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(picture alliance) Sie haben es bis nach Lampedusa geschafft.

Flüchtlinge - Europas unsinnige Angst

Es hört einfach nicht auf. Sie kommen weiter über das Meer, die Flüchtlinge aus Tunesien, Äthiopien oder Libyen. Auf dem Weg hierher stürzen Sie über Bord, sie ertrinken im Meer, ihre Kinder verdursten auf halber Strecke. Europa könnte handeln – wäre da nicht unsere Furcht.

Es ist schon bizarr. Auf der einen Seite machen Arbeitsministerin Ursula von der Leyen und Kollegen dieser Tage wieder Schlagzeilen mit noch so ausgefallenen Ideen, den Fachkräftemangel in der Bundesrepublik zu bekämpfen. Auf der anderen Seite ragen die Mauern der Festung Europa hoch in den Himmel und aus der Brandung des Mittelmeeres dröhnen noch immer die Hilfeschreie der ankommenden Flüchtlinge. Es ist, als hätten die beiden Dinge nichts miteinander zu tun. Und dabei liegt der Zusammenhang doch eigentlich auf der Hand: Seit dem ersten Mai, dem Tag an dem die Arbeitnehmerfreizügigkeit einsetzte, werden Esten, Letten, Litauer, Polen, Slowaken, Slowenen, Tschechen und Ungarn – zumindest offiziell – mit offenen Armen von der Bundesrepublik empfangen. Von wirtschaftlicher Seite erklingen Beteuerungen darüber, wie sehr der Zuzug der Arbeitskräfte aus dem Osten den deutschen Arbeitsmarkt bereichern könnte. Trotzdem warnen die üblichen Verdächtigen wie Wolfgang Bosbach (CDU), Vorsitzender des Innenausschusses im Bundestag, und CSU-Innenpolitiker Hans-Peter Uhl, stoisch vor dem Zuzug von Ausländern. Und die vielen Sarrazin-Leser in unserem Land glauben ihnen nur zu gerne, wenn sie von den Gefahren für ihren Arbeitsplatz hören. Mit diesem Rauschen im Hintergrund aber lassen sich kaum politische Weichen stellen, um Flüchtlingen, die auf der Mittelmeerinsel Lampedusa einigermaßen lebend ankommen, zu helfen. „Ein Absenken der Hürden für die Zuwanderung von Nicht-EU-Ausländern auf den deutschen Arbeitsmarkt steht nicht auf der schwarz-gelben Agenda", konstatierte Uhl kürzlich in der Neuen Osnabrücker Zeitung. Sigmar Gabriel (SPD) spricht dagegen vom „Geschachere um ein paar tausend Flüchtlinge, die auf die 27 EU-Mitglieder verteilt werden können“. Und auch Markus Löning (FDP), Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung im Auswärtigen Amt, sieht das anders. Im Interview mit Cicero Online sagt er, dass panische Äußerungen die Angst in der Bevölkerung anheizen würden. „Ich halte d as für unverantwortlich.“ Er könne die Panik auch nicht verstehen. „Wir sind 500 Millionen Europäer. Und wir sind in der Lage, 20.000 oder auch ein paar Tausend mehr tunesische oder ägyptische Flüchtlinge aufzunehmen. Bei unserer Arbeitsmarktsituation sollten Arbeitskräfte eigentlich Willkommen sein“. Löning wirbt dafür, weitere Kanäle legal zu öffnen, um den Migrationsdruck an den Grenzen zu nehmen. Denn die Nachrichten von der Grenzfront sind schaurig. Es ist, als machten die Flüchtlinge vom nordafrikanischen Kontinent jetzt ihre eigene grausige PR-Arbeit aus dem Mittelmeer. Vor einer Woche kenterte ein Boot kurz vor der Ankunft auf Lampedusa. An Bord wurden etwa 600 Menschen vermutet. Mindestens 16 Leichen wurden geborgen, die meisten werden noch vermisst. Ein paar Tage später berichtete der Guardian von 61 Menschen, die in ihrem Flüchtlingsboot im Mittelmeer verdurstet sein sollen. Im Bericht ist von dem französischen Rettungshubschrauber Charles de Gaulle die Rede, der den Menschen Wasser und Brot in das Boot warf, Hilfe versprach und nie wiederkam. Von der französischen Regierung kamen nur halbherzige Dementi. Was auch immer an den Verfehlungen des Militärs dran ist, wie auch immer die grausigen Szenen im Mittelmeer aussehen, die sich jeden Tag dort ereignen. In diesem Fall starben der größte Teil der 72 Personen, unter ihnen 47 Äthiopier, sieben Nigerianer, sieben Eriträer, sechs Ghanaer und fünf Sudanesen während ihrer versuchten Flucht in die heiß ersehnte Freiheit. Zwanzig von ihnen waren Frauen, zwei kleine Kinder waren dabei, eines gerade ein Jahr alt. Abu Kurke, ein 24-jähriger Überlebender aus Äthiopien berichtete später, wie die Menschen auf dem Boot die zwei hungernden Kinder in die Luft hielten, damit sie von dem Helikopter aus gesehen würden. Er erzählte, wie die Kleinen ihre Eltern nur um ein paar Tage überlebten, weil die Überlebenden ihnen eine Flasche mit Wasser aufgehoben hatten. „Aber nach zwei Tagen starben auch die Kinder. Sie waren zu klein. Jeden Morgen wachten wir auf und fanden mehr Körper, die wir 24 Stunden liegen ließen und dann über Bord schmissen. In den letzten Tagen erkannten wir uns selbst nicht mehr… jeder von uns war entweder dabei zu beten – oder zu sterben.“ Am Ende blieben elf Menschen übrig. Sie wurden an der libyschen Küste an Land geschwemmt. Dort nahmen sie die Truppen Gaddafis in Gefangenschaft. Geschichten wie diese finden sich immer wieder in den europäischen Medien. Die meisten Schicksale aber, die zwischen dem afrikanischen und dem europäischen Kontinent enden, bleiben unerzählt. Die Politik hätte die Möglichkeit, der europäischen Bevölkerung die Angst vor den Menschen in den Booten zu nehmen. Wir haben genug Platz. Und wir brauchen Arbeitskräfte. Daniel Cohn-Bendit, der für die französischen Grünen im Europaparlament sitzt, hat in der vergangenen Woche in Straßburg eine sehr emotionale Rede gehalten. Von 25.000 flüchtenden Tunesiern sei die Rede, von Kriminellen in den Flüchtlingsbooten, die in unsere Länder wollen. Cohn-Bendit wetterte, die Kriminellen kämen über andere Kanäle, sie seien längst da und rechnete weiter vor, dass man die 25.000 Menschen sehr wohl auf 540 Millionen Europäer verteilen könne. „Sie werden mir nicht sagen, das sei ein großes Problem“, rief er in die Runde. Das Europäische Parlament antwortete mit lautem Beifall.

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