Wielun Polen Zweiter Weltkrieg Überfall
Gedenkfeier um 4.55 Uhr in Wielun / picture alliance

Überfall auf Polen vor 80 Jahren - „Bequemlichkeit und Feigheit des Westens“

Heute vor 80 Jahren überfiel Deutschland Polen – es war der Beginn eines jahrelangen unvergleichlichen Massenmordens. Polens Botschafter, Andrzej Przyłębskia, verurteilt in „Cicero“ die Untätigkeit des Westens, auch nach dem Zweiten Weltkrieg und fordert eine Gedenkstätte in Berlin

Andrzej Przyłębski

Autoreninfo

Andrzej Przyłębski ist Polens Botschafer in Berlin und Professor an der Adam-Mickiewicz-Universität Posen.

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Für Polen stellte der Zweite Weltkrieg die schrecklichste Erfahrung in der gesamten Geschichte der polnischen Nation dar. Unser Land hat infolge des Krieges ein Sechstel seiner Bevölkerung und weite Gebiete verloren. Die Eliten wurden dezimiert und konnten sich von diesem Aderlass bis heute nicht vollständig erholen. Die Grenzverschiebung nach Westen, das heißt die Übergabe ehemaliger deutscher Gebiete an Polen war entgegen den in Deutschland verbreiteten Meinungen nicht imstande, die im Osten erlittenen Verluste auszugleichen, denn Polen verlor dort mit der polnischen Kultur und Staatlichkeit seit jeher verbundene Kerngebiete. Dabei sei zum Beispiel an Polens beste Universitäten in Wilno und Lwów zu erinnern.

Obwohl wir glücklicherweise nach dem Krieg keine sowjetische Republik wurden, geriet das Land für 60 Jahre unter den Einfluss der Sowjetunion. Dies führte nicht allein dazu, dass Polen wirtschaftlich stagnierte und allmählich den Anschluss an die gesellschaftlich-technische Entwicklung Westeuropas verlor, sondern auch zur zivilisatorischen und kulturellen Rückschrittlichkeit, um nicht zu sagen: zum moralischen Verfall. Die Folgen dieses Verfalls sind bis auf den heutigen Tag spürbar – allein in der Tatsache, dass bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 30 Jahre nach dem Ende des Kommunismus ehemalige Parteifunktionäre des kommunistischen Regimes gewählt werden: die Herren Cimoszewicz, Miller und andere. Das zeugt von den Ausmaßen des moralischen Chaos, das aufgrund nicht aufgearbeiteter Verbrechen des kommunistischen Systems, darunter der damaligen Justiz, entstand.

Die Bombardierung von Wielun

Andrzej Przyłębskia
Andrzej Przyłębskia, Polens Botschafter

Aber zurück zu dem eigentlichen Ereignis, zum Zweiten Weltkrieg. Am 1. September des Jahres 1939 hat Deutschland Polen überfallen. Als eigentlicher Anfang des Krieges galt bisher die Beschießung der polnischen Positionen in Westerplatte bei Danzig durch den Panzerschiff Schleswig-Holstein. Heute fängt aber eine andere Deutung zu fungieren, die auf ein anderes, ein paar Minuten früheres Ereignis hinweist:

Auf die Bombardierung von Wielun, einer kleinen, nah der Grenze liegenden Stadt, in der kein polnisches Militär stationiert war. Bombardierung des Krankenhauses, der Kirchen, des Altmarkts, der Synagoge. Und vielen Wohnhäuser. Ein symbolisches Ereignis, kann man sagen, denn es zeigte sich darin der neue, totale, auf die Vernichtung der Zivilbevölkerung gezielte Charakter dieses Kriegs. Eben deshalb trafen sich heute Früh der deutsche und der polnische Präsidenten in Wielun, um 4:40 Uhr.

