- „Wir lassen uns nicht spalten“
Nach den Tories ist jetzt auch die Labour-Partei dabei, sich über den Brexit zu zerrütten. Auf ihrem Parteitag in Brighton versuchten die Anhänger von Jeremy Corbyn, dessen EU-freundlichen Vize zu entmachten. Der Parteichef läuft Gefahr, die Kontrolle über die streitenden Flügel zu verlieren
Auf der Seepromenade von Brighton steht Tom Watson und streichelt einen Hund, als handele es sich bloß um einen ganz normalen verregneten Spätsommertag in einem südenglischen Seebad. Dabei steht der Vizechef der Labour-Party im Zentrum eines parteiinternen Sturmes. Die ultra-linken Anhänger von Partei-Chef Jeremy Corbyn haben noch vor Beginn der fünftägigen Parteikonferenz versucht, den moderaten Proeuropäer Watson loszuwerden, indem sie seine Position einfach streichen wollten. Dies wurde gerade noch verhindert. „Ich fühle mich wie neugeboren!“, sagt der moderate Parteivize aufgeräumt im Gespräch mit Cicero: „Labour braucht eine glasklare Position in der Brexitfrage: Für den Verbleib in der EU und für ein zweites Referendum.“
Der quälende Brexitprozess zerrüttet die britischen Volksparteien. In den vergangenen Wochen hat sich die regierende, konservative Tory-Partei von Boris Johnson so weit nach rechts radikalisiert, dass moderate Abgeordnete wie Nicholas Soames, ein Enkel von Winston Churchill, einfach aus der Partei ausgeschlossen wurden. Der Labour-Partei droht nun ein ähnliches Schicksal. Seit der Wahl des Altlinken Jeremy Corbyn zum Parteichef 2015 sind die moderaten Politiker aus der Ära von Tony Blair an den Rand gedrängt worden. Manche verließen die Partei, einige blieben entmachtet im inneren Exil. Inzwischen aber zerbricht auch das Corbyn-Lager selbst in Brexit-Befürworter und –Gegner.
„We hate Boris!“
Der Parteichef selbst ist EU-Skeptiker. Wenn es nach ihm geht, dann würde er lieber über Gerechtigkeit und Chancengleichheit sprechen als über den leidigen Austritt aus der EU. Denn der Brexit ist der Spaltpilz Nummer Eins geworden. 64 Prozent der Labour-Wähler, eine satte Mehrheit, sind für einen Verbleib in der EU. Doch einige Wahlkreise im Norden sind für einen Austritt, und Corbyn will sie nicht an die „Brexit Party“ von Nigel Farage verlieren. Oder an Boris Johnson, der mit seinem ultrapopulistischen Rechtskurs Farage das Wasser abgegraben hat. Statt „Smile“ ruft ein Fotograf vor dem Konferenzzentrum in Brighton: „Bitte in die Kamera schauen und „Wir hassen Boris“ rufen!“ Die Gruppe der Delegierten grinst brav: „We hate Boris!“
Doch auch, wenn er am liebsten nichts zum Brexit sagen würde, kommt Jeremy Corbyn auf diesem Parteitag nicht um das leidige Thema herum. Es sind noch 38 Tage bis zum 31. Oktober. Zu Halloween wollte Großbritannien eigentlich aus der EU austreten. Wie aber, das ist immer noch völlig unklar. Der Labour-Chef ist für Verschieben und Neuwahlen: „Als Premierminister möchte ich zuerst ein neues Abkommen mit der EU aushandeln, bei dem wir in der Zollunion und möglichst nahe am Binnenmarkt bleiben“, sagt Jeremy Corbyn in Brighton, „und dann werden wir diesen Deal den Briten vorlegen. Die Bevölkerung soll entscheiden.“ Er selbst will bei einem möglichen zweiten Referendum über die EU-Mitgliedschaft keine klare Haltung einnehmen.
„Neutral bleiben ist keine Option“
„Neutral zu bleiben ist doch keine Option!“, schimpft Sadiq Khan, der Londoner Bürgermeister. „Ich finde, wir sollten allen Labour-Abgeordneten eine Linie vorgeben: Für den Verbleib in der EU zu stimmen.“ Khan ist der proeuropäische Bürgermeister einer globalistischen, weltoffenen Metropole. Doch auch Corbyn-loyale Schattenminister drängen ihren Chef zu einer klaren Haltung für den Verbleib in der EU. Denn die Wähler drohen die Labour-Führung für die unklare Brexit-Haltung zu bestrafen: Die Tories führen mit 37 Prozent vor Labour mit 22 Prozent in den Umfragen. Die EU-Fans laufen zu den Liberaldemokraten davon.
Emily Thornberry etwa, Außenministerin in Corbyns Schattenkabinett, hat sich klar positioniert und geht bei den Straßenprotesten mit den Proeuropäern sogar mit einem Kleid in EU-Farben auf die Straße: „Ich werde sicher keine Art von Brexitplan unterstützen,“ sagt sie, „auch nicht, wenn er von Labour vorgeschlagen wird.“ Der harte Kern der EU-Skeptiker in Labour, die man vor allem in den Gewerkschaften findet, ist empört: „Schattenminister, die anders als Corbyn denken, sollten abtreten“, konstatierte Len McCluskey, der mächtige Chef der Gewerkschaft „Unite“.
