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() Oswald von Nell-Breuning
Oswald von Nell-Breuning: Grundzüge der Börsenmoral wieder gelesen

Oswald von Nell-Breuningm veröffentlichte ein Jahr vor dem großen Crash 1929 eine sozialethische Untersuchung mit dem Titel: "Grundzüge der Börsenmoral". Eine Rückbetrachtung.

Die vollmundigen Bekenntnisse zur Selbststeuerung der Finanzmärkte und zum schlanken Staat als dem besten aller möglichen Staaten sind schlagartig verdampft. Stattdessen breiten sich eine depressive Stimmung sowie eine öffentliche Empörung über die maßlose Gier der Manager und die fehlende Moral an den Börsen aus. Vielfach wird die Dramatik der Finanzkrise auf den Börsenkrach des Jahres von 1929 bezogen. Und einzelne erinnern sich daran, dass ein Jahr vor diesem Börsenkrach der so genannte Nestor der katholischen Soziallehre, der Jesuit Oswald von Nell-Breuning, eine sozialethische Untersuchung mit dem Titel: "Grundzüge der Börsenmoral" veröffentlicht hat. Oswald Nell Breuning war die ganze Zeit seines Lebens in der katholischen Kirche zu Hause. Aber sein Denken und Empfinden lebte "an der Grenze" zwischen einer traditionellen Kirche und der modernen Wirtschafts- und Arbeitswelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er vorwiegend als "Freund der Gewerkschaften" bekannt, als einer, der seinen Lebenszweck darin sah, den unseligen Graben zwischen einer bürgerlichen Kirche und der Arbeiterschaft zu überbrücken. Dabei respektierten sehr viele seine wirtschaftliche Kompetenz und sein Vermögen, sich in äußerst komplexe Sachverhalte einzufühlen. Diese Fähigkeit hat zweifellos damit zu tun, dass der Beginn seiner Karriere als "politischer Intellektueller" mit einer scharfsinnigen Untersuchung über das Börsengeschehen begann. Wer in diesem Buch liest, das 2002 im LIT-Verlag nachgedruckt worden ist, mag sich auf vielen Seiten über eine fremde Ausdrucks- und Argumentationsweise wundern. Eine Prinzipienethik, die aus der so genannten Natur der Sache moralische Normen ableitet, eine scholastische Debatte über den gerechten Preis, die Annahme eines objektiv vorgegebenen Sachziels der Wirtschaft oder die Vorstellung eines Staates, der als Hüter des Gemeinwohls über den privaten Interessen wacht und die ausschließliche Kompetenz beansprucht, verbindliche Regeln für die Finanzgeschäfte zu setzen, klingen heutzutage wie aus einer anderen Welt. Dennoch regt die vorliegende Textauswahl zu einigen nachdenklichen Reflexionen an. Die Wirtschaft, das Geld und die Börse bieten für Nell-Breuning keinen Grund, angehimmelt oder verdammt, sakralisiert oder dämonisiert zu werden. Sie sind geniale Erfindungen der Menschen, religiös gesprochen: Gottes gute Schöpfung. Dies gilt auch und gerade für die Einrichtungen, die zum Kapitalismus dazu gehören wie das Wasser zum Meer. Denn ohne Börse kein Kapitalismus. Die arbeitsteilige, marktwirtschaftlich und erwerbswirtschaftliche Wirtschaft sowie das Gewinnstreben stehen für Nell-Breuning nicht zur Disposition, selbst nicht die kapitalistische Wirtschaftsweise, die er gegen einen Kapitalismus als ein gesellschaftlich asymmetrisches Machtverhältnis abgrenzt. Sowohl die Technik als auch das Funktionsgerüst der Börse hält er zunächst für indifferent, nicht in sich schlecht. Sie können nützlich sein, aber auch großen Schaden anrichten. Die politisch Verantwortlichen sind aufgefordert, nicht bloß auf das tugendhafte Handeln der Spieler an der Börse zu setzen, sondern faire Spielregeln zu vereinbaren, die das Handeln der Spieler steuern und aufeinander abstimmen. Das Interesse einer sozialethischen Reflexion richtet sich zuerst darauf korrumpierte Regeln zu kritisieren, nicht darauf, am Fehlverhalten der Individuen herum zu mäkeln. Die Rekonstruktion einer stabilen und beteiligungsgerechten Finanzarchitektur ist vordringlicher als eine spontane, blinde und übertriebene staatliche Intervention, um die Unfallstelle zu räumen. Denn sobald das Feuer der Krise gelöscht ist und der Rauch sich verzogen hat, wird der Brandschutz