- Wer setzt die richtige Miene auf?
Wo immer es geht im Wahlkampf, soll Individualität Trumpf sein: Offen, nahe an den Menschen, transparent, spontan, auf den Punkt sollen die Kandidaten sein. Und zugleich will sich jeder vom anderen abheben und ganz anders sein. Aber die schwierigste Hürde besteht in der medialen Dauerbeobachtung.
Vielleicht ist es die Maske, die uns in den Tagen der Pandemie für das Mienenspiel des Menschen stärker sensibilisiert hat. Wer während dieser Zeit Kommunikation auf vorgeschriebene Distanz praktizierte, konnte an Stirn, Augenbrauen und Augenzwinkern vielleicht etwas ablesen. Häufig war selbst dieser Vermittlungsweg getrübt. Also konzentrierte sich die Aufmerksamkeit auf das gesprochene Wort in seiner leicht verzerrten Form. Dieses unerwartete „Versteckspiel“ sensibilisierte für die Welt der nonverbalen Zeichen.
Zu den Regeln des öffentlichen Auftritts gehört nach wie vor der „Aufgang mit Maske“. Erst am Mikrofon wird sie abgelegt. Im Vorfeld einer bedeutenden Wahl ist dieses Regelbewusstsein von großer Bedeutung. Zugleich steigt das Bedürfnis, den Körper des anderen „als Lieferant von Botschaften [anzusehen], die dieser selbst gerade nicht verbreiten möchte“. Die Kunst des öffentlichen Auftritts ist das Ergebnis eines Signalbewusstseins. Als der Nachrichtensprecher Köpcke mit Oberlippenbart vor die Kamera trat, löste er eine nationale Stilkrise aus. Dabei wollte er damit nur vorübergehend eine Schramme verdecken, die er sich während des Urlaubs zugezogen hatte. Offensichtlich sind Fehlauftritte, wenn beispielsweise in einem politischen Interview die Antworten ausbleiben. Dann wird gerne an das Axiom „Man kann nicht nicht kommunizieren“ erinnert.
Großangelegtes Reiz-Reaktionsexperiment
Im Wahlkampf sahen die Pioniere der Sozialwissenschaften ein großangelegtes Reiz-Reaktionsexperiment. Wer heute von einem „last minute swing“ hört, findet den Ursprung dieses wahlentscheidenden Umschwungs der Wählergunst kurz vor der Ziellinie in einer Untersuchung des Jahres 1940, wer Meinungsführer und deren Einflussstärke einschätzen will, wird ebenfalls dort fündig. Das „Gatekeeper“-Konzept, das den Nachrichtenwert als Auswahlkriterium hervorhebt, war ebenfalls zu dieser Zeit bereits bekannt. Viele Traditionen ließen sich benennen. Zur Gegenwart gehört, dass an sie erinnert und ihre Aktualität hinterfragt wird. Damals waren da Presse und Hörfunk, die Werbemaßnahmen vor Ort. Zu den überraschenden Ergebnissen zählte das bestärkende Element der persönlichen Beziehungen. Ob jene Personen, deren persönliche Meinung für die eigene Wahlentscheidung von Bedeutung war, dabei gerade die Stirn runzelten oder mit den Augen zwinkerten, ist nicht bekannt. Es wurde auch nicht untersucht.