Vieles über den Verlauf des Krieges ist in Deutschland bekannt. Daher möchte ich auf einige Fragestellungen hinweisen, die in Deutschland, in Westeuropa und in Nordamerika in der Regel übergangen werden. Als erstes: Die westeuropäische Öffentlichkeit (sehen wir einmal von den Historikern ab) nimmt den Zweiten Weltkrieg sehr oft mit Blick auf den Holocaust oder den deutsch-sowjetischen Krieg wahr. Der Überfall Deutschlands auf Polen wird als ein sogenannter Blitzkrieg bezeichnet und als belangloser Auftakt zu dem eigentlichen Krieg an allen Fronten interpretiert. Die Wahrheit ist allerdings komplexer.

Warten auf Frankreich und Großbritannien

Als am 1. September 1939 Deutschland Polen überfallen hatte, gab es bei der polnischen Heeresführung keinen Zweifel über die Überlegenheit der nazistischen Truppen. Der Verteidigungskrieg verfolgte nicht das Ziel, die Deutschen zurückzudrängen, sondern sie aufzuhalten und bis zur Kriegserklärung durch Frankreich und Großbritannien Widerstand zu leisten, denn eine solche war aufgrund zwischen den drei Ländern geltender Abkommen zu erwarten.

Großbritannien und Frankreich stellten den Deutschen am 3. September 1939 ein Ultimatum und forderten einen sofortigen Rückzug vom polnischen Gebiet und aus der Freien Stadt Danzig. Den nächsten Schritt unserer westlichen Verbündeten stellte die Kriegserklärung an das Dritte Reich dar. In Polen nahm man diese mit Begeisterung auf. Die Alliierten hätten innerhalb von zwei Wochen nach der Kriegserklärung die deutschen Truppen angreifen müssen. Dies geschah jedoch nicht, obwohl die Engländer und die Franzosen den Deutschen an der westlichen Front eindeutig überlegen waren (110 alliierte Verbände standen gerade 23 deutschen gegenüber!). Warum nahmen sie den Kampf nicht auf, der aller Wahrscheinlichkeit nach dem Krieg ein schnelles Ende gesetzt hätte?

Empörender Verzicht auf Kriegshandlungen

Die Antwort auf diese Frage ist in der idyllischen Ortschaft Abbeville zu finden, wo sich am 12. September, das heißt fünf Tage vor dem vertraglich festgesetzten Termin des Angriffs der Alliierten auf Deutschland, Vertreter des Obersten Kriegsrates Frankreichs und Großbritanniens trafen. Im Beisein der Regierungschefs Neville Chamberlain und Edouard Daladier wurde der empörende Verzicht auf Polen versprochene Kriegshandlungen an der westlichen Front und auf britische Luftangriffe auf Deutschland beschlossen.

Der Beschluss von Abbeville ließ nicht allein Deutschland freie Hand – er bewegte darüber hinaus den zu diesem Zeitpunkt noch unentschlossenen Josef Stalin dazu, seine Rote Armee gegen Polen zu schicken. Statt der französischen Offensive erlebte Polen am 17. September 1939 den sowjetischen Angriff auf die östlichen Grenzgebiete. Diesem doppelten Überfall konnten die polnischen Truppen, die sich gerade in den grenznahen Regionen sammelten, nicht die Stirn bieten.
Auf Abbeville folgte der „seltsame Krieg”, der in seliger Untätigkeit der französischen und der deutschen Heere an der Westgrenze des Dritten Reiches bestand. Diese merkwürdige Situation dauerte bis zum Frühling 1940 an, als sich die deutschen Kräfte nach der Niederschlagung Polens mehrheitlich an der Westgrenze sammeln und die Franzosen schnell überwältigen konnten.

„Lebensraum“ als Hauptziel

Eine andere, auch falsche Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg, die in der deutschen und westeuropäischer Öffentlichkeit sogar präsenter ist, besteht in der Fokussierung auf den Holocaust. Der Holocaust ist ohne Zweifel ein beispielloses Ereignis der Menschheitsgeschichte, unabhängig davon, dass ethnisch motivierte Massenmorde bereits vorher verzeichnet wurden. So sei an den durch die Türken verübten Völkermord an den Armeniern erinnert, dessen der Deutsche Bundestag vor Kurzem gedachte.

