

Die Tragödie erlöst sich in der Farce am Ende selbst, das wusste schon Karl Marx. Der Film «Good bye, Lenin!» machte genau das zu seiner Geschichte und war zugleich selbst Teil dieses Vorgangs: Anfang des neuen Jahrtausends war es an der Zeit, den deutschen Bier- und Bitterernst in Einheitsfragen wegzulachen – Schluss mit traurig! Schon 1995 hatte Thomas Brussig in seinem Schelmenroman «Helden wie wir» Christa Wolf scherzhaft mit einer nationalen Eislauftrainerin der DDR verwechselt. Und der Film «Sonnenallee» – zu dem Brussig das Drehbuch schrieb – hatte das komisch Zeitversetzte am Mauer­land sympathisch gemacht. Doch erst die Ostalgie-Shows, die nur noch putzig und kurios aussehen ließen, was den Osten Deutschlands vierzig Jahre lang vom Westen unterschieden hatte, setzten das entscheidende Signal: Es war eben doch nicht alles schlecht gewesen und auf jeden Fall sehr, sehr menschlich; die versammelte TV-Nation lachte einverständig.

Texte produzieren solche Effekte bekanntlich nicht so leicht. Doch mit Jana Hensels Erinnerungsbuch «Zonen­kinder» bahnte sich im Jahr 2002 eine Gattung ihren Weg zum Erfolg, der aus einsichtigen Gründen ganz ihrer Generation gehört – denen, die noch Kinder waren, als die Mauer fiel, die mit Stasi und Partei, mit Verrat, Geducktheit und dem falschen Leben im Falschen als Akteure nichts zu tun hatten. Und wie rührend nehmen sich doch ein Pionierhalstuch, das niedliche Sandmännchen des DDR-Fernsehens und Bummi-Bär gegenüber den Schreck­nissen der Mauer-Bilder aus: Sind so kleine Menschen, die nicht ahnten, worauf es hinauslaufen sollte, wenn die Kindergartengruppe das Lied «Gute Freunde» anstimmte, dessen erste Zeile lautete: «Soldaten sind vorbeimarschiert im gleichen Schritt und Tritt.»

In Susanne Fritsches für Kinder ab 12 Jahren geschriebenem DDR-Geschichtsbuch «Die Mauer ist gefallen» kann man all dies, dazu aber auch ihren Pionier-Ausweis sowie schulische Beurteilungen im Reprint betrachten – ein paar Seiten weiter sieht man dann Menschen über Stacheldraht fliehen und lernt, was die Planwirtschaft war oder wie die Stasi sich bei Verhören Geruchsproben von ihren Opfern verschaffte. Doch es fragt sich, wer im Ernst diese mal naive, mal lehrhaft politisch bildende Mixtur aus privater Kinder- und politischer Landes-Geschichte eigentlich lesen soll – und zu welchem Zweck? Und wer wird was mit Erinnerungsbüchern anfangen, die, wie Daniel Wiechmanns «Immer bereit! Von einem Jungen Pionier, der auszog, das Glück zu suchen», ihr Schreib- und Lebensziel in «Friede, Freude, Eier­kuchen» sehen und dabei dummdreist doch nur eine gewöhnliche Pubertätsgeschichte à la «Ich bin der Größte, ich habe den Größten» referieren?

Was eigentlich unterschied eine DDR-Provinz-Kindheit der siebziger Jahre substanziell von den zeitgleichen Bier- und Bratwurst-Orgien im Westen, wie Michael Tetzlaffs «Ostblöckchen»-Szenen sie, schmissig und zur Munterkeit entschlossen, festhalten? Natürlich: Dass «Stasi-Helga» ihren Namen wegen der Staatsagenten­brille trug, hätte den Westler vor Rätsel gestellt, auch musste der leider ohne West-Pakete auskommen. Doch war deren Inhalt im Osten, wie man erfährt, oft ebenso wenig populär wie deren Absender. Gebrüllt und geschlagen wurde jedenfalls hüben wie drüben, und böse Kinder, die Unterhosen in Wurstkessel stopfen, kriegten beiderseits der Grenze Ärger.

Interessant an diesen Lausbubengeschichten made in GDR ist letztlich viel weniger ihr konkreter Inhalt als ihre Machart, die das Erfolgsrezept der Ostalgie-Sendungen übernimmt: Das Gesell­schaftssystem mit seinen für Westaugen oft grotesken Forderungen, Ehrenzeichen und Ritualen bleibt Dekor, eine Folie, vor der sich dann genau das abspielt, was immer geschieht, wenn Kinder und Jugendliche mit der Erwachsenengesellschaft zusammen­stoßen – selbst in der skurril politisierten Kulisse ist doch im Grunde alles wie bei Wessis Mutti.