Mit dem Fernsehen veränderte sich das Denken über diese vermeintlichen Nebensächlichkeiten. Die Kamera wurde als Erweiterung unseres Auges interpretiert. Man las und hörte nicht nur. Jetzt waren die Protagonisten zu sehen. Fernsehdebatten wurden, zunächst in den Vereinigten Staaten, zu nationalen Foren mit Fernwirkung. Der Auftritt von Nixon und Kennedy im Jahr 1960 ist in dieser Hinsicht ein Meilenstein. Die Wahrnehmung wurde durch die Kameraführung erweitert, körperliche Reaktionen wurden unmittelbar sichtbar: von der perfekten Rasur bis zur unübersehbaren Nervosität. Später meinten Newsweek-Kommentatoren, dass der knappe Sieg Kennedys diesem televisionären Gesamteindruck zuzurechnen sei. Ebenso, so kritische Stimmen, hätte auch das Wetter als Ursache ins Feld geführt werden können. Trotzdem: In der öffentlichen Meinung galt das Fernsehpublikum fortan als Größe, die stets bedacht werden muss. Als der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt einmal gefragt wurde, was seine Kanzlerschaft von der Adenauers unterschied, soll er gesagt haben: „Es gab kein Fernsehen, Adenauer brauchte nicht immer ein staatsmännisches Gesicht zu machen. […] Das Monster Fernsehen hat radikal die Welt verändert.“
„Zeichen-im-Leib“ und „Zeichen-am-Leib“
Es ist, mit anderen Worten, die Dauerbeobachtung, die mehr offenlegt, als einem zuweilen lieb ist. Einer etwas älteren Unterscheidung zufolge sind es sowohl die „Zeichen-im-Leib“, also beispielsweise eine zitternde Stimme, ein vorgeschobenes Kinn oder unruhige Hände, als auch die „Zeichen-am-Leib“, also die Krawatte und der Anzug, die Socken und das Hemd, die Brille, die Frisur, die dem detektivischen Blick der professionellen Beobachter und dem selektiven Blick der Zuschauer ausgesetzt sind. Details als kleine Ausschnitte der Wirklichkeit – eine Unachtsamkeit, ein gelangweilter Blick – können zu einer ärgerlichen Tatsache werden.
Das staatsmännische Gesicht: Experten für diese „Lesekunde“ sprechen gerne von emotionaler Beteiligung. Aber wie kann die, bei einem kurzen Blick über die Gesichter des politischen Alltags, aussehen? Zunächst bedarf es wohl keiner weiteren Erläuterung, dass beispielsweise ein Kanzlerkandidat Schröder anders wirkte als ein Kanzlerkandidat Stoiber. Das liegt bereits im Naturell der Personen. Herzhaftes Lachen entsprang dem einen mehr als dem anderen, Lächeln war eher die Ausnahme. Die Sensibilität für die öffentliche Wirkung soll im Falle des SPD-Kandidaten in eine Präferenz für Aufnahmen, die eine Bewegung nach oben vermitteln, also zum Beispiel Treppensteigen, gemündet sein. Anekdoten dieser Art befördern gleichsam die Neugier, von politischen Kommunikationsberatern mehr über die Geheimnisse der Botschaften zu erfahren. Debatten dieser Art befördern zugleich Sonderaufmerksamkeiten, die sich über das Inhaltliche des Wahlkampfs legen und dem Nebensächlichen im wahrsten Sinne des Wortes etwas Wesentliches geben.
Das Spiel mit der Regel ist die Regel des Spiels
Aktuell ist der Mimik-Check ebenfalls weit davon entfernt, ein neutrales Gesicht als Referenz benennen zu können. Es gibt Kandidaten, die themenunabhängig auf großes Mienenspiel verzichten, einem anderen wird jede Blinzelrate und Lippenbewegung vorgerechnet, wieder ein anderer mag das Spiel mit der Öffentlichkeit und kann es eloquent unterlegen. Auch die Fähigkeit, im Gespräch das Gegenüber zu fixieren und eine aufmerksame Körperhaltung zu vermitteln, gehört zu dem Signalpaket des Selbstbewussten. Das Staatsmännische gewährt außerhalb des Zeremoniells viele Spielräume, sodass auch hier gelten darf: Das Spiel mit der Regel ist die Regel des Spiels.
Auch in den sozialen Medien ist der Mimik-Check omnipräsent. Viele „Leserinnen“ und „Leser“ sind unterwegs. Kaskaden von Eindrücken durchlaufen dieses Mediengehege und verlaufen sich auch irgendwann. Selbst Kritik darf sich nicht wiederholen und damit langweilig wirken. In den langen Formaten ist es die Geduld, die auf die Probe gestellt wird. In den immer kürzer werdenden Sequenzen des Instant-Wahlkampfs ist es der Spagat zwischen „Das bin ich“ und „Das wollen die“. Wo immer es geht, soll die Individualität des Auftretens Trumpf sein: offen, nahe an den Menschen, transparent, spontan, auf den Punkt. Alle sollen so sein, aber gleichzeitig auch eben anders. „But the clock – Tik Tok“.
