Mariupol
Wachsendes Crescendo der Horrorbilder: Straße in Mariupol / dpa

Ukraine-Krieg - Unsere schmale Gegenwart

In der Corona-Krise hat es angefangen, in den Debatten über den Ukraine-Krieg geht es weiter: Wie in der Vergangenheit mit Krankheiten und Kriegen umgegangen wurde, zählt nicht mehr; welche Folgen für die Zukunft das derzeitige Handeln hat, soll keine Rolle mehr spielen. Wir scheinen in einer endlosen Gegenwart gefangen, in der wir nur mehr in Pawlow’scher Manier auf Reize reagieren.

Ralf Hanselle / Antje Berghäuser

Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Es gibt den Augenblick, der nie vergeht. Nicht nur für Liebende. Und nicht nur für Träumer. Der spätantike Philosoph Boethius nannte diesen magischen Aufprallort von Zukunft und Herkunft einmal „das bleibende Jetzt“ („nunc permanens“). Für den Menschen sei dieser Zustand wohl nicht zu erreichen. Gott aber verharre seit Äonen bereits in diesem einen und einzigen Moment: „Der Augenblick, der vorbeifließt, erzeugt Zeit“, heißt es in Boethius’ Schrift „Consolatio philosophiae“. „Der Augenblick aber, der anhält, erzeugt Ewigkeit.“

Wir selbst befinden uns vermutlich in keinem dieser beiden Momente. Und dennoch erleben wir seit geraumer Zeit bereits ein schier endloses Verharren in einer sich stets erneuernden Endlossekunde. In den Worten des Philosophen ist es am ehesten vielleicht eine angehaltene Zeit. Sekunde für Sekunde. Moment für Moment. Denn nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine fehlt uns am Horizont ein Morgen, und im Hintergrund fehlt uns Geschichte. Alles wird von diesem Stakkato des Jetzt hinfort getragen. Hineingezogen in ein unvergängliches und fast alles verschlingendes Schwarzes Loch: Die Schlacht um Mariupol. Die Talkshow mit Andrij Melnik im Fernsehen. Die Gräber in Borodjanka. Alles ist jetzt. Und jetzt. Und wiederum jetzt. Wie eine dämonische Permanenz.

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WD Hohe | Do., 21. April 2022 - 13:28

Besser lässt es sich dieser "Raum an Zeit" nicht darstellen, Herr Hanselle.
Perfekt

Hans Jürgen Wienroth | Do., 21. April 2022 - 13:39

Eine sehr gute Analyse unseres wohlstandsverwöhnten Landes. Unsere Politiker machen uns weiß, dass wir uns keine Sorgen um die Zukunft machen müssen (wenn wir die Klimakrise in den Griff bekommen). Wir können weiter einfach in den Tag leben, der Wohlstandsstaat sorgt für uns.
Wer will sich bei so viel Fürsorge noch mit Lernen oder Arbeit abplagen oder gar Visionen von einer Zukunft entwickeln und diese mit viel Mühe gestalten? Selbst das eigene Denken ist uns zu viel. Da liegen wir doch lieber faul auf der Couch und lassen andere für uns sorgen.

Bernd Windisch | Do., 21. April 2022 - 13:57

Besser noch: Raus aus diesem alles vernichtenden Absolutismus der veröffentlichten Meinung!

Vermeintlich omnipotente Journalisten im Größenwahn und Selbstüberschätzung erklären die Welt, ordnen Zusammenhänge ein von denen sie erwiesenermaßen nichts verstehen, selbstredend nichts verstehen können. Nötigen Politiker zu vermeintlich einzig richtigen Schritten.

Olaf Scholz wird aktuell von den „Journalisten“ aller Länder, für jeden sichtbar, die Richtlinienkompetenz in der deutschen Politik streitig gemacht. Welch eine Chuzpe!

Der Ukrainekonflikt hat plötzlich keine Vorgeschichte respektive auch keine friedliche Zukunft mehr. Den Vereinfachern fehlt jedes Verständnis für internationale Konfliktbewältigung. So muss das Schwert nun entscheiden.

Deutschland zahlt schon jetzt für die geschichtsvergessenen Skandalierer in ihren Blasen einen hohen Preis. Manche werden wohl erst Ruhe geben wenn über dem Kanzleramt eine Blau-Gelbe Fahne weht.

