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() Michail Chodorkowski und sein Yukos-Partner Platon Lebedev hinter Gittern..

Russlands Oligarchen - Am Anfang war die Gier

Für den Erhalt des Putin’schen Machtapparats ist die dauerhafte Inhaftierung von Michail Chodorkowski unverzichtbar. Die russischen Oligarchen tragen aber eine Mitschuld an ihrer derzeitigen Situation, weil sie den Aufbau unabhängiger Gerichte von Anfang an behindert haben.

Zwei Monate hat Natalja Wassiljewa mit sich gerungen, bevor sie an die russische Öffentlichkeit ging. Dann traute sich die Assistentin von Viktor Danilkin, dem Richter des zweiten Chodorkowski-Prozesses, das zu sagen, was ohnehin schon die ganze Welt zu wissen glaubte: dass ihr Chef vor der Urteilsverkündung massiv unter Druck gesetzt worden sei, das Urteil nicht von ihm, sondern von der nächst höheren Instanz geschrieben und von ganz oben beeinflusst worden sei. Überraschend war dabei nicht der Inhalt ihrer Vorwürfe, sondern dass erstmals ein Gerichtsinsider sie bestätigt hat.

Michail Chodorkowski, dem ehemaligen Chef des Ölkonzerns Yukos, und Platon Lebedew, dem Finanzvorstand des Unternehmens, helfen die Äußerungen wenig, zumal Danilkin und alle beteiligten staatlichen Stellen die Vorwürfe umgehend dementierten. Nach dem zwischen Weihnachten und Neujahr 2010 von Danilkin verkündeten Urteil stehen den beiden Gefangenen zusätzlich zu ihrer bisherigen Strafe sieben weitere Jahre in Haft bevor.

Auch wenn der juristische Gehalt des „zweiten Chodorkowski-Prozesses“ praktisch belanglos ist, ist die Bedeutung der soziologischen und politischen Aspekte für die Zukunft Russlands kaum zu unterschätzen. Für die Erhaltung des Systems Putin ist ein inhaftierter Chodorkowski zur Überlebensvoraussetzung geworden. Akribisch wird bereits Material für ein drittes Verfahren gegen den ehemaligen Oligarchen gesammelt. Die Rollen von „gut“ und „böse“ haben sich im Laufe des seit 2003 andauernden Verfahrens vertauscht. Ein Rückblick zeigt, dass Chodorkowski und die anderen Oligarchen an ihrer jetzigen Situation nicht ganz unschuldig sind, weil sie zu lange den Aufbau unabhängiger staatlicher Institutionen behinderten.

Dass die „Bösen“ momentan eher im Kreml sitzen, zeigen schon die zahlreichen juristischen Widersprüche des jüngsten Urteils. Noch entscheidender ist aber, dass schon die dem Urteil zugrunde liegende Logik erhebliche Zweifel aufwirft, indem sie Chodorkowski und Lebedew unterstellt, beide Vorstände und Yukos-Großaktionäre zum damaligen Zeitpunkt, sich selbst Öl entwendet zu haben. Danach wäre beinahe jede Tätigkeit im Zusammenhang mit der Erzielung von Gewinnen, insbesondere jede Geschäftstätigkeit, kriminell. Handlungen, die jeder Geschäftsmann vornimmt: die Auswahl von Lieferanten und Firmen für den Absatz des eigenen Produkts, die Optimierung der Produktion und die Ausrichtung der Firma auf eine Minimierung der Steuerlast, sind den Gerichtsbeschlüssen im „Fall Yukos“ zufolge an sich schon strafbar. Nach diesem Muster ließe sich der Chef eines jeden Unternehmens verurteilen. Die russische Öffentlichkeit nahm den zweiten Prozess daher von Anfang an weit weniger enthusiastisch auf als den ersten vor sechs Jahren. Während nach dem ersten Urteil 2005 eine große Mehrheit in Russland bei Meinungsumfragen angab, sie glaubten an die Schuld Chodorkowskis und die Unabhängigkeit des Gerichts, ist es heute eher umgekehrt.

Das ist insofern von Bedeutung, als die öffentliche Meinung im „Fall Yukos“ von Anfang an eine weitaus wichtigere Rolle als die rechtlichen Aspekte des Verfahrens gespielt hat. Erhebliche Ressourcen beider Seiten (sowohl der Regierung Putin als auch der ehemaligen Yukos-Aktionäre) wurden und werden für die „begleitende Berichterstattung“ ausgegeben. Die gegenwärtige politische Führung Russlands braucht im „Fall Yukos“ zwingend die Unterstützung der öffentlichen Meinung, weil sie untrennbar mit der Unterstützung für Putins Kurs insgesamt verbunden ist. Für einen Kurs, der erst durch den Sieg über Chodorkowski möglich wurde, einen Sieg vor allem in der öffentlichen Meinung und, in der Folge, auch bei der Parlamentswahl im Dezember 2003.