Aufschwung Ost: «Es gibt Beleuchtung»

Wie viel aufschlussreicher das Trennende ist, zeigen in diesem Frühjahr Lebensberichte und Beobachtungen, die die Wende zu ihrem Dreh- und Angelpunkt machen: Martina Rellins Interview-Sammlung mit dem allerdings schrecklichen Illustrierten-Titel «Klar bin ich eine Ost-Frau!», Annetta Kahanes «Ich sehe was, was du nicht siehst» oder auch Peter Richters nach allen Seiten austeilende Sammlung «Blühende Landschaften». Hier, wo die «Zonen-Gabi» des Satiremagazins «Titanic» noch einmal unter Tränen auf ihre «erste Banane» blickt: eine bananenartig geschälte Gemüsegurke, werden «Alteigentümer» wie «Jammerossis» in ihren seit 1989 verhärteten, feindseligen Posen entblößt. Doch
Richter zeigt auch, wie sie dereinst zusammenfinden werden: im gemeinsamen Ressentiment gegen die Polen, die es in der EU nur auf das ehrlich erschuftete Geld der Gesamt-Deutschen abgesehen haben. Besonders angenehm an diesem Band ist, dass Richters Sprachwitz, der sich auch schon mal einen «Luftkampf der Erinnerungen» genehmigt, seinen Gegenstand nie mit Lachgas betäubt – ein böser Blick genügt.

Martina Rellins Interviews vertiefen die Spaltung auf andere Art: Vierzehn «Ost-Frauen» dementieren kraft ihrer gewundenen Nach-Wende-Biografien nicht nur das notorische «Mutti»- und «Zonen-Gabi»-Image; sie machen auch einsichtig, weshalb der Wes­ten aus ihrer Perspektive oft «träger als der Osten» erscheint und die Schlussfolgerung nahe legt: «Viele im Westen sind einfach zu faul zum Arbeiten.» Wenn sich der «Aufschwung Ost» im halb vergessenen Ostsee-Bad Lubmin in dem Satz «Es gibt Beleuchtung» manifestiert, ist Satire so fern wie überflüssig – schlaglichtartig leuchtet ein, welche Voraussetzungen dieser Aufschwung hatte.

Die Autobiografie der früheren Ausländer-Beauftragten für Ost-Berlin, Annetta Kahane, führt schließlich die einst programmatisch unvereinbaren deutschen Hälften in ihrer gemeinsamen Vergangenheit zusammen. Kahanes Geschichte beginnt in den fünfziger Jahren in einer jüdisch-kommunistischen Familie ehemaliger Widerstandskämpfer und führt von da aus –  der Vater war Journalist – immer wieder auch ins Ausland: nach Indien und Brasilien, später nach Sao Tomé und Mosambik. Rassismus und Antisemitismus werden da als so frühe wie durchgängige Merkmale der DDR-Gesellschaft kenntlich – wer Annetta Kahanes Bericht gelesen hat, wird endgültig nicht mehr davon zu überzeugen sein, dass zum Schwall der West-Importe nach der Wende auch die Neonazi-Szene und ihre Aktionen gehörten. Und in ihrer unzerbrechlichen Heiterkeit endgültig auf die Nerven gehen werden einem fortan die scheinbar arglosen Schilderungen von DDR-Dorf- und Stadt-Kindheiten, die ihr Erzählkapital gerade aus der un­berührbaren Dumpfheit ihrer Bewohner schöpfen, von Jochen Schmidt bis zu Daniel Wiechmann und Michael Tetzlaff.
 

In Büchern ruht das versunkene Land

Und die Literatur, mag sie denn gar nichts mehr zu alledem sagen? Der «Wenderoman», nach dem das Feuilleton sich kurioserweise lange Jahre verzehrte, obwohl seine Matadore selbst soeben das Politische in der Literatur mit einem Bannfluch belegt hatten – er ist ausgeblieben. Und mittlerweile fragt sich ja auch, wer ihn eigentlich wollte und wozu. Damit die «Blouson-Menschen» endlich mal Botho-Strauß-gemäß «aus sich rausgehen» und «Freude» zeigen? Brigitte Burmeisters Roman «Unter dem Namen Norma», Ingo Schulzes «Simples Storys» und Kathrin Schmidts «Koenigs Kinder» kamen der erwünschten Thematik äußerlich noch am nächsten, doch waren Dankbarkeit und Freude nicht ihr beherrschendes Thema, sondern das Zerbrechen von Biografien an historisch-politischer Vorgeschichte. Wie es ja überhaupt für die Literatur spricht, dass sie sich schreibprogrammatische Ansinnen vom Leibe gehalten und den Auftrag an die «Zonenkinder» und deren Freunde weitergereicht hat: Über Jana Hensel an Katja Oskamp, die ein Gruppenbild mit Stasi-Eltern festhielt, weiter an Claudia Rusch, die ihre Herkunft aus einer Dissidenten-Familie aufzeichnete (siehe „Literaturen” 12/03). Die Literatur aber hatte anderswo zu tun.