Die Suche nach dem Fehlbaren
Immer liegt den öffentlichen Auftritten die Erwartung zugrunde, die Kontrolle zu behalten. Wer sich beispielsweise für eine neue Frisur oder neue Brille entscheidet, löst damit für sich persönlich wahrscheinlich keine Identitätsprobleme. Beobachter aber sind heute auf die Wahrnehmung von Veränderung geschult und legen sich ihr eigenes Marionettenspiel zurecht. Hinter den Kulissen werden Entscheidungen dieser Art mit den vielen Geschmäckern der Gesellschaft abgeglichen, auch mit dem Durchschnittsgeschmack, der nie unterschätzt werden sollte. Stets wird das Typgerechte bewertet. Ebenso sucht der Journalismus und alle, die sich auf dessen Beobachtungen stützen, nach dem Unverwechselbaren und Fehlbaren. Einmal sind es zu viele Gesichtszüge, die vor der Kamera aufgesetzt werden, ein anderes Mal, etwa im Jahr 2009, das wachsweiche Auftreten, in diesem Falle von Angela Merkel, das, so ein Kommentar, fast „präsidial“ wirkte. Dauerbeobachtung kann also auch die immer gleiche „Maske“ bewirken und damit das Ausbleiben von Reibungspunkten.
Vom 33. Präsidenten der Vereinigten Staaten, Harry S. Truman, ist der Satz überliefert: „Ein Staatsmann ist ein Politiker, der seit zehn oder 15 Jahren tot ist.“ Dabei wird ihn während seiner aktiven Jahre das US-amerikanische Umfragewesen ständig mit den Ups und Downs seiner Auftritte versorgt haben. Alles soll berechenbar bleiben. Die Demoskopie lässt über die berühmten „Alles in allem“-Fragen das Wahlvolk ebenfalls selbst bilanzieren. War es dann die stets gleiche Miene zum Spiel oder das Wechselhafte im Ausdruck, das den Ausschlag gegeben hat? Das Zitat vermittelt eher die Einsicht, die aus der Distanz zu dem Tempo des politischen Alltags gewonnen wird. Es enthält den Hinweis auf eine Aura, die nicht nur von den eigenen Leistungen lebt.
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Allmählich scheint der CDU-Elite ein Licht aufzugehen, dass ihre Regierungsjobs in Gefahr sind und etliche nicht mehr im Bundestag vertreten sind.
Hätte diese Lichtquelle auf dem Nummerierung-Parteitag in den Gehirnen der Mitglieder Einzug erhalten, wäre das Laschet-Debakel mit einem anderen Kanzlerkandidaten( MERZ?) erspart geblieben.
Mir kommen immer mehr Zweifel am Intelligenz Quotient der damals Koordinierenden.
Quo vadis CDU!
der Faktor der persönlicher Sympathie ist noch entscheidender als Mimik Zuckungen.
Ich selbst sehe zwei Kriterien für Sympathie/Abneigung:
1 Politisch
2 Persönlich
o. beides.
Deshalb wurden einige Politiker, will ich namentlich nicht nennen, von der Politbühne weggepfiffen, denn sie waren mit ihrem Aussehen u. manchmal Äußerungen (auch wenn die zutreffend waren, nur verbal falsch transportiert), unerträglich fürs Publikum.
Auch wenn Marie-Antoinette vom Aussehen her nicht unsympathisch war, dennoch wurde sie hingerichtet. Sie tat nichts Kriminelles, wofür man sie hinrichten musste. Ihr Pech, sie war ein Symbol dafür, was verhasst war. Und keiner kann garantieren, dass dies sich nicht wiederholen wird. Siehe Eheleute Ceaușescu/Rumänien im Winter 1979.
Die hier beschriebene Dauerbeobachtung, Kontrolle und Bewertung des Äußerlichen ist ein "Stahlbad" oder "Haifischbecken" für Politiker. Aber keiner zwingt sie, es wird alles freiwillig auf sich genommen. Schauspielerische Qualitäten sind gefragt. Insofern kein Mitleid mit dieser Spezie.
Das Bedauerliche ist, es bleibt eher alles an der Oberfläche, im Vagen als daß klare, aufgeklärte Inhalte sichtbar werden. Die muß man sich dazu denken auf Grund vergangener Handlungsweisen.
Der Wahlkampf ist deshalb nichts weiter als ein vortäuschendes Schaulaufen, daß bestenfalls amüsante Unterhaltung bietet.
