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Keine Zeichen der Reue: Stephan B. am letzten Prozesstakt vor dem Oberlandesgericht Naumburg / dpa

Urteil gegen Halle-Attentäter - Opfer einer Kränkungsideologie

Nach dem Terroranschlag von Halle hat das Oberlandesgericht Naumburg Stephan B. zur Höchststrafe verurteilt. Der Prozess deckte erschreckende Lücken bei der Kriminalitätsbekämpfung im Internet auf. Aber nicht nur deshalb markiert das Verbrechen eine Zäsur.

Florian Hartleb

Autoreninfo

Florian Hartleb ist Forschungsdirektor am Europäischen Institut für Terrorismusbekämpfung und Konfliktprävention (EICTP) in Wien sowie derzeit Lehrbeauftragter an der Katholischen Universität Eichstätt sowie der Universität Passau. Er hat mit Gustav Gustenau als Herausgeber das Buch „Antisemitismus auf dem Vormarsch. Neue ideologische Dynamiken“ (Nomos, Baden-Baden 2024) veröffentlicht. 

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14 Monate nach dem Anschlag wurde der Terrorist von Halle wegen zweifachen Mordes, vielfachen Mordversuchs und Volksverhetzung nun zur Höchststrafe verurteilt –  lebenslange Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung. Er, der nie eine Freundin hatte und bei seiner Mutter lebte, verkörpert einen neuen Terrortypus, den einsamen Wolf, sozial isoliert, aber virtuell vernetzt. Der Verfassungsschutz sieht mittlerweile „einen missionarischen Tätertyp am Werk, der von seinen Vorgängern inspiriert ist und seine eigene Tat als Initialzündung für künftige Nachahmer versteht.“

Tarrant, der am 15. März 2019 im neuseeländischen Christchurch in zwei Moscheen eindrang und 55 Menschen ermordete, wird in der Online-Community verehrt. Er fand direkte Nachahmer – auch in Deutschland. Der zum Tatzeitpunkt 27-jährige Stephan B. lud sich das Video herunter und fühlte sich sofort „berufen“, eine schaurige Tat zu begehen. Ursprünglich wollte auch er eine Moschee „angreifen“, entschied sich dann aber für die jüdische Synagoge in Halle.

Eine hölzerne Tür rettete 51 Menschen das Leben 

Die Tat von Christchurch galt ihm als „Trigger“. Wie sein virtueller Spiritus Rector nahm er seine Tat am 9. Oktober 2019 mit der Kamera eines an seinem Helm befestigten Smartphones auf. Er lud zwei Videos seiner Tat auf die Plattform Twitch hoch. Wer sein Hauptfeind ist, wird bereits in seiner Einleitung klar. Er spricht bewusst auf Englisch, um mehr Publikum zu erreichen: „Hey, my name is Anon. And I think the Holocaust never happened.“

„Anon“ leitet sich von den englischsprachigen Imageboards ab, bei denen die Nutzer automatisch den Namen „Anonymous“ zugewiesen bekommen. Aber Anon alias B. scheiterte, in die Synagoge einzudringen. Der Zeitpunkt war bewusst gewählt. Es war Jom Kippur, das Fest der Versöhnung, der höchste Feiertag der Juden.  51 Menschen hielten sich in dem Gotteshaus auf. Die hölzerne, aber gut gesicherte Eingangstür rettete ihr Leben.

Auch ein somalischer Asylbewerber wurde verletzt 

Nach seinen eigenen Worten „Loser“, steuerte er daraufhin mit seinem Auto einen wenige hundert Meter entfernten Dönerimbiss an und tötete willkürlich zwei Menschen: Deutsche. Die beiden Opfer passen nicht in die auf den Imageboards verbreiteten Feindbilder, weshalb Stephan B. in der einschlägigen Online-Subkultur vorwiegend verspottet wird.

Was kaum bekannt ist: Der Täter verfolgte und verletzte auf seiner Flucht mit dem Auto einen somalischen Asylbewerber, mit dem Ziel ihn zu töten. Wie seine Vorgänger und Vorbilder, der Täter von Norwegen, Breivik, sowie der Täter von Christchurch, Tarrant, zeigte er keine Reue. Weitere Parallele: Wie Breivik und Tarrant fiel er vor den Taten weder der Polizei noch dem Verfassungsschutz auf. Ebenso gilt er im rechtlichen Sinne als voll schuldfähig, wie von fachlicher Seite bestätigt wurde. Stephan B. ist ein Verlierer, der sich als „NEET“ sah  – die englische Abkürzung für „Not in Education, Employment or Training“, also eine Person, die keiner Ausbildung und Arbeit nachgeht. So zeigte er sich im Internet.  