Die Parlamentswahl des Jahres 2003 ist die wichtigste Wegscheide der jüngsten russischen Geschichte. Es war die letzte Wahl, die grundlegenden demokratischen Standards entsprach; bei späteren Wahlen kam es immer wieder zu massivem Wahlbetrug bei der Auszählung der Stimmen, wie zahlreiche Zeugenaussagen belegen. Die Wahl 2003 fand einen Monat nach Chodorkowskis Verhaftung statt. Die Parteien, die sich zur Wahl stellten, vertraten unterschiedliche Positionen zur Verhaftung selbst wie auch zum gesamten Programm der „Renationalisierung der russischen Energiewirtschaft“. Durch den klaren Sieg der Putin-Partei „Einiges Russland“, der Niederlage all jener Parteien, die Chodorkowski unterstützt hatte –, wurde seine Verhaftung durch Volkes Stimme bestätigt. Putin erhielt einen Freibrief für die Enteignung von Yukos und die Verstaatlichung weiterer Unternehmen. Die Regierung spielte seitdem eine dominierende Rolle in der Wirtschaft, und Putin verkörperte die Hoffnungen der russischen Bürger auf eine Revision der Privatisierungsergebnisse des vorangegangenen Jahrzehnts.

Entgegen der auch in Russland weitverbreiteten Meinung haben die meisten russischen Oligarchen, die in dieser Phase zu Milliardären wurden, ihre ersten Millionen nicht mit der Privatisierung von Staatsunternehmen verdient, sondern durch verschiedene Formen von Arbitragemodellen – da die Preise, die während der sowjetischen Planwirtschaft festgeschrieben waren, in den ersten Jahren der wirtschaftlichen Reformen nur allmählich freigegeben wurden. Dadurch gab es zeitweilig ein Nebeneinander von niedrigen und hohen Preisen für ein und dieselbe Ware. Das machten sich die Oligarchen zunutze, indem sie Produkte bei einem Staatsbetrieb zu niedrigen Preisen einkauften, um sie auf dem Markt teuer weiterzuverkaufen. Die Erteilung von Sonderlizenzen für den Export von Öl oder Metall und den Import von Verbrauchsgütern war eine weitere Möglichkeit für Arbitragegeschäfte. Illegal waren diese Geschäfte nicht. Die angehenden Oligarchen nutzten lediglich die damaligen Verhältnisse zu ihren Gunsten aus.

Nichtsdestotrotz gehen die Vorbehalte der russischen Bevölkerung gegenüber Chodorkowski und Co auf die Zeit der Privatisierung zurück, in der zwischen den Jahren 1994 und 1996 die größten Industrieaktiva des Landes in private Hände gelangten. Das betraf vor allem Gesellschaften aus dem Energie- und Rohstoffsektor. Für Putin waren diese Vorbehalte die politische Grundlage für die Zerschlagung und Verstaatlichung von Yukos.

Dabei war das eigentliche Problem nicht die Privatisierung, sondern das Fehlen unabhängiger, staatlicher Institutionen, die für das Funktionieren einer Marktwirtschaft unerlässlich sind. In den neunziger Jahren sah die allgemeine Vorstellung von der Privatisierung in Russland folgendermaßen aus: Die Planwirtschaft hatte ein Fiasko erlitten, der Zerfall der Sowjetunion unterstrich nur noch das Ausmaß des wirtschaftlichen Zusammenbruchs, der sich infolge der Ablehnung eines kapitalistischen Wirtschaftssystems vollzogen hatte. Um auf den Weg in Richtung Marktwirtschaft einzuschlagen, bedurfte es der richtigen Institutionen: Man benötigte schnell und effizient arbeitende Gerichte, die Handelsstreitigkeiten, aber auch Zivilrechtssachen entscheiden konnten, nicht korrupte Behörden für die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen (allen voran die Polizei) und politisch unabhängige Regulierungsbehörden. Woher aber sollten diese Institutionen kommen? Die Wirtschaftsfachleute, die seinerzeit die Reformen in den ehemals sozialistischen Ländern diskutierten, hegten keinerlei Zweifel daran, dass diese Institutionen gebraucht würden; allerdings gab es auch keine eindeutige Antwort auf die Frage, wie sie zu etablieren wären. Wo sollten die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze herkommen, nach denen Richter und Beamte der Regulierungsbehörden zu arbeiten hätten? Die vermeintlich überzeugendste Antwort lautete: Damit gute Institutionen entstehen können, wie sie für eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung unabdingbar sind, bedarf es einer „Nachfrage nach guten Institutionen“. Dafür brauchte man Wirtschaftssubjekte mit einem Bedarf an guten Institutionen für den Schutz ihrer Eigentumsrechte.