Martin Vetter | Do., 21. April 2022 - 14:22

Sehrt schöner Text, gegen die Postmoderne, die nur das Leben in der Gegenwart kennt.
"Und jetzt. Und wiederum jetzt" – das ist die Wahrnehmung.
Vergangenheit und Zukunft – das ist das Denken.

Urban Will | Do., 21. April 2022 - 14:28

die in diesen verirrten Zeiten den Mut haben, „vom Ende her“ zu denken. Wir sind in diesen Krieg hinein gestolpert, auch wenn viele ganz Kluge jetzt daher kommen und behaupten, dass Putin schon seit 20 J oder länger genau auf diesen hingearbeitet habe.

Schon die Tatsache, dass ein Hofreiter nach Lieferung von schweren Waffen schreit, sollte doch reichen, einzusehen, dass viele Dinge aus dem Lot gelaufen, an vielen Stellen komplett überforderte oder extrem berechnende Menschen sitzen, die ohne Skrupel bereit sind, diesen Krieg und somit Tausende Menschen für ihr Kalkül zu opfern.
Ex – General Vad hat es richtig eingeschätzt. Wir sind auf dem Weg zu WK III.
Man sollte auf Leute wie ihn hören, denn die haben im Ggs zu den Hofreiters Ahnung.
Immer weniger erkenne ich bei Selenskyj oder seinem Pitbull Melnyk noch eine zukunftsweisende Strategie.
Eine vernichtete, in Teilen dauerhaft besetzte Ukraine ist zumindest keine und der Glaube, Putin konventionell besiegen zu können, ist Utopie.

als neue (alte) Sündenböcke!

Weiter so, Herr Will! Ihre Rhetorik wird der Kreml-Propaganda immer ähnlicher!

Ach nein - die ganze Menschheit muss sich ja Putin unterwerfen, der hat schliesslich Atomwaffen.

Wäre sicher nach Ihrem Geschmack! Weg mit der verweichlichten Demokratie. In der "Untertanen" sich ihre Regierungen selbst wählen - fast wie im Kindergarten!

Statt hingebungsvoll einem Führer vom Schläge des Vladimir Adolf Putins zu folgen! Der weiss schon, was gut für sein Volk ist!

Norbert Heyer | Do., 21. April 2022 - 14:40

Erst kam die Migration mit der ersten Spaltung unserer Gesellschaft, danach Corona mit immer neuen Schreckensmeldungen und bewusster Verunsicherung der
Menschen. Jetzt ein Krieg in Europa - Russland gegen die Ukraine. Und doch gibt es etwas, was für alle diese Ereignisse gilt: Die gültige Meinung, die verkündete Alternativlosigkeit - sie gilt bei allen diesen Ereignissen. Wer gegen Migration ist, wer Corona und die Folgen anders sieht, wer behauptet, ein Krieg hat immer eine Ursache bei beiden Kontrahenten - der ist einer, der entweder ein Leugner, Idiot oder Putinversteher ist. Kann es nicht sein, dass wir deshalb keinen Ausweg aus diesen Ereignissen sehen, weil wir nicht offen, sachlich, ehrlich und ohne Hass und Häme darüber reden und diskutieren? Wer kann so vermessen sein, die einzig richtige Lösung zu kennen, dass er alle Andersdenkenden gnadenlos verurteilt? Hier sehe ich den fühlbaren Pessimismus und Depression, wir finden den Ausweg nicht, weil wir ihn nicht suchen (wollen).

Dorothee Sehrt-Irrek | Do., 21. April 2022 - 14:48

Ich schaffe das momentan nicht, auch nicht bei Corona.
Jedoch empfehle ich den mdr-Podcast mit Herrn Prof. Kekulé.
Man kann schlicht nichts absolut ausschliessen, weil wir mit dem Virus nicht über seine Absichten sprechen können.
Eine mir sehr nahestehende Verwandte (RIP) vermutete anfangs in Corona ein harmloses Virus, ich habe ihr immer vertraut. Wie aber erklären sich dann die vielen Toten und auch Langzeitfolgen.
Die vermute ich aber auch bei Erkältungen, sofern man nicht gut behandelt oder impft, jedenfalls bei "neuen" Viren oder starken kärperlichen Abnutzungserscheinungen.
Ich werde weiter Masken nutzen, das machen alle "Asiaten" und hoffe auf einen verträglicheren Impfstoff.
Dazu bedarf es des allseitigen Wunsches, alle Erkenntnisse zusammenzutragen und gemeinsam zu Beschlüssen zu kommen, die in aller Transparenz vom Souverän eingesehen, nachverfolgt werden müssen.
Den auch Horror der letzten Jahre kann man teils nachvollziehen, aber ich würde dies so nicht weitermachen wollen