Kinder unserer Zeit 

Alle Täter, die ihre Zeit lange vor den Taten fast ausschließlich vor dem Computer verbrachten, flüchteten sich als einsame Menschen in dunkle Parallelwelten und radikalisierten sich politisch. Die bindungsunfähigen und generell sozial isolierten Männer, die – wie der Täter von Halle – nicht einmal in der Nachbarschaft bekannt waren, agierten als Opfer einer Kränkungsideologie.

Die Ideologie ist auf persönliche Frustrationen zugeschnitten. Der Attentäter von Halle gab etwa zu Protokoll: „Die Flüchtlingskrise war für mich eine Zäsur. Man hat den Flüchtlingen angesehen, dass sie aggressiv sind. (...) Ich will meine Meinung nicht jedem aufzwängen. Und ich habe kein Problem damit, dass es für jeden ein eigenes Land gibt. Ich lebe im hinterletzten Viertel Deutschlands, dem zweit ärmsten Landkreis, und selbst dort sind die Muslime schon angekommen. Ich will nicht, dass man mir diesen Multikulturalismus aufzwingt, auch wenn den vielleicht 99 Prozent der Menschen wollen. Ich habe mich schon ziemlich in mein Zimmer zurückgezogen. Ich habe extrem darunter gelitten, dass das mit meinem Studium nicht geklappt hat.“

Notwendige Debatten 

Der Täter von Halle sah sich als Teil einer Online-Community. Er wandte sich an seine „Fans und verwandte dann auch nach einigen Pannen viele in der Gamer-Szene typische Begriffe wie „total fail“ und „total loser“. Er lebte ganz in virtuellen Welten, wo er sich in eine persönliche Kränkungsideologie hineinsteigerte. Antisemitismus, radikaler Frauenhass und Feindschaft gegenüber dem Islam waren die Versatzstücke.

Das Bundesamt für Verfassungschutz sollte bei den Ermittlungen zu dem Attentat in Halle helfen. Man teilte der Polizei mit, leider nur eingeschränkten Zugang zu der öffentlichen Software „Steamid.uk” zu haben. Journalisten haben mit dieser Software weitere Steam-Freunde des Hallenser Attentäters gefunden. Diese tauchten nicht in den Gerichts-Akten auf.

Mehr noch: Beim Verhör des Hallenser Attentäters, wird er trotz seines exzessiven Gaming-Verhaltens auf Steam nicht über seine Steam-Kontakte befragt. Für die Ermittler des Bundeskriminalamts (BKA) waren die Internetforen und Gaming-Plattformen, auf denen sich Stephan B. oft viele Stunden jeden Tag virtuell bewegte, offensichtlich unbekanntes Terrain. Im Prozess gegen ihn mussten sie zugeben, dass sie kein wirkliches Fachwissen über diese Onlineplattformen und das Vokabular der Subkulturen besitzen. „Ich bin keine Gamerin“, so die nüchterne Selbstdarstellung einer BKA-Beamtin.

Exzessives Gaming-Verhalten 

Der Täter von Halle war in keiner Partei, Kameradschaft oder rechten Chatgruppe, hatte keine Berührungspunkte zur lokalen Szene. Er wusste, dass er sich verdächtig machen würde, wenn er seine antisemitische Gesinnung im Netz äußert. Deshalb war er auf anonymen, meist amerikanischen Seiten unterwegs. Stephan B. nutzte auch keine Social-Media-Accounts, da er nicht mit seinen persönlichen Daten erfasst werden wollte. Die Nutzung eines Smartphones soll er auch abgelehnt haben, da er der Meinung war, dass man abgehört werde und alles nachverfolgbar sei.

Ein Großteil der einsamen Wölfe zeigt exzessives Gaming Verhalten in brutalen Spielen. Gewaltverherrlichende Steam-Gruppen werden nicht moderiert. Steam muss, anders als sonstige Kommunikationsanbieter, seine Inhalte nicht kontrollieren. Die populäre Plattform speichert diese kaum zur Aufklärung von Straftaten. Die Debatte hätte man schon nach dem OEZ-Anschlag vom 22. Juli 2016 in München führen müssen. Die Tat galt aber drei Jahre und drei Monate nach offizieller Einstufung der bayerischen Staatsregierung noch als unpolitisch, bevor sie dann neu bewertet wurde. Auch deshalb galt Halle als Zäsur. 