Andrei Shleifer, Harvard-Professor und Berater der russischen Regierung, schrieb 1994: „…es besteht vor einer Privatisierung schlichtweg kein politisches Interesse an einem Steuerungsmechanismus. Dieses Interesse entsteht erst während der Privatisierung, wenn Großaktionäre in die neuen Konzerne investieren und diese neuen Eigentümer von der Regierung verlangen, Corporate-Governance-Regeln zu erlassen und die Eigentumsrechte zu schützen… Der Übergang der Kontrollrechte von der Politik an private Unternehmer verleiht dem Prozess der Etablierung von Eigentumsrechten einen zusätzlichen Impuls, indem hier eine politische Nachfrage nach dem Schutz von Eigentumsrechten geschaffen wird.“ Nach dieser Logik wäre der Prozess der Privatisierung nicht so wichtig wie sein Resultat – gelangen Industrieaktiva in den Besitz privater Eigentümer, geht von diesen privaten Eigentümern eine Nachfrage nach Institutionen aus, die ihr Eigentum schützen. Solche Eigentümer könnten beispielsweise die „Gewinner der ersten Phase“ der Übergangsperiode sein, diejenigen also, die mithilfe aller möglichen Arbitragemodelle zu Geld kamen.

Die Erfahrungen der neunziger Jahre haben allerdings gezeigt, dass dieser einfache und auf den ersten Blick attraktive Mechanismus (Eigentümer – Nachfrage – Eigentumsrechte) überhaupt nicht funktioniert hat. Die neuen Eigentümer wandten ihr Geld und ihre Zeit nämlich nicht etwa dafür auf, das Parlament zu veranlassen, vernünftige Gesetze zu verabschieden und die Beamten dazu zu bringen, gleiche Spielregeln für alle gelten zu lassen. Ihre Bemühungen waren vielmehr einzig und allein darauf gerichtet, ihre Eigentumsrechte mithilfe korrupter staatlicher Behörden, allen voran der Polizei und der Staatsanwaltschaft, im Kampf gegen ihre direkten Konkurrenten zu sichern. Es kam ihnen überhaupt nicht in den Sinn, sich stattdessen für gleiche Spielregeln für alle einzusetzen.

Sehr bald schon wurde klar, dass es einer kleinen Zahl von natürlichen Personen, den sogenannten Oligarchen, gelungen war, sich die bereits bestehenden Insti­tutionen – Schiedsgerichte, Steuer- und Regulierungsbehörden – dienstbar zu machen. Sie nahmen die Hilfe dieser Behörden nicht zur Schaffung eines Mehrwerts in Anspruch, sondern lediglich zur Umverteilung der Reichtümer und Ressourcen zu ihren eigenen Gunsten. Das Resultat waren zehn Jahre wirtschaftlicher Stagnation und Rezession.

Es wirkt wie ein Treppenwitz der Geschichte, dass die Anwendung des Prinzips von Angebot und Nachfrage bei der Errichtung von staatlichen Institutionen beinahe doch noch funktioniert hätte, als zur Jahrtausendwende endlich eine Phase hohen Wirtschaftswachstums einsetzte. Für diesen Boom gab es mehrere Ursachen: das niedrige Ausgangsniveau im Jahre 1999 (der Output der Industrieproduktion war damals auf unter die Hälfte des Wertes von 1989 zurückgegangen), das Aufkommen neuer Wirtschaftsinstitutionen und Unternehmer in den neunziger Jahren sowie steigende Preise für Öl und andere russische Exportprodukte.

Zu diesem Zeitpunkt gehörten den russischen Oligarchen fast sämtliche Aktien der Unternehmen, die sie im Zuge der Privatisierung erhalten hatten. Von diesem Augenblick an war es für sie von Vorteil, zumindest die Qualität der Corporate Governance in ihren eigenen Unternehmen zu steigern, weil sie dadurch für andere Investoren attraktiver wurden. Das führte zum Anstieg des Aktienkurses und schuf Kapazitäten für zukünftige Investitionen. Im nächsten Schritt hätte dann die Lobbyarbeit zugunsten des Schutzes von Eigentumsrechten einsetzen müssen.

