- Wladimir, der Eroberer
Russlands Staatschef Putin veranstaltet in der Ukraine keinen Größenwahn, sondern sehr sowjetischen Imperialismus. Die Rettung der Ukraine vor der Vereinnahmung der EU ist sein neuestes imperiales Projekt
Eigentlich gilt Wladimir Putin als Realo, pragmatisch bis zur Eiseskälte. Aber nach seinem Einmarsch auf der Krim zweifelte selbst Angela Merkel, ob der Mann, mit dem sie gerade telefoniert hatte, noch Kontakt zur Realität besitzt. „In einer anderen Welt“, zitiert sie die New York Times. Der Moskauer Politologe Stanislaw Belkowski erklärte Putin gar für „hypertoxisch schizophren“, für größenwahnsinnig: Nachdem Putins Olympia wider alle Befürchtungen ohne Terroranschläge und Stadioneinstürze und sogar mit einem sensationellen russischen Sieg in der Medaillenwertung endete, habe der Präsident beschlossen, er sei allmächtig.
Tatsächlich mag Putin in Sotschi getobt haben. Aber nicht aus Größenwahn, sondern aus Zorn, dass ausgerechnet die prowestliche Revolution in Kiew seinen Spielen die Show stahl. Schützenpanzer, die im Hagel von Molotowcocktails in Flammen aufgingen. In der zweiten Woche der Spiele nahmen immer mehr Fernsehteams den Direktflug Sotschi-Kiew. Aber bei allem olympischen Frust, ist das, was jetzt in der Ukraine passiert, kein schizophrener Amoklauf Wladimir Putins.
Es ist sein Plan B für den schon lange absehbaren Fall, dass das Regime seines Vasallen Viktor Janukowitschs in Kiew zusammenbricht. Ein durchdachter, sehr flexibler Plan: Wir legen mit einer Invasion auf der Krim los, da stehen praktischerweise schon Truppen der russischen Schwarzmeerflotte, da sind 58% der Einwohner ethnische Russen, mit Widerstand ist kaum zu rechnen. Gleichzeitig heizen wir prorussische Proteste in der Südostukraine an, in Lugansk, Charkow, Donezk und Odessa. Wenn nötig, karren wir auch ein paar Hundert Schläger mit Autobussen über die Grenze, wie in Charkow geschehen. Wir schüren in möglichst vielen ukrainischen Regionalhauptstädten Unruhen, die uns dann den Vorwand liefern, Bodentruppen hinterher zu schicken. Die lassen wir schon einmal an der ukrainischen Grenze aufmarschieren.
Wladimir Putin ist nicht Adolf Hitler
Die Weltöffentlichkeit sucht nach historischen Vergleichen. Steht das Kidnapping der Krim in der Tradition der sowjetischen Militärschläge gegen Finnland 1940, die Tschechoslowakei 1968 oder Afghanistan 1979? Ist sie eher mit Österreichs „Anschluss ans Großdeutsche Reich“ 1936 zu vergleichen? Oder stellt sie gar eine Neuauflage von Hitlers Einmarsch in Sudetendeutschland 1938 dar, wie der frühere tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg behauptet. Schließlich verkünde Putin, man wolle Volksgenossen vor dem Hass ihrer Nachbarn schützen, wie damals Hitler.
Ohne Zweifel verfolgt Putin in der Ukraine ein Projekt mit Reichsgedanken – erklärtermaßen will er möglichst viele frühere Sowjetrepubliken zu einem neuen eurasischen Imperium sammeln. Aber 2014 ist nicht 1938, Russland nicht das Dritte Reich und Wladimir Putin nicht Adolf Hitler. Putins Pragmatismus ist geradezu berüchtigt, er kann mit Hitlers Rassenhass oder Volk ohne Raum-Phantasien nichts anfangen. Überhaupt, das Zeitalter der Ideologien ist auch in Moskau vorbei, Putins bisher tragfähigstes imperiales Konstrukt hat er banal „Zollunion“ getauft, Mitglieder sind außer Russland die Nachbarautokratien Kasachstan und Weißrussland, Kandidaten die ärmlichen Kleinstaaten Armenien und Kirgistan, Kandidat hätte auch die viel gewichtigere Ukraine werden sollen.