Frieda Frey | Do., 21. April 2022 - 14:57

Mit den effektiven Technologien bringen die heutigen Medien eine Flut von Information. Das meiste trägt nicht viel zur Sache bei. Zu jedem Trendthema hat eine ganze Armada an Experten, Politikern, Promis und B-Promis seine Meinung zu verkünden - je provokanter, desto größer die Aufmerksamkeit, desto mehr Clicks/Views und desto öfter solche provokanten Aussagen. Das ganze dann nochmal in unzähligen Talkshows, Spezialsendungen und Diskussionsrunden. Und wenn man als Leser/Zuschauer irgendwann anfängt ehrliche Emotionen zu fühlen (meistens ist es Wut), dann haben sie einen - schon ist man bereit, eventuell mit Schaum vorm Mund, irgendwelche Dinge zu fordern, die man selber gar nicht braucht.
Keiner von uns einfachen Bürgern hat die Möglichkeit irgendwie auf die jeweiligen Situationen Einfluss zu nehmen (schon gar nicht in diversen Kommentar-Foren).
Weniger Medien-Konsum und die Besinnung auf die eigentlichen Lebens-Aufgaben lassen die Zeit wieder fliessen. Danke für den Artikel!

Gerhard Fiedler | Do., 21. April 2022 - 15:44

die Pipelines, die SPD, der Vertrag über gute Nachbarschaft … selbst Helsinki, selbst Willy Brandt: Der Zahn der Zeit wird immer mit allen Wurzeln gezogen." Und auch Putin war immer schon so, wie er sich heute verhält, und seine einst guten Absichtichten gegenüber Europa, eines das von Wladiwostok bis nach Lissabon reichen sollte, war nichts als Lug und Trug. Stimmt denn das? Nein! Dass Menschen sich zu Ihrem Vorteil oder auch zu ihrem Nachteil ändern können, sei es aus Liebe, Dankbarkeit oder umgekehrt aus großer Enttäuschung, all das wird im Angesicht des Krieges nun ausgeblendet und verliert an Würdigung. So sehe ich es auch, Herr Hansele. Auch richtig ist dieser Ihr vorletzter Satz: "Es ist Zeit, dass Europa und die deutsche Regierung ihre eigenen Interessen wieder in den Blick bekommen.", nicht die der ganzen Welt, frei von Klima-, Corona- und Kriegsangst. Nur der Blick in die Zukunft baut uns derzeit wieder auf und gibt uns neue Kraft. Zynismus ist das nicht!

Karl-Heinz Weiß | Do., 21. April 2022 - 16:10

Die Ukraine in ihren früheren Grenzen - Geschichte. Und der grenzenlose Hass zwischen zwei bisher vielfach familiär verbundenen Staaten - Zukunft. Und dazwischen die vom Autor sehr eindrucksvoll beschriebene Gegenwart. Und deshalb ist Scholz doch näher an der Lösung als der panzerbewaffnete Hofreiter.

Sabine Lobenstein | Do., 21. April 2022 - 16:36

Wieder einmal kann ich Ihre Wahl der Worten nur bewundern und dem Inhalt voll und ganz zustimmen.
Dieses Problem habe ich für mich so gelöst, dass ich keine Mainstream Medien mit Ihrer ständigen sinnlosen Panikmache und Alternativlosigkeit anschaue. Denn die Aufgabe der MainstreamMedien wäre hier, genauso wie bei Corona), statt Angst und Alternativlosigkeit im Sinne der Politiker, Diskurs über alternative Handlungsmöglichkeiten unter Berücksichtigung der kurz- bis langfristigen Folgen jeden Handels auf Deutschland zu erzwingen. Die 4. Gewalt der Öffentlich Rechtlichen versagt wieder auf ganzer Linie ( ich finanziere das nicht mehr mit: leuchtturmard.de).
Unsere moralbesoffenen Politiker ersticken wieder jeden anders denkenden mit "Putin-Versteher" und rennen blind mit ganz Europa ins Verderben. Am Ende rettet Europa, wirtschaftlich komplett zerstört, das Klima und die Grünen werden feststellen, dass der moralische Sieg dann ohne den gewohnten Lebensstandard bitter schmeckt.