Es gibt jedoch kaum überzeugende Argumente zur Unterstützung der Behauptung, Hitlers Hauptziel im Zweiten Weltkrieg habe in der Auslöschung der Juden bestanden. Sein Ziel war die Eroberung von etwas, was „Lebensraum“ genannt wurde – einem weiten Gebiet, auf dem sich der „deutsche Übermensch“ hätte frei verwirklichen können, um der Welt sein „Zivilisationspotential“ zu beweisen. Im Zusammenhang mit diesem Hauptziel wurde die Zerstörung von Städten und Dörfern geplant, im Zusammenhang damit sollten die Slawen – an erster Stelle die Polen – zu für deutsche Herren arbeitenden Sklaven degradiert werden. Die Ermordung, beziehungsweise Versklavung meiner Landsleute bedeutete also den ersten Schritt bei der Verwirklichung eines solchen neuartigen Plans.

Beraubt, zerstört, vernichtet

Die ersten Vertriebenen des Zweiten Weltkrieges waren daher, bereits im Oktober 1939, eben Polinnen und Polen aus Poznan, Großpolen und Pommern, die in die östlichen polnischen Gebiete deportiert oder grausam ermordet wurden. Das letztere, die Ermordung, wurde das Schicksal der polnischen Intellektuellen in dieser urpolnischen Region: Wissenschaftler, Künstler, Geistliche, Politiker, Teilnehmer des Großpolnischen Aufstandes. Bei ihrer Auslöschung wurde systematisch vorgegangen – anhand von Listen, die mit Unterstützung der von den Polen so gastfreundlich aufgenommenen deutschen Bevölkerung dieser Region bereits vor dem Krieg angefertigt wurden. Es lohnt der Hinweis, dass dies alles drei Jahre vor der Entstehung des Vernichtungslagers Auschwitz geschah. Die ersten Todesopfer in Auschwitz waren, selbst noch einige Monate nach der Gründung des Lagers, Menschen polnischer Nationalität, was die Welt vergessen hat.

An dieser Stelle will ich in aller Kürze an etwas erinnern, wovon ich Jahr für Jahr spreche – und zwar zweimal, am 1. September und am 8. Mai. Gemeint sind die furchterregenden Resultate des Krieges, der die Welt insgesamt mehr als 50 Millionen Tote und über 100 Millionen Verwundete kostete. In Polen waren es circa sechs Millionen. Hinzu kam der Siegeszug des Kommunismus gleich nach dem Krieg, der viele Länder für lange Zeit in ihrer Entwicklung hemmte. Polen wurde beraubt und zerstört, seine Hauptstadt vernichtet und erst im Laufe langjähriger Bemühungen wiederaufgebaut; die Intellektuellen wurden ermordet, die Volksmassen umgesiedelt.

Bis heute kein Denkmal für die polnischen Opfer

Dieser Aufzählung füge ich häufig den Satz hinzu: Polen war das größte Opfer des Zweiten Weltkriegs. Die öffentliche Meinung konzentriert sich auf die Juden, welche dem Versuch einer totalen Auslöschung ausgesetzt wurden. Einem zum Glück misslungenen Versuch. Einem Versuch, aus dem die Siegesmächte einiges über den Europa und Amerika belastenden Antisemitismus gelernt haben. Dank dieser Lektion willigten sie in die Entstehung des Staates Israel als Repräsentant und Beschützer der jüdischen Nation ein, der eine gewisse Garantie bedeutet, dass sich der Holocaust nie wiederholen wird. Es ist ein Staat, der eine nicht zuletzt finanzielle Unterstützung seitens des Westens, aber auch die politische und menschliche Unterstützung aus Polen, erfährt. Ohne in Polen, beziehungsweise durch die Polen ausgebildeten Offiziere und Soldaten wäre die israelische Armee nicht das was sie ist.