So hat der Vergleich mit Prag 1968 ebenfalls seine Berechtigung, als Moskaus Militärkolonnen einen anderen Wackelkandidaten, die Tschechoslowakei wieder einfingen. Putin, Jahrgang 1952, lernte schon als Teenager, dass Staatsräson alle internationalen Normen sticht. Und dass jede Lüge Wahrheit wird, wenn man nur genügend Panzer hinterher schickt. Putin wuchs in einem Imperium auf, zu dem auch die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik gehörte, die formal ein souveräner Staat war, sogar einen Sitz in der UN-Vollversammlung besaß. Die aber alle Sowjetrussen als Kernlandschaft ihrer so monumentalen Heimat betrachteten. Wenn Putin Obama oder Merkel jetzt am Telefon erklärt, die Ukraine gehöre in seine Einflusssphäre, steht Überzeugung dahinter.
Putin hat nicht nur den Fall der DDR miterlitten, sondern auch den Zusammenbruch der „unzerstörbaren Union der Sowjetrepubliken“, wie die später von ihm wieder eingeführte Nationalhymne der UdSSR so beschwörend dröhnte. Danach aber hat er den neurussischen Kapitalismus kennen und nutzen gelernt, erst als Handelsbeamter der Petersburger Stadtregierung, später als Staatschef. Ein sehr businessträchtiger Geschäftsmann, dem in seinen ersten Amtsjahren die Übernahme von privaten Ölfirmem wie Michail Chodorkowskis Yukos durch den Staatskonzern Rosneft wichtiger war als das Abdriften postsowjetischer Marginalrepubliken wie Moldawien oder Aserbaidschan.
Auch sein neuer Imperialismus funktioniert sehr kapitalistisch: Für Militärbasen und Gefolgschaft zahlt er Tadschikistan und Kirgistan fürstliche Platzmieten. Aber als sich 2010 in der kirgisischen Großstadt Osch ethnische Kirgisen und Usbeken gegenseitig abschlachteten, schickte Putin keinen einzigen Soldaten, um die russische Minderheit vor Ort zu schützen. Als Ordnungsmacht fühlt sich Russland nur dort zuständig, wo es sich geopolitisch lohnt. Wie 2008, als die russische Armee einen Angriff der Georgier auf ihrer Rebellenrepublik Südossetien blutig abwehrte. Oder wie jetzt auf der Krim, wo allerdings die einzigen Angreifer die Russen selbst sind. Die Rettung der Ukraine vor der Vereinnahmung durch die EU ist das zentrale imperiale Projekt Putins.
Der Nervenkrieg
Ein Öl- und Gaszar, dessen alte Datschennachbarn es zu Milliardären brachten. Und der selbst sehr neureiche Vorlieben entwickelte. Er beschaffte sich und Russland eigene Olympische Winterspiele, steckte in 7 Jahren über 50 Milliarden Dollar hinein, „um der Welt das neue, moderne Russland zu zeigen“. Aber 55 Milliarden Dollar ließ er sich allein 2013 auch die Aufrüstung der russischen Streitkräfte kosten. Und ein paar Tage nach der Schlussfeier hat er die nächste, diesmal kriegerische, Leistungsshow gestartet. Putin, der Eroberer. Er selbst mag sich als Verteidiger sehen, als Verteidiger des verirrten Brudervolkes, das nach Ansicht der Russen noch immer zu ihrer Schicksalsgemeinschaft gehört. Oder, er ist ja Realist, als Verteidiger zumindest der russlandfreundlicheren Osthälfte der Ukraine, die einst als „Kleinrussland“ zum Zarenreich gehörte. Auch wenn man sie jetzt vielleicht besiegen muss, um sie zu retten.
Putin hat sich als Staatschef daran gewöhnt, dass der Westen viel mault, aber alles schluckt. Jetzt aber drohen ihm die USA mit wirtschaftlicher Isolation, schon am Montag stürzten die Moskauer Börsen ab, und Putins nächste große Party in Sotschi, der G-8 Gipfel im Juni könnte ausfallen, weil alle Gäste die Vorbereitungen auf Eis gelegt haben. In jenem Telefonat mit Merkel heuchelte Putin zumindest Einsicht, willigte ein, Fact-Finder und eine internationale Kontaktgruppe auf die Krim zu lassen. Heute Morgen ließ er ein Großmanöver im westlichen Militärbezirk, der an die Ukraine grenzt beenden und schickte über 150.000 Soldaten zurück in die Kaserne.
Aber der Nervenkrieg hält an, auf der Krim läuft Plan B: Putins Krieger belagern ukrainische Garnisonen. Und Regierungschef Dmitri Medwedjew kündigte den Bau einer monumentalen Brücke über die Meeresenge bei Kertsch an – zwischen Russland und der Krim. Klingt wieder größenwahnsinnig. Putin hat in den vergangenen Tagen jedenfalls erfolgreich etwas gegen sein Image als Realo getan.
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