„Der Staat hat den Rechtsextremismus bagatellisiert“ 

Bei einer Bundestagsdebatte am 5. März 2020, fand Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble deutliche Worte.  Sinngemäß lassen sich seine Einlassungen auf diese Weise zusammenfassen: Der Staat müsse (endlich) aufrichtig sein und eingestehen, die Gefahren durch den gewalttätigen Rechtsextremismus bagatellisiert zu haben.  

Staat und Behörde können nicht länger warten. Zu schnell schreiten die Entwicklungen voran – angesichts des „Virus des Hasses“, das sich im Cyberspace verbreitet. Mit der COVID-19-Pandemie breiten sich Verschwörungstheorien auf einschlägigen Plattformen inflationär aus bzw. werden revitalisiert. Führende Experten, die den Zusammenhang zwischen Online-Plattformen und terroristischen Anschlägen durch Einzeltäter sehen, befürchten schon jetzt, dass das Anschub für weitere Attacken leisten könnte. Auf diesen Plattformen kommt etwa der alte antisemitische Topos zum Tragen, demzufolge eine jüdische Elite insgeheim die globale Macht inne hat. 

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Ernst-Günther Konrad | Mo., 21. Dezember 2020 - 16:31

Die höchstmögliche Bestrafung, die unser Rechtsystem zur Verfügung hat. Völlig zurecht und für mich völlig angemessen wurde dieser Verbrecher abgeurteilt. In manchen Foren anderer Medien wurde noch "mehr Strafe" gefordert. Nein, Wiedereinführung der Todesstrafe lehne ich zutiefst ab. Damit wird kein einziges Menschenleben zurück geholt. Er möge allein in seiner Zelle Tag und Nacht mit seinem Verbrechen konfrontiert sein. Mir ist auch egal, ob schlechte Kindheit, Alkohol oder Drogen, ideologisch verblendet. Es gibt für mich in diesem Punkt keine nachvollziehbare Erklärung. Dieser Mann hat gemordet. Und das schlimme daran ist, er würde es weiter machen, wenn man ihn ließe, war im Focus zu lesen. Wie viele einsame Wölfe, ob nun rechtsradikal, linksradikal oder islamistisch orientiert schlummern noch unerkannt in unserer Republik? Unerkannt, weil deutsche Ermittler sich nicht im Gamer Milieu auskennen und keine technischen Zugänge haben. Mir graut schon vor dem nächsten Attentat.

Tobias Schmitt | Mo., 21. Dezember 2020 - 16:44

Wo bagatellisiert der Staat denn bitte Gewalt von Rechts? Jeder noch so unwichtige Mist, den man irgendeinem Rechten zuschreiben kann, und sei es über fünf Ecken, den kaut man solange breit, bis es jedem zu den Ohren heraus hängt.

Bagatellisieren tut man wenn dann Gewalt von Links. Oder hat hier irgendwer schon mal davon gehört, dass bei einer Corona-Demo in Berlin 80 Polizisten von Gegendemonstranten verletzt wurden? Nein? Ich auch bis vor kurzem nicht. Ist aber so.

Aber das die Demonstranten (auch gerne "Spinner" genannt) den Reichstag "gestürmt" haben (also die Treppe hochgelaufen sind), dass weiß jeder.

Was wurde denn also denn hier bagatellisiert?

Mir erscheint er eher als ein einsamer Psychopath der es zuerst vielleicht gegen eine Moschee, aber dann doch gegen die Synagoge, und im Adrenalinrausch der Durchführung noch gegen ein paar Passanten, mit Mordabsicht knallen lassen wollte. Von einer völkischen Ideologie, wie ein Brevik in Norwegen, hat man nichts gehört.

Heidemarie Heim | Mo., 21. Dezember 2020 - 17:46

Sorry, aber beim Wort Opfer denke ich bestimmt nicht an dieses kranke, asoziale Würstchen von einem Mann, der sich bei Mami am Computer radikalisiert und nicht die Cojo... hat vor die eigene Haustür zu gehen und sich der realen Lebenswelt zu stellen! Und was heißt Versagen der Verfolgungsbehörden? Um solche auffällig Unauffälligen auszumachen könnte man ja mal eine bundesweite "Nachbarschaftsbefragung" starten, wo und welche Zöglinge im Mietshaus oder in der schmucken Reihenhaussiedlung am zocken sind, nie draußen zu erblicken und auch sonst wie ein Geist der Aufmerksamkeit entgehen. Jedes Wort und jede Aufmerksamkeit oder womöglich noch Therapie ist für diesen Mörder zu viel! Wegsperren, Isolation ist er ja gewohnt, und den Schlüssel wegwerfen. Und wenn überhaupt, sich endlich! mehr den wahren, echten Opfern dieser Extremisten zuwenden. Eines der zum Krüppel gemachten Opfer vom Breitscheidplatz kämpft bis heute um einen neuen Rollstuhl!!! Zum Kotzen! Sorry! Aber das musste sein! MfG