Ich habe die von der Botschaft, die ich leite, jährlich am 1. September und am 8. Mai veranstalteten Gedenkfeierlichkeiten erwähnt. Sie finden auf dem Britischen Friedhof in Berlin statt, wo einige Hunderte alliierte Soldaten bestattet wurden, darunter fünf polnische Flieger der Royal Air Force, die über Berlin abgeschossen worden waren. Wie man sich denken können, handelt es sich dabei um einen Ersatzort, weil Deutschland bis jetzt noch kein Denkmal für die polnischen Opfer des Nationalsozialismus errichtet hat.

Meine Ansprachen auf dem Friedhof schließe ich mit einer Anknüpfung an den naheliegenden Spruch: „Nie wieder Krieg!” In meinem Mund bedeutet er allerdings nie einen Aufruf zum Pazifismus, denn jede von einer fremden Macht überfallene Nation ist zum Verteidigungskrieg verpflichtet. Der Krieg zwischen Polen und Deutschland im Jahr 1939 war ein solcher Krieg. Die Worte „Nie wieder Krieg!” richten sich an die potentiellen Angreifer, die es nach den Erfahrungen des Zweiten, aber auch des Ersten Weltkriegs, nie mehr wagen sollten, einen anderen Staat zu überfallen. Es gibt für Länder und Nationen viele andere Methoden der Konfliktlösung. Konflikte wird es immer geben, denn so ist die Natur des Menschen und auch das Wesen der Rivalität zwischen Ländern und Nationen.

Schmerzliche Sanktionen müssen sein

Damit derartige Konflikte friedlich gelöst werden, müssen aggressive Überfälle von der internationalen Öffentlichkeit eindeutig verurteilt werden. Nicht allein mit Worten, sondern mit entsprechenden Sanktionen. Schmerzlichen Sanktionen. Sehen wir solch effektive Sanktionen nach dem russischen Überfall auf Georgien, nach dem Anschluss Ossetiens und Abchasiens oder der Krim, nach dem Angriff im Donbas? Diese Frage lasse ich unbeantwortet. 

Polen hatte im September 1939 allen Grund dazu, sich der Übermacht des Dritten Reiches zu widersetzen: Sie hatte Soldaten, die ihre Tapferkeit später an vielen Fronten des Krieges gezeigt haben, es gab Unterstützung in der Bevölkerung und das Abkommen mit Frankreich und mit Großbritannien. Während des Kriegs stand der Exilregierung Polens eine Untergrundarmee zur Verfügung, die mehr als 300.000 Soldaten zählte. Unter dem sowjetischen Kommando haben die Polen unter anderem Berlin erobert. Im Westen und im Süden kämpften sie erfolgreich unter anderem bei Monte Casino, Tobruk oder Arnheim. Wir durften hoffen, dass nach dem Sieg über Hitler unser Staat in seiner Vorkriegsgestalt wieder entstehen würde. Das Schicksal – oder nennen wir es beim Wort: die Bequemlichkeit und Feigheit des Westens – wollte es anders.

Verrat an ihrem treuesten Verbündeten

Wie „hoch” der polnische Beitrag zur Besiegung des Dritten Reiches von unseren „Verbündeten” geschätzt wurde, gehört zu den traurigsten Kapiteln des Zweiten Weltkrieges. Polen wurde der Sowjetunion unterworfen, wodurch Tausende Soldaten der Heimatarmee und der nationalen Streitkräfte ums Leben kamen. Polnische Flieger, die am tapfersten von allen um London gekämpft hatten, die Besten von den Besten, was die Anzahl der Treffer belegte, ließen die Briten auf Stalins Wunsch nicht an der Londoner Siegesparade teilnehmen. Sie mussten auf dem Bürgersteig stehen und zuschauen.