Ein Parteiführer, der nicht führt
Dass er keine klare Haltung bei der Brexitfrage findet, ist nur ein Problem des Parteichefs. Die Partei ist auch deshalb tief zerstritten, weil Corbyn die Häufung an antisemitischen Vorfällen innerhalb der Partei nicht in den Griff bekommt. Aus beiden Gründen sind moderate Abgeordnete zu den Liberaldemokraten übergelaufen. Dahinter steht ein strukturelles Problem: Corbyn führt die Partei nicht, er gefällt sich als Zuhörer. Doch wenn Politiker Meinungen äußern, die nicht der Parteilinie entsprechen, dann laufen sie Gefahr, durch Hasskampagnen in Parteistrukturen und im Netz aus der Partei vertrieben zu werden.
Als ersten Akt hat die Labour-Konferenz am Sonntag dafür gestimmt, das Verbot von Privatschulen ins Parteiprogramm aufzunehmen: „Die Eton-Elite ruiniert das Land“, sagt Laura Parker von der Grassroots-Bewegung Momentum, die Corbyn mit ihren gut organisierten und engagierten jungen Aktivisten zum Parteichef küren half. Labour will die Macht privater Eliteschulen brechen. Aus Eton sind zwanzig konservative Premierminister – auch Boris Johnson – hervorgegangen. Nur sieben Prozent der Schüler werden in privaten Schulen erzogen, stellen aber später 65 Prozent der höheren Richter, 52 Prozent der Staatssekretäre und 44 Prozent er Zeitungskolumnisten. Laura Parker fordert: „Arme Kinder sollen auch die Chance auf gute Ausbildung bekommen.“
Wie eine Schlange im Gras
Brexit und Spaltungsgerüchte überlagern allerdings in diesem Jahr alle anderen Themen. „Wir müssen uns der destruktiven, zersetzenden Verführung des Faktionalismus widersetzen“, ruft der wiederauferstandene Parteivize Tom Watson in einem Fringe-Meeting am Rande des Parteitages. Seine Zuhörer johlen. „Wir müssen die Partei in dieser tiefen Krise zusammenhalten“, fordert Watson. Seine Fans applaudieren lang anhaltend und stehend.
Wütend verlässt Mike Gates die Veranstaltung: „So viel Scheinheiligkeit ist nicht auszuhalten!“, schimpft er. „Watson ist wie eine Schlange im Gras.“ Watson sei doch selbst der Spalter, er sei illoyal gegenüber seinem Parteichef. Gates, ein Labour-Wähler aus Bristol, ist schon sein Leben lang bei der Labour-Partei. Er hat beim EU-Referendum 2016 für den Verbleib in der EU gestimmt. Aber er hält Jeremy Corbyn für einen „ehrlichen Politiker mit Rückgrat, dem jetzt alle folgen sollten: Nur er kann es schaffen, die Ungleichheit in unserer britischen Gesellschaft zu verringern.“
Gedämpfte Stimmung
Abends kommt Jeremy Corbyn zu einem Empfang von Labour-Gemeinderäten aus dem ganzen Land. Der Parteitag ist eine der wenigen Gelegenheiten, den Parteichef direkt aus der Nähe zu erleben. Corbyn dankt den Leuten für ihre harte Arbeit an der Basis. Und er feuert sie an, mit ihm gemeinsam Downing Street zu erobern. Zu Cicero sagt er danach: „Ich habe keine Angst vor einer Parteispaltung. Wir werden uns nicht spalten lassen.“ Die Stimmung aber ist seltsam gedämpft auf diesem Parteitag. Lang vorbei scheinen die Zeiten, in denen begeisterte Fans den grauhaarigen Parteichef mit dem Sprechchor „Oh, Jeremy Corbyn“ begrüßten. Einer stimmt den Gesang zwar an. Doch niemand stimmt ein.
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Es wundert mich sehr, dass ein Magazin wie Cicero,
das ich für seine ausgewogene und differenzierte Kommentierung schätze, in Sachen Brexit nur die völlig einseitige Berichterstattung dieser Journalistin
zu Wort kommen lässt. "Die spinnen, die Briten" las ich
vor Kurzem im Kommentar einer Britin, die in Reutlingen zu Hause ist. Wohlverstanden: beide Seiten! Die einen sind nicht "gemäßigt" und die anderen sind nicht "ultraradikal" - meine Bitte an
die Redaktion, lassen Sie doch die andere Seite auch zu Wort kommen!
und zwar, als ausgerechnet Nigel Farage hier gepriesen wurde - der gleiche, der wenige Tage später Ursula von der Leyen als Kommunistin bezeichnete. Das war nicht unbedingt eine der stärksten Beiträge auf dieser Seite.
Millionen von Jobs zu retten. Wenn 64% der Parteimitglieder in der EU sind, sollte man diesem ökonomischen Kamikazekurs schnellst möglich stoppen.