Bernd Muhlack | Mo., 21. Dezember 2020 - 17:50

An den 09.10.19 erinnere ich mich sehr gut.
An diesem Tag hat ein sehr guter Kumpel Geburtstag, sein Freund ist jüdischen Glaubens - die Feier fiel natürlich aus.

Es werden hier sicherlich wieder die obligatorischen RECHTS-LINKS-Gefechte auf dem ciceronischen Paukboden kommen, keine Frage.

Anders Breivik!
Der selbst ernannte Retter/Ritter des Abendlandes. 21J und Sicherungsverwahrung, die Höchststrafe in Norwegen.
Einzelhaft, eine 42qm-Zelle, quasi eine kleine Wohnung!
Ich las, dass er gar in der Haft Briefverkehr mit Beate Tschäpe hatte, unglaublich.
Der NSU-Prozess war eine Bankrotterklärung der Geheimdienste - alles vertuscht, unter Verschluss!
Auch die US-Boys waren involviert, siehe causa Heilbronn.

Es wird immer Antisemiten geben, manchen impft man das bereits in der Schule ein, nicht wahr?
Andere "radikalisieren" sich im Internet.

Warum darf "man" am al-Quds-Tag israelische Flaggen verbrennen u Allahu Akbar rufen?

Warum bekam fast keiner das Chanukka-Fest im DEZ 2020 mit?

Gerhard Lenz | Di., 22. Dezember 2020 - 10:18

Antwort auf von Bernd Muhlack

Bislang habe ich Sie nicht mit irgendwelchen "höheren" Erkenntnissen in Verbindung gebracht.

Was, Sie merken es sicher, durchaus als Kompliment gemeint ist.

Jetzt schreiben Sie, an der "Causa Heilbronn" - gemeint ist wohl der Mord an der Polizistin Kiesewetter - seien auch US-Boys involviert gewesen!

Ich glaube mich erinnern zu können, dass in einer TV-Dokumentation eher von Russen die Rede war, aber vielleicht trügt mich meine Erinnerung.

Aber lassen Sie mich/ uns doch an Ihrem Erkenntnisstand teilhaben!

In diesem Sinne, in froher Erwartung einer Antwort..

Machen Sie's gut!

Hallo Herr Lenz!

Fürwahr, "höhere" Erkenntnisse sollte man denjenigen überlassen, die sich selbst dazu berufen fühlen; man findet diese Klientel allüberall.

Ich bin kein Nachrichtensammler, jedoch war mir die Involvierung auch von US-Geheimdiensten erinnerlich.
Nur eine kurze Recherche. Im Spiegel (eigentlich nicht meine Pflichtlektüre) war am 20.03.2017 ein kurzer Bericht über den NSU-Prozess.
Eine (der vielen!) Verteidiger/innen von Frau Tschäpe erwähnte die Verwicklung von FBI bzw. CIA.
Dass die Bundesanwaltschaft das dementiert ist selbsterklärend, ursprünglich waren die Akten ja für 120 gesperrt - das wurde inzw. reduziert.

Eine TV-Doku???

Ich halte die mögliche Beteiligung für durchaus plausibel und behaupte nicht, dass dies auch so gewesen ist; vielleicht ist dies nicht deutlich genug formuliert.
Geheimdienste sind der verlängerte Arm von Regierungen, oft unkontrolliert.

Herr Lenz, bleiben Sie gesund und aktiv, "Schreiben macht frei!"

Frohe Weihnachten an ALLE CICERONEN!

... verliefen früher z. B. südlich der Autobahn A8 zwischen der amerikanischen und der französischen Zone. Die Enz war ein Grenzfluss. Und da gab es die große nördliche Mehrheit (Recht haben die Amerikaner) und eine südliche Minderheit (Recht haben die Franzosen). Weit entfernt war die russische Zone, die östliche Anonymität (das Böse oder die Russen).
Was immer TV-Dokumentationen auch in die Luft schreiben: Immer noch gibt es in Deutschland Menschen, die nur in den alten Zonen denken können.

Nicht alle Deutschen haben sich von dieser oktroyierten