Das scheint auf den ersten Blick auch in diesem Frühjahr nicht anders: Die Literatur-Landschaft der Ex-DDR blüht – vielfach allerdings in Konservierungen, die Persönliches bewahren. Christa Wolf, nach «Medea» (1996), «Leibhaftig» (2002) und ihren DDR-Alltags-Aufzeichnungen «Ein Tag im Jahr» (2003) (siehe „Literaturen” 10/03) unvermindert in der literarischen Öffentlichkeit präsent, erhält als Geschenk ihres Verlages zum 75. Geburtstag eine prächtige «Biographie in Bildern und Texten» (siehe S. 66). Mit der Neuauflage seines 1969 zuerst erschienenen Haftberichts «Im Block» zeichnet der aus Rostock stammende Walter Kempowski ein auf biografische Erfahrung gegründetes Bild von der DDR der späten vierziger, frühen fünfziger Jahre: als Zuchthaus. Aus dem Nachlass des vor zehn Jahren verstorbenen Erwin Strittmatter erscheint ein «Kalender ohne Anfang und Ende. Notizen aus Piestany», in dem die DDR der siebziger und achtziger Jahre freilich nur noch nebenbei vorkommt. Einar Schleefs ebenfalls aus dem Nachlass stammendes «Tagebuch 1953–1963» (siehe S. 32) ist zwar ein Schatz an Beobachtungen und Beschreibungsübungen, doch figuriert die DDR auch hier im Wesentlichen als die biografisch unausweichliche Randbedingung, in deren Grenzen der junge Mann sich zum Künstler heranbildete. Und Christoph Hein veröffentlicht mit «Landnahme» (siehe S. 44) noch einmal einen Roman über das Dasein in der DDR, exakt in dem Chronisten-Stil, mit dem er als DDR-Autor weiland auch im Westen auf sich aufmerksam machte – ein gleich doppelter Rückgriff auf Vergangenes. Abgeschlossen, auf­gehoben, wie ein Einschluss im Gestein, ruht das versunkene Land in diesen Büchern.

Jenseits von Reagenzglas und Treibhaus

Aus dem Gesichtskreis der Jüngeren dagegen scheint ihre eigene Vorgeschichte schon gleich wie ausgeschnitten. Vier zwischen 1958 und 1979 in der DDR geborene Autorinnen – Angelika Klüssendorf (siehe S. 67), Julia Schoch (siehe S. 62), Ariane Grundies und Franziska Gerstenberg – wenden sich den individuellen Wahrnehmungen ihrer Figuren zu; allenfalls in knappen Verweisen blitzt die frühere politische Umgebung auf.

Die beiden Jüngsten, Ariane Grundies und Franziska Gerstenberg, kühlen die Erzähltemperatur aufs Äußerste herunter, ihre Szenarien sind eng umrissen – nur keine Wallungen, keine hohen Töne, bloß nichts Exponiertes! Woraus der Eindruck resultiert, dass diese kleinen Geschichten gleichsam die Fortsetzung der «Zonenkinder» mit literarischen Mitteln sind: Stichproben, Beobachtungen, minimalistische Bestandsaufnahmen. Denkt man allerdings bei Ariane Grundies’ Erzählungen bald, noch mehr Jils, Robertas und Jonnys müsse man nicht unbedingt kennen lernen, verhält sich das bei Franziska Gerstenbergs Debüt «Wie viel Vögel» anders. Eik und Marcel, Jorinde und Ella mögen als Figuren zunächst auch nicht viel tiefgründiger sein als Grundies’ Altersgenossen. Doch sind ihre Konflikte mit sich selbst und anderen komplexer, auch ist die soziale Spannbreite größer. Mit großer Distanz, aber durchaus nicht ohne Zuneigung werden menschliche Beziehungen in ihren verfehlten Hoffnungen und verpassten Möglichkeiten skizziert. Jenseits davon aber scheint es keinen Bezugspunkt zu geben: Das Private ist zugleich das Gesellschaftliche. Eine (Re-)Konstruktion von Gesellschaft liegt weit außerhalb dieses Beobachtungs-Horizonts – ein Element, das Franziska Gerstenberg mit im Westen Deutschlands geborenen Autoren ihrer Generation verbindet. Insgesamt entsteht hier so ein noch übersichtliches, mit Beziehungs-Phan­tasien bepflanztes Geschichten-Beet, mit Blüten hier und da – ein schöner Anfang.