Chodorkowski wurde es zum Verhängnis, dass er genau das vorhatte. Im Januar 2003 wandte er sich während einer Sitzung des Staatsrats mit einer Frage zu einem gerade erst von der Regierung abgewickelten Geschäft direkt an Putin, der damals noch Präsident war. Allem Anschein nach wies dieses Geschäft ein deutlich ausgeprägtes „Korruptionselement“ auf, offenbar hatte die Regierung für ein zu verstaatlichendes Vermögen deutlich mehr gezahlt als es wert war; irgendwelche Beamten hatten einen Teil dieser „zusätzlichen“ Gelder zurückerhalten und das Geld so aus dem Haushalt in ihre eigenen Taschen transferiert. Mit dieser Frage machte sich Chodorkowski zum Erzfeind von Wladimir Putin, und gleichzeitig begann eine neue Etappe in der russischen Politik. Nun hatten die Beamten und die Regierung überhaupt kein Interesse mehr an einem funktionierenden Rechtsstaat. Die Oligarchen wurden die korrupten Geister, die sie gerufen hatten, nicht mehr los.

Nach den Parlamentswahlen des Jahres 2003 nahm das Schicksal seinen Lauf. Sie waren der Ausgangspunkt für zwei parallel laufende Prozesse: die Vernichtung der Firma Yukos und die Zerstörung des demokratischen Systems der staatlichen Verwaltung. Im Ergebnis gelangten fast sämtliche Vermögenswerte von Yukos in den Besitz von Kapitalgesellschaften, die der Regierung sehr nahe stehen, während sich die ehemaligen Besitzer im Gefängnis oder in der Emigration wiederfanden. Sieben Jahre später kann man das politische Ergebnis dieser Entwicklung sehen: Die Gouverneurswahlen und de facto auch die Bürgermeisterwahlen sind abgeschafft. Die Duma, das russische Parlament, spielt im politischen Prozess keine Rolle mehr. Bei der Wahl 2007 hatten die Fälschungen aber bereits ein solches Ausmaß erreicht, dass von einer repräsentativen Vertretung ohnehin nicht mehr die Rede sein konnte. Mangels politischer Rechenschaftspflicht der Exekutive ist das Korruptionsniveau deutlich angestiegen, während die staatliche Verwaltung immer ineffizienter arbeitet.

Man könnte meinen, dass kein direkter Zusammenhang zwischen dem Yukos-Fall und dem parallel verlaufenden Zerfall des Systems der staatlichen Verwaltung besteht. Gleichwohl waren diese beiden Prozesse eng miteinander verbunden. Im ersten Jahr nach der Verhaftung Chodorkowskis wurde der Kampf um die öffentliche Meinung noch in den Medien geführt. Sehr bald schon wurde aus diesem Kampf ein Kampf der Staatsorgane gegen die unabhängige Presse. Im Jahre 2005 sah sich Putin gezwungen, einer leistungsstarken Gruppe von Anwälten des Oligarchen im ersten Chodorkowski-Prozess etwas entgegenzusetzen. Das wichtigste Instrument bestand faktisch darin, den Gerichten, angefangen bei den Gerichten auf kommunaler Ebene bis hin zum Obersten Gerichtshof, ihre Unabhängigkeit zu nehmen. Heute, im Jahr 2011, lässt sich sagen, dass es in Russland kein Gericht mehr gibt, das nicht direkt von der politischen Führung des Landes abhängig wäre. Der Umstand, dass es Putin nicht gelungen ist, die eigene Popularität in eine Popularität der von ihm unterstützten politischen Parteien umzumünzen, hat dazu geführt, dass der Kampf um die Macht faktisch zu einem Kampf mit den Institutionen, die den politischen Wettbewerb sichern, geworden ist. Zum triumphalen Schlusspunkt dieses Kampfes wurde die Tatsache, dass es Putin gelang, seine Macht auch nach dem Ende der zwei verfassungsgemäß vorgeschriebenen präsidialen Amtszeiten im Jahr 2008 durch den Wechsel auf den Posten des Ministerpräsidenten in vollem Umfang zu erhalten.

Putins Kampf gegen Chodorkowski, der bis heute andauert, beschert dem russischen Spitzenpolitiker keine Popularitätszuwächse mehr. Kaum jemand glaubt, dass sich die Haftstrafen, zu denen die Yukos-Chefs 2010 verurteilt wurden, auf Straftaten beziehen, die diese tatsächlich begangen haben. Und doch festigt die Unrechtmäßigkeit des Urteils paradoxerweise Putins Macht. Genauer gesagt, wird die Unrechtmäßigkeit erst dadurch für ihn persönlich zur Lebensnotwendigkeit.

Übersetzung: Steffen Beilich

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