Die Panzerdivision von General Maczek, die bei der Kesselschlacht von Falaise die doppelt stärkere deutsche Panzertruppen besiegte (vor einigen Tagen berichtete darüber auch die deutsche Presse) und im Anschluss daran die Niederlande befreite, wurde danach in der deutschen Stadt Haaren stationiert, die dadurch für zwei Jahre zur einzigen wirklich freien Enklave des polnischen Staates wurde. Die ursprüngliche Namensänderung von Haaren in Lwów, das heißt Lemberg, wurde auf Wunsch Stalins rückgängig, und den Soldaten wurde die Rückkehr in die Heimat empfohlen, was mit Repressionen verbunden war. Dieser Verrat an ihrem treuesten Verbündeten blieb seitens der Alliierten bis heute ungeklärt. Deshalb wird er tunlichst mit Schweigen belegt.

Eine Gedenkstätte in Berlin errichten

Infolge des Krieges entstand ein neues, demokratisches Deutschland, wenigstens im westlichen Teil des Landes. Und uns Polen blieb nichts anderes übrig, als uns durch Verstehen, Verständigung, Annäherung und Versöhnung mit der neuen Situation zu arrangieren. Dies geschieht seit fast 50 Jahren, nicht ohne Erfolge. Die Ergebnisse sind nicht immer zufriedenstellend, man spricht manchmal sogar vom Verständigungskitsch.

Es gibt aber viele Gegenbeispiele – nehmen wir die Teilnahme des deutschen Außenministers Heiko Maas an der Gedenkfeier in Warschau anlässlich des Ausbruchs des Warschauer Aufstandes und seine herrliche Rede im Museum des Warschauer Aufstandes am 1. August dieses Jahres. Er sprach nicht mehr von „den Nazis“, sondern von den Deutschen: von der deutschen Schuld und der deutschen Verantwortung. Und betonte die Notwendigkeit, ein „polnisches Denkmal“ (beziehungsweise eine Gedenkstätte für Polen) in Berlin zu errichten.

Gedenken als wesentlicher Bestandteil

Dieser Aspekt der deutsch-polnischen Beziehungen lässt sich verallgemeinern. Denn das Vertrauen zwischen den Völkern bleibt nach wie vor eine wichtige Aufgabe. Und nur dieses Vertrauen kann uns einen dauerhaften Frieden garantieren. Für Polen und Deutschland erwuchs aus der Befreiung der Welt von der Barbarei des Nationalsozialismus und des Faschismus eine historische Aufgabe: Die beiden Nationen mussten einen neuen Weg zueinander, zu einer gemeinsamen Zukunft finden. Diese Zukunftsorientierung darf aber nicht heißen, dass die Vergangenheit vergessen würde. Ganz im Gegenteil – nur diejenige, die ihre Herkunft kennen, können sie die Zukunft verantwortungsvoll und gewissenhaft gestalten.

Das Gedenken an die Opfer des Kriegs bleibt ein wesentlicher Teil unserer Identität und unserer Bildung. An dieser Stelle möchte ich an die Bildungsinstitutionen Deutschlands appellieren: Das Gedenken an das, was während des Zweiten Weltkriegs in meinem Land geschehen ist, muss in Deutschland zum wesentlichen Bestandteil der historischen Bildung der ganzen Nation werden und sollte nicht nur Auserwählten vorenthalten bleiben.

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Urban Will | So., 1. September 2019 - 11:52

mit interessanten Aspekten.
Neu oder „sensationell“ sind sie nicht, aber es ist gut, wenn sie überhaupt und von einem Polen angesprochen werden, ein Deutscher könnte sich das wohl nie erlauben.

Der „Sitzkrieg“ im Westen bleibt ein Rätsel.
Natürlich ist es reine Spekulation, was passiert wäre, wenn im Herbst '39 im Westen ein zweite Front seitens der haushoch überlegenen Alliierten eröffnet worden wäre, die Wehrmacht war zumindest weit von ihrer Schlagkraft entfernt, die sie erst später entwickelte.

Bei allem Respekt und Mitgefühl für die Polen:
Ich glaube nicht, dass Denkmäler oder – wie von Maas in Warschau erneut angesprochen – „Gesamtschuld“ – Theorien uns weiter bringen. Wir leben in der Gegenwart, die aktiv Schuldigen sind tot, die neue Generation denkt anders.

