- Brexit-Dämmerung
Die britische Premierministerin Theresa May hat einen Kompromissvorschlag für den EU-Austritt Großbritanniens mit der Europäischen Union ausgehandelt. Dieser Brexit-Deal ist die beste aller schlechten Optionen – zumindest für die umkämpfte Regierungschefin
Noch hatte keiner den Text des Brexitdeals gelesen, da brach bereits die Meuterei auf der Brexitannia aus. „Mit diesem Brexit werden wir zum Vasallenstaat“, rief Boris Johnson, einst Außenminister des Vereinigten Königreichs und heute Anführer der Brexit-Hardliner im britischen Parlament. Sein kleiner Bruder Jo Johnson, der vor ein paar Tagen als Staatsekretär für Transport zurückgetreten war, kritisierte das geplante Abkommen von der Seite der Proeuropäer: „Wir sollten lieber eine zweite Volksbefragung durchführen, als diesen faulen Kompromiss anzunehmen.“
Doch Kapitänin Theresa May steuert unbeirrt ihr Schiff weiter durch die Wogen der Empörung. Am Mittwoch versammelte sie ihr Kabinett, um den engsten Mitstreitern die Zustimmung zu ihrem heiklen Kompromiss-Brexit abzuringen. Schon in den Stunden zuvor hatten die wichtigsten Kollegen – Brexitminister Dominic Raab, Außenminister Jeremy Hunt, Finanzminister Philip Hammond, Innenminister Sajid Javid und Handelsminister Liam Fox – signalisiert, dass sie ihre Posten lieber behalten und mitziehen wollten.
Die EU-Außengrenze bleibt grün
Für Theresa May ist damit zwar noch keineswegs der Krieg gewonnen, aber doch ein entscheidender Etappensieg gelungen. „Es ist ein Vorschlag voller Kompromisse, das stimmt schon“, konstatiert William Hague, ehemaliger Tory-Parteichef und heute pragmatischer Elder Statesman in einem Radiointerview: „Doch Theresa May hat damit drei wichtige Forderungen der Brexitbefürworter erfüllt: Großbritannien kann in Zukunft die Fischereipolitik selbst bestimmen, muss nicht mehr in den EU-Topf einzahlen und darf die Immigration beschränken.” Denn das Vereinigte Königreich wird aus dem EU-Binnenmarkt austreten, und damit gelten die vier EU-Freizügigkeiten für die Briten nicht mehr.
Mays Brexit heisst aber auch, dass das Problem der nordirischen Grenze erst einmal entschärft werden kann. Die EU wie auch das Vereinigte Königreich waren sich im Prinzip einig, dass die Grenze zwischen Irland und Nordirland grün bleiben soll, auch wenn sie nach dem Brexit zur EU-Außengrenze werden wird. Um dies zu erreichen, soll Nordirland in der Zollunion bleiben. Damit keine neue Grenze zwischen Nordirland und Großbritannien im irischen Meer entsteht, musste May den logischen Schritt tun und zustimmen, eben das gesamte Vereinigte Königreich in der EU-Zollunion belassen. Zumindest vorerst, bis in einigen Jahren das von Großbritannien gewünschte Freihandelsabkommen mit der EU nach dem Vorbild Kanadas mit einigen Zusätzen ausgehandelt wird. Bis dahin könnten dann auch technische Errungenschaften an der nordirischen Grenze dafür sorgen, dass es keine Zollposten mehr geben muss, weil man alles elektronisch überwachen zu können hofft.
Der Kompromissdeal verspricht Stabilität
Für Hardliner ist der temporäre Verbleib in der Zollunion schwer zu schlucken: Großbritannien bleibt damit eng an EU-Regeln gebunden, ohne ein Mitspracherecht zu haben. Freihandelsabkommen mit Drittstaaten werden die Briten auch nicht sofort aushandeln können. Der Traum vom Empire 2.0 bleibt erst mal, was es schon bisher war: eine Phantasie der Brexit-Fans. Allerdings atmet die britische Geschäftswelt am Mittwoch erst einmal auf. Mays Kompromissdeal verspricht Stabilität, und die ist für international operierende Konzerne wichtiger als nationale Souveränität.