Verfehlt aber wäre es, diese Fünfundzwanzig­jährigen an der Zwischengeneration zu messen, an Autorinnen und Autoren wie Katja Lange-Müller, Durs Grünbein, Ingo Schulze, Kathrin Schmidt, Kerstin Hensel oder Jens Sparschuh. Deren Voraussetzungen waren allein aufgrund ihres Jahrgangs und Erfahrungshintergrunds grundlegend andere: Den Epochenbruch erlebten sie als Erwachsene, als solche aber auch, die beim Untergang des Alten selbst keine Claims zu verlieren hatten. Ihren literarischen Texten gibt das eine Qualität, die sie denen der meisten westlichen Kollegen voraushaben: Existenzielle Brüche sind ihr Stoff und Erfahrungs-Kapital, ihr Material bleibt das Ungesicherte, ihr Blickwinkel die Distanz – zum Alten wie zum Neuen.

Ganz zuletzt aber zeigt sich an dieser Autorengruppierung unübersehbar, wie vollkommen ahnungslos gegenüber literarischen Prozessen die furiosen Dekrete waren, die festschreiben wollten, «was sein wird»: Literatur kommt nicht in genetischen Ausleseverfahren zustande, ihr Nährboden findet sich weder im Reagenzglas noch im Treibhaus.


Honi soit qui mal y pense

Und wie verhält es sich nun mit Christoph Hein als demo­kratischem Staatsdichter, auf den Podien der vereinigten Republik präsentiert von deren Würdenträgern? Könnte es sich hier am Ende auch um einen Akt stellvertretender Wiedergutmachung handeln – aus Anlass eines Romans, der in bekannter Weise noch einmal ein DDR-Thema aufgreift, geschrieben von einem Autor, der zur ersten Reihe der DDR-Autoren gehörte, aber selbst in den wüstesten Debatten als «Staatsdichter» niemals in Verruf kam?

Ach, was soll sein? Ein Auftrag für ein Geschichtsgemälde lag nicht vor, hier wird kein Staat gefeiert, noch feiert der sich bei dieser Gelegenheit selbst – fast kommt einem der Titel «Landnahme» wie eine vorauseilend selbstironische Überschrift für die hochmögenden Veranstaltungen vor, die Buch und Autor jetzt begleiten.

Ein Schelm, wer da noch Böses denkt.

Literatur zum Thema

Botho Strauss
Schlußchor
dtv, München 1996. 97 S., 7,62 €

Thomas Brussig
Helden wie wir. Roman
Fischer TB, Frankfurt a. M. 1998. 322 S., 8,90 €

Jana Hensel
Zonenkinder
Rowohlt, Reinbek 2002. 175 S., 14,90 €

Susanne Fritsche
Die Mauer ist gefallen. Eine kleine Geschichte der DDR

Hanser, München 2004. 147 S., 14,90 €

Daniel Wiechmann
Immer bereit! Von einem Jungen Pionier, der auszog, das Glück zu suchen
Droemer, München 2004. 175 S., 14,90 €

Michael Tetzlaff
Ostblöckchen. Neues aus der Zone
Schöffling, Frankfurt a. M. 2004. 161 S., 14,90 €

Peter Richter
Blühende Landschaften. Eine Heimatkunde
Goldmann, München 2004. 223 S., 17,90 €

Martina Rellin
Klar bin ich eine Ost-Frau!
15 Frauen erzählen aus dem richtigen Leben
Rowohlt Berlin, Berlin 2004. 288 S., 16,90 €

Annetta Kahane
Ich sehe was, was du nicht siehst
Rowohlt Berlin, Berlin 2004. 352 S., 19,90 €

Brigitte Burmeister
Unter dem Namen Norma. Roman
Klett-Cotta, Stuttgart 1994. 286 S., 19 €

Ingo Schulze
Simple Storys. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz
Berlin Verlag, Berlin 1998. 303 S., 19 €

Kathrin Schmidt
Koenigs Kinder. Roman
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002. 344 S., 22,90 €

Christa Wolf
Eine Biographie in Bildern und Texten
Hg. von Peter Böthig.
Luchterhand, München 2004. 224 S., 35 €

Christoph Hein
Landnahme. Roman
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2004. 360 S., 19,90 €

Walter Kempowski
Im Block. Ein Haftbericht
Knaus, München 2004. 317 S., 22 €

Erwin Strittmatter
Kalender ohne Anfang und Ende. Notizen aus Piestany
Aufbau, Berlin 2004. 239 S., 18,90 €

Einar Schleef
Tagebuch 1953–1963
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2004. 416 S., 30 €

Angelika Klüssendorf
Aus allen Himmeln. Erzählungen
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2004. 142 S., 14,90 €

Ariane Grundies
Schön sind immer die andern
Piper, München 2004. 176 S., 15,90 €

Franziska Gerstenberg
Wie viel Vögel. Erzählungen
Schöffling, Frankfurt a. M. 2004. 229 S., 18,90 €

Julia Schoch
Verabredungen mit Mattok. Roman
Piper, München 2004. 135 S., 15,90 €

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