Es besteht die Pflicht zum aktiven und unvoreingenommenen Gedenken und dem Ziehen der richtigen Schlüsse.

Das ist weit schwieriger als Denkmäler hinzustellen, die bald keinen mehr interessieren.

Gerhard Schwedes | So., 1. September 2019 - 12:14

Ein sehr bewegender Artikel. Als Deutscher, der sich, was heute keine Selbstverständlichkeit mehr ist, trotz der geschilderten Verbrechen mit seinem Land voll und ganz identifiziert, stehe ich immer wieder fassungslos vor der Tatsache, wie all diese Verbrechen geschehen konnten. Unfassbar die Tatsache, dass die Alliierten beim Angriff auf Polen an der Westgrenze zu Deutschland die Däumchen drehen und der deutschen Armee den sicheren Sieg über Polen vor die Füße legen konnten! Dafür kann es einfach keine rationale Erklärung geben. Wie viel Leid hätte verhindert werden, wie viele Menschen gerettet werden können, wenn diese unfassbare Feigheit des Westens nicht geschehen wäre! Ich frage mich manchmal, ob Demokratien zu Bequemlichkeit und Feigheit neigen. Auch heute sehe ich ein Unmaß an Feigheit, Denkfaulheit und mangelnder Zivilcourage um mich herum. Es ist die Feigheit und Denkfaulheit einer satten Gesellschaft mit ebenso satten und feigen Karriereristen in den etablierten Parteien.

Christa Wallau | So., 1. September 2019 - 12:18

Ihr Appell, sehr geehrter Herr Botschafter,
wird verhallen.
Die "Bildungsinstitutionen Deutschlands", die Sie ansprechen, sind weit davon entfernt, das Fach
Geschichte in der notwendigen Weise zu fördern und ihm den gebührenden Rang innerhalb des Bildungskanons zuzuweisen.
Zutreffend schreiben Sie: "Nur diejenigen, die ihre Herkunft kennen, können die Zukunft verantwortungsvoll und gewissenhaft gestalten."
In Deutschland glaubt man nicht an diese Worte;
denn sonst müßte man sich viel mehr mit der
g e s a m t e n deutschen u. europäischen Geschichte (nicht reduziert auf 12 Jahre Nazi-Diktatur) ernsthaft beschäftigen und zwar in
a l l e n Schulen! Doch das ist reines Wunschdenken.
Unsere Schulen produzieren immer mehr "Abiturienten", die zum großen Teil nicht einmal über die simpelsten geschichtlichen Kenntnisse verfügen, von einer Einordnung der Geschehnisse ganz zu schweigen. Sie plappern nach, was ihnen andere vorsprechen. Deshalb sind sie in höchstem Maße verführbar.

Henriette Schmitt | So., 1. September 2019 - 13:39

Ich habe sie eben gehört, und er sprach aus Betroffenheit ohne in einen vorgefertigten Text blicken zu müssen. (Herr Steinmeier sprach anders.)
Wir hatten schon einmal einen Bundeskanzler, der - ebenso berührend niederkniete ohne auf sein Papier zu gucken - der berühmte Kniefall Willi Brandts.

Jürgen Keil | Mo., 2. September 2019 - 12:24

Ein berührender Artikel.
Für die Verbrechen, die unsere Vorfahren in Polen verübten, schäme ich mich als Deutscher. Aber ich fühle mich persönlich nicht schuldig! Ich wuchs in der DDR auf. Dort wurde in der Schule, in vielen Büchern und Filmen, sehr ausführlich dieses Thema behandelt und viele Menschen wurden angemessen sensibilisiert. Man kann Kriegsverbrechen nie ungeschehen machen. Deutschland hat mit den Verlust seiner Ostgebiete, Pommern, Schlesien, und viele Menschen mit dem Verlust ihrer Heimat gebüßt. Die Anerkennung der Oder/Neiße- Grenze, die Akzeptanz der Gebietsverluste als Sühne, ist für mich eine geeignete und ausreichende Form des Gedenkens. Es braucht keine weiteren Denkmale. Viel wichtiger für mich: Deutsche Politiker sollten endlich aufhören, polnischen Politikern vorzuschreiben, welche Politik sie in ihren eigenen Land machen. Toleranz und Respekt für den und das Andere!