Ginge es danach, würde die AfD wohl im Promillebereich landen. Und Baerbock wäre des Volkes "Kanzlerin der Herzen", so jugendlich frisch sie auftritt.
Körpersprache und Ausstrahlung mögen zwar durchaus eine Rolle spielen - warum beispielsweise ist eine Frau Esken selbst bei SPD-Anhängern höchstens mäßig beliebt?
Dennoch dürften die politischen Ziele einer Partei letztendlich den Ausschlag geben, wo der Wähler sein Kreuzchen macht.
Sympathieträger, die vom Wähler auch wegen ihrer Persönlichkeit positiv beurteilt werden, sind allerdings sicherlich hilfreich.
Politische Ziele-ich bekomme einen Lachanfall Herr Lenz
Grün-Erfolgsrezept sollen Batterien sein, RIESIGE Windränder, die einen negativen Einfluss auf Bodenstruktur, Windverhalten & Tiere hat.
Zumal immer nur hopp oder topp, nie Abwägung, eine Symbiose von verschiedenen Vorteilen & eine vorausschauende ......
GRÜN - nur nach außen, darunter Rot, weil weder ihre eigenen Handlungen zum Wohle von Mensch, Tier & Umwelt stehen.
Dafür aber KLIMA retten wollen - Sollten sich lieber selbst retten
ROT - steht seit der Gründung für ORWELL, Gleichschritt (die Partei hat immer Recht) & die Ernte ausgeben, bevor Sie eingefahren ist. Gibt gerne, aber sich selbst das allermeiste.
Schwarz - die dunkle Macht. Nach außen hin der Gentleman, der Priester - aber Wehe - wenn der lange schwarze Mantel/ Gewand geöffnet wird.
Mit einer Verlogenheit & Gier nach ABSOLUTER MACHT, egal unter welchen Vorwand - unter welchen Bedingungen & welchen Mitteln.
Überholte in den letzten 20 Jahren GRÜN/ROT/ROT links! Who
Mein größtes Problem mit diesem Wahlkampf ist, dass es kaum um Inhalte geht sondern nur noch um das Empörungspotential.
Baerbock hat im durchaus einiges verbockt, allerdings ist auch hier die Frage welche konkreten Auswirkungen das in ihrer Politik hat.
Letzlich ist ein Politiker ein Generalist, der aus der Gemengelage heraus entscheiden muss.
Das Auftreten von Laschet in der Flutkatastrophe hat sicher einige empört, aber was sagt es letztlich über den Menschen aus, wenn er auch mal Lachen will. Auch die Menschen im Flutgebiet würden gern mal wieder Lachen. Dabei geht doch vollkommen unter, dass er sich sehr wohl der Menschen annimmt.
Das Auftreten von Söder ist eben auch Empörung und Skandal.
Scholz kommt bisher am besten weg weil die Medien ihn einfach beschützen. Wie war das noch mit Cum-Ex, Cum-Cum und Wirecard? Warum man hier Scholz nicht härter rannimmt verstehe ich nicht.
Bei den Parteien gibt es kaum Überraschungen, das ist vielleicht auch ein Grund für diesen Wahlkampf.
... jedoch, was hinter den Kulissen abging und warum RTL die Fotos von der "Chill out lounge" so schnell von Twitter gelöscht hat.... Dicht an dicht bei "Stößchen und Häppchen" saß die Politprominenz ohne Maske und ohne Mindestabstand dicht gedrängt und plauderte und genoß den Abend... während die Kinder in den Schulen den ganzen Tag drangsaliert werden mit Tests, Masken und Mindestabstand!! Der Shitstorm war gewaltig, daher wurden die Bilder schnell entfernt. Die Maßnahmen gelten nur für die Pöbel!!
Sorry, aber wie kann man politische Themen derart artfremd angehen?
Die verschiedenen Charaktere der drei Protagonisten sind doch hinlänglich bekannt.
Und bitte, Leute, die zeigen uns doch alle nur immer ihr Schoko-Face.
Macht doch mal einen Artikel der genau aufzeigt welche Bürger bei wem welche Steuerlast haben werden.
Dann wird deutlich dass Laschet gerne die "ganz oben" weiterhin entlasten will und die anderen beiden nicht.
Es ist doch noch Zeit.
Jeden Tag ein anderes Thema.
Und bitte auch die Migration nicht ausklammern.