zur erstrangigen Aufgabe. Die Finanzmärkte und auch die Börse sind kein moralfreier Raum. Die Ansichten Niklas Luhmanns oder Friedrich A. von Hayeks, dass moderne Gesellschaften die früher inhaltlich geltenden moralischen und religiösen Bindungen abgestreift und durch formale Verfahren ersetzt hätten, würde Nell-Breuning zurückweisen. Funktional ausdifferenzierte Teilsysteme, die gemäß binärer Codes operieren, mögen zwar durch eine moralische Kommunikation irritiert werden. Aber die Störanfälligkeit eines Wirtschaftssystems, das mit Folgeproblemen der Ökologie und der sozialen Gerechtigkeit konfrontiert wird, belegt, dass es - vermittelt über die wirtschaftlichen Akteure - für Signale jenseits der eigenen Grenzen sensibel ist, also gerade nicht moralfrei. Dass allerdings weder die Moral gegenüber der Wirtschaft noch diese gegenüber der Moral sich imperial gebärden dürfen, ist Nell-Breuning bewusst. Die ökonomischen Regelkreise haben nämlich eine relative Eigenständigkeit, die durch Kanzelreden und moralische Appelle nicht außer Kraft gesetzt wird. Und diejenigen, die Moral predigen, müssen lernen, die systemischen Rückkopplungen wahrzunehmen und zu respektieren. Die Finanzmärkte erwecken zwar heutzutage den Anschein, als hätten sie sich von der Realwirtschaft relativ abgekoppelt, als sei die Finanzkennziffer des "shareholder value" der ausschließliche Maßstab für den Erfolg eines Unternehmens und als seien das Interesse der Kapitaleigner oder die Orientierung am Börsenkurs die einzige Orientierungsmarke für die Geschäftspolitik der Manager. Finanzexperten haben noch vor wenigen Wochen heftig bestritten, dass das Bankensystem ein Mandat hätte, der Lebensqualität der Bevölkerung und besonders der Armen in der Gesellschaft zu dienen. Demgegenüber beurteilt Nell-Breuning die finanziellen Transaktionen der Händler und Manager sowie die Institutionen der Börse und des Bankensystems danach, ob sie einen gesamtwirtschaftlichen Nutzen stiften, ob sie die unternehmerische bzw. volkswirtschaftliche Wertschöpfung steigern, und ob sie die Funktion der Wirtschaft insgesamt erfüllen, nämlich die Bedürfnisse von Verbrauchern zu befriedigen und sinnvolle Arbeitsplätze zu schaffen. Offenkundig sind die Geldversorgung und die Geldwertstabilität ein öffentliches Gut und nicht mit der Summe des Rendite- und Risikomanagements privater Finanzunternehmen gleichzusetzen. Selbst die Börsenspekulation unterliegt einer solchen Orientierung: Stiftet sie einen volkswirtschaftlichen Nutzen, etwa indem sie übertriebene Kursausschläge glättet, ist sie vertretbar. Treibt sie solche Kursschwankungen ausschließlich im eigenen Profitinteresse auf die Spitze, ist sie verwerflich. Nell-Breuning kann sich zwar mit der liberalen Idee anfreunden, dass der Eigennutz der Leistungsstarken eine mächtige Triebkraft dafür ist, den Wohlstand weiter Kreise der Bevölkerung zu heben. Aber gleichzeitig würde er die Vermutung als wirklichkeitsfremd abtun, dass der Wohlstand und das Glück aller wie von einer unsichtbaren Hand erreicht werden, wenn nur jeder unbeirrt seinen individuellen Vorteil anstrebt. Folglich sieht er jedes wirtschaftliches Handeln, das über knappe Mittel verfügt, um bestimmte Ziele zu erreichen, an moralische Normen gebunden. Jedes Wirtschaftssystem ist für ihn in gesellschaftliche Verhältnisse und diese wiederum sind in das Naturverhältnis eingebettet. Mögen marktradikale Ökonomen etwa auf die Selbstheilungskräfte des Marktes pochen, der rechtliche Rahmen etwa der Vertragsfreiheit und des Privateigentums unterliegen selbst nicht dem Wettbewerb und der freien Preisentwicklung, sondern einer gesellschaftlich verbindlichen Übereinkunft. So gilt auch für die heutige Börse, was der frühere Limburger Bischof, Franz Kamphaus in ein anschauliches Bild gefasst hat: Im Mittelalter war der Dorfplatz umgeben von der Kirche und der Schule, von einem Krankenhaus und dem Rathaus. Ohne diese gesellschaftlichen Einrichtungen hätte es keinen Markt gegeben.

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