Sebastian Christ | Mo., 2. September 2019 - 13:19

Bei aller Liebe zur Vereinfachung: Die Einschätzung Przyłębskias, die Russische Föderation hätte Ossetien oder Abchasien seinem Staatsgebiet angeschlossen, geht wohl doch etwas weit. So wenig wie Slowenien, Kroatien oder der Kosovo von einigen Mitgliedern der EU dem eigenen Staatsgebiet angeschlossen wurden, geschah dies mit Abchasien und Südossetien durch die Russische Föderation. Die bezeichneten Gebiete wurden allerdings als eigenständige Staaten von den jeweiligen geopolitischen Akteuren anerkannt, selbstverständlich unter Verfolgung eigener Interessen des jeweils Anerkennenden.

Der Vollständigkeit halber sein erwähnt, dass dem „russische(n) Überfall“ auf Georgien 2008 durchaus ein Angriff des georgischen Militärs auf die Zivilbevölkerung Südossetiens und dort auch mit Zustimmung Georgiens stationierte Friedenstruppen der Russischen Föderation vorausging.

Sebastian Christ | Mo., 2. September 2019 - 13:23

Die Unabhängigkeitsbestrebungen der Abchasen und Südosseten als bloßen, von der Russischen Föderation orchestrierten Anschluss zu diffamieren, erscheint überdies wenig konsequent. Der Georgischen SSR angeschlossen wurden Abchasien und Südossetien unter der Herrschaft des gebürtigen Georgiers Iosseb Dschughaschwili, der unter seinem politischen Künstlernamen Josef Stalin bekannter geworden sein dürfte.

Wenn Andrzej Przyłębskia nun implizit fordert, die Südosseten und Abchasen sollten ihre Unabhängigkeitsbestrebungen zurückstellen, heißt dies nicht weniger, als dass die vorbezeichneten Volksgruppen die Neuordnung des Kaukasus durch Josef Stalin doch bitte endlich anzuerkennen hätten. Die Neuordnung des polnischen Raums durch Josef Stalin bewertet Andrzej Przyłębskia hingegen als sowjetische Aggression, der auch heute noch zu gedenken ist.

Sebastian Christ | Mo., 2. September 2019 - 13:24

Spannend ist die Einschätzung Andrzej Przyłębskias, Polen sei das größte Opfer des Zweiten Weltkriegs. Angesichts etwa sechs Millionen ermordeter Europäer jüdischen Glaubens und 23 bis 30 Millionen sowjetischer Kriegsopfer steigt Przyłębskia durchaus kontrovers in eine nunmehr eigentlich fällige Diskussion ein.

eigentlich fällige Diskussion ein.
Nun Herr Christ ich vermute die eigentlich fällige Diskussion will Polen gar nicht führen. Denn das Alleinstellungsmerkmal der Opferrolle gibt man nicht so gerne auf.
Anmerkung: Selbstverständlich war Polen das Opfer eines der grausamsten und unmenschlichsten Überfälle der neueren Geschichte verübt von Deutschland aber es waren nicht nur Polen sondern viele andere Nationen und Menschen die dieser unmenschlichen Raserei zum Opfer fielen.