Kommt es auch in den nächsten Tagen nicht zu Rücktritten wichtiger Minister, dann können Briten, EU-Kommission und die EU-Regierungen das Abkommen bis zu einem bisher nur inoffiziell angekündigten Sondergipfel am 25. November fertig aushandeln. EU-Chefverhandler Michel Barnier briefte am Mittwochvormittag die 27 EU-Botschafter über den erreichten Kompromiss. Den meisten EU-Regierungen dürfte dieser reichen. Irland, das am meisten betroffene Land, war in die Verhandlungen sehr eng eingebunden.
Verbünden sich Hardliner mit Proeuropäern?
Heftigster Widerstand ist in den nächsten Wochen daher am ehesten von den britischen Politrebellen zu erwarten. Nicht nur die Familie Johnson ist gespalten, wenn es um den Brexit geht. Die konservativen Tories und die oppositionelle Labour Party sind ebenfalls tief zerstritten. Es könnte gut sein, dass die proeuropäischen und europhoben Abgeordneten beider Parteien den May-Deal im Parlament niederstimmen. „Dieser Deal ist schlimmer für Großbritannien als die EU-Mitgliedschaft”, meint etwa Steve Baker im Gespräch mit Cicero. Der konservative EU-Skeptiker trat im Juli als Brexit-Staatssekretär zurück, weil ihm Mays Linie zu moderat war.
Jetzt zieht er im Grunde genommen mit jenen an einem Strang, die gar keinen Brexit wollen. Sondern lieber ein neues Referendum, um den Brexit überhaupt zu stoppen: „Wir haben bereits den besten Deal, den Großbritannien von der EU bekommen kann”, argumentiert die proeuropäische Tory-Abgeordnete Anna Soubry: „Die EU-Mitgliedschaft.”
Die Alternative wäre Chaos
Die Labour Party ist ähnlich zerstritten. Parteichef Jeremy Corbyn glaubt, wie er gegenüber dem Spiegel im Interview sagte, dass der Brexit nicht mehr zu stoppen sei. Viele seiner proeuropäischen Abgeordneten denken allerdings genau das Gegenteil. Weil Corbyn weiß, wie gespalten Partei und Land in der Brexitfrage sind, hält der EU-Skeptiker sich in dieser Frage bedeckt. Für Corbyn ist es wichtiger, in Downing Street einzuziehen als ernsthaft gegen den Brexit zu opponieren. Corbyns Kalkül: Die Mehrheit der Labour-Abgeordneten wird gegen Mays Brexitvorschlag stimmen. Kommen genügend Hardliner und Proeuropäer von der Tory-Partei dazu, dann könnte Theresa May die Abstimmung verlieren. Das könnte Anfang Dezember der Fall sein. Dann wären ihre Tage als Premierministerin gezählt.
Die Folge wäre: Chaos. Aus diesem könnten ein Misstrauensantrag, Neuwahlen und sogar ein zweites EU-Referendum hervorgehen. Ob sich eine Mehrheit der Abgeordneten dann dafür entscheidet, bleibt abzuwarten. Am Mittwoch brach jedenfalls in London Brexitdämmerung aus. Erstmals liegt ein konkreter Vorschlag auf dem Tisch, wie Großbritanniens Zukunft nach dem EU-Austritt aussehen könnte. Trotz der zu erwartenden Schwierigkeiten beginnt für die Briten ein neues Zeitalter.
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Über den Weg und die Umstände die dazu führten oder führen kann ich mich ohnehin wenig bis kaum qualifiziert äußern.