Juliana Keppelen | Fr., 22. April 2022 - 17:59

Antwort auf von Sabine Lobenstein

Kann ihnen nur zustimmen.
Was mich aber bedrückt ist, dass eben alle mundtot gemacht werden sollen durch Diffamierung und in eine bestimmte Ecke stellen, die nicht in das allgemeine Kriegsgeschrei und die einseitige Schuldzuweisung einstimmen. So halten sich viele kritische und kluge Stimmen die als Gegenpol zu dieser Hysterie unbedingt notwendig wären mit Äusserungen in der Öffentlichkeit zurück. Schauen sie sich doch an wer in allen Talkshows sitzt? Anhand der Beteiligten weiß man schon den genauen Ablauf der Runde. Kurz gesagt die Kriegsgeier haben uns vollkommen im Griff und wehe es wagt eine/er auszuscheren der wird medial zerhackt. So haben nur Menschen die keine Karriere mehr planen gut abgesichert und alt genug sind nur als Bspl. wie Herr Dohnanyi die Chance sich ohne größeren Schaden kritisch zu äussern aber das sind zu wenige.

Achim Koester | Do., 21. April 2022 - 16:38

Werd' ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde gehn!
Dann mag die Totenglocke schallen,
Dann bist du deines Dienstes frei,
Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen,
Es sei die Zeit für mich vorbei!

Ist der von Ihnen, Herr Hanselle, beschriebene Zustand jener, den Faust oben beschreibt? Ja, in der Tat, es sieht ganz so aus, als habe uns die Hölle "in Fesseln geschlagen".

gabriele bondzio | Do., 21. April 2022 - 20:44

Der Ausstieg aus einer derartigen Spirale wird immer schwieriger, da stimme ich ihnen zu, Herr Hanselle...guter Artikel!

Militärisch-heroische Gedanken haben derartigen Zulauf, dass einem schwindlig wird.

Angeschlagen vom Corona-Virus taumelt es in den Kriegs-Virus. Was kommt dann? Vielleicht müssen wir darüber auch nicht nachdenken.
Und immer und immer mehr einseitige Propaganda. Das hatten wir bei Corona und jetzt wird im Ukraine-Krieg noch einmal eine Schippe darauf gelegt.

Wie es Jacques Baud (ehemalige Nato-Militäranalyst und Buchautor) beschreibt:
„dass die ‚Experten‘, die sich im Fernsehen abwechseln, die Situation auf der Grundlage zweifelhafter Informationen analysieren“, zumeist von Hypothesen ausgehen, „die in Fakten umgewandelt werden, so dass es uns nicht mehr gelingt zu verstehen, was geschieht“.

Wie geht es Herrn Gathmann?

Dr.Andreas Oltmann | Do., 21. April 2022 - 21:35

Auch ich möchteIhnen danken für Ihren nachdenklichen, enttäuschte und frustriert-traurigen Artikel. Der aber auch Hoffnung macht, ebenso wie viele Foristen hier, dass es doch eine Zukunft geben wird! Die die Vergangenheit nicht ausblenden und Perspektiven haben und suchen. Um uns aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien!

Ernst-Günther Konrad | Fr., 22. April 2022 - 08:19

Respekt Herr Hanselle. Sie haben da einen erstklassigen Artikel verfasst und den Nagel auf den Kopf getroffen und mit nur einem Schlag versenkt. Es sind vor allem die Medien, die uns täglich, stündlich im hier und jetzt gefangen nehmen wollen. Wir brauchen uns nicht wundern, dass die Menschen keine Zeit mehr finden, über das gewesene und das was kommen könnte nachzudenken. Wir werden geradezu bombardiert mit Informationen aller Art, falsch, teilweise richtig oder gar wahr. Es findet gerade eine Jetztzeit-Überfrachtung statt, die viele Menschen schlichtweg überfordert. Und dennoch hält mich eines davon ab, diesem Druck zu weichen. Für mich ist das jetzt, das gestern von morgen. Man muss es nur denken können.