Kurt Walther | Mo., 2. September 2019 - 13:48

Ein ausgezeichneter Artikel von Polens Botschafter A. Przylebski zu dem, was Polen mit Beginn des 1. Sept. 1939 widerfahren ist. Ich habe mir gestern die beeindruckende emotionale Rede des polnischen Präsidenten angehört. Als Deutscher, nur wenige Kilometer vom Grenzfluss entfernt wohnend, schämt man sich immer wieder, was Deutsche den Polen einst antaten. In meiner DDR-Schulzeit wurde dieses Kapitel behandelt - auch, dass sich an der Westgrenze trotz der Kriegserklärungen Frankreichs und Englands nichts tat. Die beiden großen westeuropäischen Demokratien ließen Polen vor 80 Jahren in Stich - ebenso 1945, indem sie Polen Stalin überließen. Auch das ist eine Schande. War es Feigheit?
Ich befürchte manchmal, dass man sich auf Demokratien auch nicht allzu sehr verlassen kann. Der Wähler wechselt gar schnell seine Meinung. Das Hemd sitzt eben doch näher als der Rock. Über den Fall "Trump" möchte man schon gar nicht mehr reden. Aber immerhin: Die USA stehen fest hinter Polen.

Alice Friedrich | Di., 3. September 2019 - 00:33

Antwort auf von Kurt Walther

Das stimmt,Herr Walther, die USA stehen fest hinter Polen, und zwar mit handfesten Interessen. So wird es wohl dazu kommen, dass die amerikanische Militärpräsenz in Polen verstärkt wird, wobei die Kosten für die Infrastruktur Polen übernimmt. Polen wird des weiteren für 30 Milliarden teures Flüssiggas beziehen und investiert in die Erstellung des Terminals. Ich sehe beide Verinbarungen als Affront gegen Putin und keinesfalls pazifistisch motiviert.

Juliana Keppelen | Mo., 2. September 2019 - 13:51

Danke für ihre Ausführungen. So erübrigt sich mein Kommentar der inhaltlich in die gleiche Richtung gegangen, aber weit weniger geschliffen und zivilisiert ausgefallen wäre.

Carsten Wolff | Mo., 2. September 2019 - 14:40

Als ich Anfang der 90er-Jahre in Deutschland studierte und ich anlässlich eines Studentenaustauschs in einer Gastfamilie in Danzig untergebracht war, musste ich abends auf dem Rückweg zur Wohnung immer an einer polnischen Nazi-Kneipe vorbei und der Sohn meiner Gastfamilie sagte dann immer im Vorfeld, dass wir uns jetzt besser nicht auf Deutsch unterhalten sollten.

An einem Wochenende dann direkt in der Danziger Innenstadt kam ich aus dem Staunen nicht heraus: dort marschierten polnische Nazis mit Stechschritt, Hakenkreuz und Hitlergruß auf - direkt in der Innenstadt von Danzig! Wieder riet der Sohn meiner Gastfamilie, bitte nichts auf Deutsch zu sagen.

Was immer gerne vergessen wird ist, dass in der Vergangenheit kaum ein anderes Land wie Deutschland seine Vergangenheit so brutal aufgearbeitet hat und so im Fokus der Geschichte stand, was andere Länder dazu verführte, sich dieser nationalen Aufarbeitung kaum bis gar nicht zu stellen - Polen gehört zu diesen Ländern.

Tomas Poth | Mo., 2. September 2019 - 16:13

Wenn wir den europäischen Staatenbund also als ein Friedensprojekt betrachten, am Leben halten und mit Leben füllen wollen, sollte rückwärts gewandtes Beklagen und aufrechnen alter Positionen unterlassen werden.
Polen ist der größte Netto-Subventionsempfänger innerhalb der EU. Machen Sie etwas daraus, um möglichst bald aus eigenen Kräften davon unabhängig zu werden.

Tomas Poth | Mo., 2. September 2019 - 19:04

wie im Beitrag erwähnt.
Für die Opfer des Juden-Pogroms am 4.Juli 1946 in Kielce hat Polen eine Gedenktafel eingerichtet.
Wäre so eine zentrale Gedenktafel, z.B. in Warschau) auch für die Opfer der Vertreibung der deutschen Bevölkerung (14 Mill. Vertriebene und Geflüchtete) aus den ehemaligen Ostgebieten Deutschlands, heutiges Staatsgebiet Polens, möglich? Oder existiert das schon in Polen, wen ja wo?