Wozu ich mich allerdings äußere, was sozusagen als eine ausgeprägte Eigenschaft dieser EU das Auge und das Hirn trifft ist die Tatsache, dass in kaum einem Bereich der einst vereinbarten EU Verträge Verabredungen und/oder Konsequenzen für den jeweiligen Fall der Fälle getroffen und/oder bindend vereinbart wurden.
Erinnert sich noch jemand? Nicht nur beim geplanten Hausbau allein werden z.B. diverse Verträge und Vereinbarungen nötig die für die Vertragspartner bindend sind.
Nein, sogar beim Sockenkauf giltS.
Geht doch oder? Oder ist diese EU etwa lediglich eine schlichte Spielervereinigung mit vager Idee dahinter?
Seit mehr als 100 Jahren ist die City of London den kontinentalen Ländern in Bezug auf Intelligenz und „perfider“ Strategie haushoch überlegen. Daran hat sich bis heute nichts verändert. Wenn ich City of London sage, meine ich ausdrücklich nicht Grossbritannien: Die City of London ist der Reiter; Grossbritannien das Pferd.
Als die EU noch eine vernünftig erscheinende Staatengemeinschaft war, habe ich die britische Politik wegen ihres ständigen Beharrens auf einer Sonderbehandlung nicht sehr gemocht, seit sie sich offen gegen den EU-Totalitarismus gestellt hat, sind mir die Briten sehr sympathisch geworden. Nun scheint es aber, daß ihnen ein ähnliches Schicksal droht wie Norwegen und der Schweiz, d.h. sie werden kein Recht auf Mitbestimmung haben, aber alle Bedingungen des EU-Apparats erfüllen müssen. Freihandel gibt es nur zu den Bedingungen der ach so liberalen EU. Nun wäre es sowohl für GB als auch Deutschland besser, sie blieben in der EU und würden durch ihr Veto verhindern, daß diese in einem südländischen Bakschisch-Schulden-Sumpf versinkt. Ohne GB wird Deutschland nackt dastehen und allen Erpressungsversuchen der Bankrotteure hilflos ausgeliefert sein. Das wird die EU aber möglicherweise schneller in die Luft sprengen, als sich mancher vorstellen kann.
Man kann Großbritannien nur gratulieren: Zwar nicht ganz, aber in großen Teilen unabhängig von einer EU, die sich immer mehr undemokratisch und ohne Legitimation zur alles beherrschenden Macht aufspielt. Das könnte man mit den Briten nicht machen, der ehemaligen Weltmacht, die immer am Ende jeder Entwicklung auf der richtigen Seite stand, im Gegensatz zu uns. Wir haben immer bis zum bitteren Ende alles mitgemacht und dafür dann auch die Zeche gezahlt. Das wird nach dem Austritt Großbritanniens nicht anders sein. Wir werden - wie schon vollmundig vom Finanzminister verkündet - den finanziellen Anteil der Briten zum großen Teil übernehmen, wir haben es ja ... Bei Abstimmungen über Belastungen werden wir ganz demokratisch ständig überstimmt und die Geldbörse bereitwillig öffnen. Jetzt sind die Länder der lockeren Geldpolitik am Drücker und ganz hinten, am Horizont, steht bereits der nächste Kandidat, dessen Geldpolitik die EU in eine weitere Krise führt, Großbritannien kann aufatmen ...
Meine Vermutung ist nach wie vor, dass es auf No Deal hinauslaufen soll. GB hat in seinen Augen alles versucht, zu einem für beide Seiten vernünftigen Deal zu kommen. Das, was jetzt vorliegt, ist ein unverschämtes Diktat der EU. Mehr konnte May also nicht erreichen. Sie hat ihre Rolle gespielt und wird zurücktreten. Einer der Hardliner wird übernehmen (Johnson?) und die Briten werden die Tür hinter sich zu machen. Chaos? Welches Chaos? Sie werden der EU aus dieser Position heraus ein Freihandelsabkommen anbieten. So what? Alles nur Taktik.