- Karl Otto Hondrich: Weniger sind mehr
Es ist inzwischen eine Binsenweisheit: Deutschland schrumpft. Denn immer mehr Deutsche wandern aus, und die, die bleiben, zeugen immer weniger Kinder. In der gesamten Europäischen Union bekommen die Frauen im Durchschnitt 1,5 Kinder, während in den Vereinigten Staaten die Geburtenrate bei 2,1 Kindern liegt. Dieser Unterschied hat erhebliche Folgen, meinen Demografen – und Wirtschaftswissenschaftler: Das Wachstum in der EU werde in den kommenden Jahrzehnten nur halb so hoch sein wie in den USA.
Es ist inzwischen eine Binsenweisheit: Deutschland schrumpft. Denn immer mehr Deutsche wandern aus, und die, die bleiben, zeugen immer weniger Kinder. In der gesamten Europäischen Union bekommen die Frauen im Durchschnitt 1,5 Kinder, während in den Vereinigten Staaten die Geburtenrate bei 2,1 Kindern liegt. Dieser Unterschied hat erhebliche Folgen, meinen Demografen – und Wirtschaftswissenschaftler: Das Wachstum in der EU werde in den kommenden Jahrzehnten nur halb so hoch sein wie in den USA. Und so empfehlen Ökonomen der Politik Maßnahmen wie diese: Weiterentwicklung des Elterngeldes, Ausbau der Kindertagesbetreuung, steuerliche Absetzbarkeit von Betreuungskosten, familienunterstützende Dienstleistungen, Verkürzung der Ausbildungszeiten, mehr Ganztagsschulen. Doch Bevölkerungspolitik dieses Typs kann man nun mit Karl Otto Hondrich, dem 2007 verstorbenen Frankfurter Soziologen, für unnötig halten. Denn Hondrich sieht, wie in seinem posthum veröffentlichten Buch zu lesen ist, im deutschen Geburtenrückgang keinen Fluch, sondern einen Segen. Mit Blick auf Deutschlands Nachbarn Frankreich warnt er in «Weniger sind mehr» vor den Folgen kinderreicher Gesellschaften: Die Jugendarbeitslosigkeit ist unter den Franzosen durchgehend doppelt so hoch wie unter den Deutschen; in den Vororten der Großstädte erreicht sie 40 bis 50 Prozent. Hondrich weist auf das Sicherheitsrisiko hin, das nicht durch zu wenig, sondern durch zu viel Nachwuchs entsteht: In Gesellschaften, die reich an enttäuschten und frustrierten Jugendlichen sind, ist der Schritt in die Gewalt vorgezeichnet. Hondrich traut der Bevölkerungspolitik zwar zu, die Geburtenraten hochzuhalten. Doch wenn sie Erfolg habe, überfordere das politische System sich oft selbst. Denn dessen Macht reiche in der Regel nicht aus, um für die heranwachsenden Jugendlichen auch Arbeitsplätze zu schaffen. Am Ende seines bedenkenswerten und brillant komponierten Essays macht Hondrich auf das eigentliche Dilemma staatlicher Geburtenpolitik aufmerksam: Ihr gewichtigster Misserfolg könnte gerade in ihrem Erfolg liegen – wenn er etwa, wie in Deutschland geplant, infolge einer gewaltigen Subventionssteigerung tatsächlich einträte. Denn so werden staatliche Mittel in den Reproduktionsbereich geleitet, die dann in anderen Bereichen fehlen. Es werden Menschen möglicherweise zur Elternschaft bewogen, die sie mangels Liebe, Interesse und Fähigkeit oder kraft hervorragender anderer Fähigkeiten aus freien Stücken nicht gewählt hätten. So würden Kinder in die Welt gesetzt, die als Erwachsene nicht reibungslos ihren Weg in Wirtschaft, Bildung, Politik oder anderen gesellschaftlichen Systemen machen. Als Alternative zur «Kindersubventionspolitik» plädiert Hondrich für eine Einwanderungspolitik angelsächsischer Tradition. Denn in der Immigration ist eine dreifache Arbeitsteilung angelegt: Erstens bringen die Einwanderer oft Motivation und Fähigkeiten mit, auch schwere, risikoreiche oder niedere Arbeiten zu verrichten, vom Fensterputzen an Hochhäusern bis zum Spargelstechen. Zweitens ist der Lohn, den sie für ihre Arbeit erhalten, in ihrer Heimat ein Vielfaches wert, wird deshalb in Form von Kapital und Gütern rücküberwiesen und begründet dort eine neue Konsum- und Produktionskultur. Drittens bedeuten Einwanderung und Familiennachzug, dass kinderreiche Regionen einen Teil ihres reproduktiven Reichtums abgeben. Für die Frauen und Männer in Deutschland bedeutet Hondrichs Modell, dass sie, von der reproduktiven Funktion entlastet, mehr Zeit für Bildung, Wissenschaft, Beruf oder Politik aufbringen können – eine Welt-Arbeitsteilung, die weit über die ökonomische Sphäre hinausgeht. Oder in Abwandlung von Konrad Adenauers bekannter
Demografie-Weisheit: «Familien kriegt die Gesellschaft sowieso.» Die Frage bleibt nur: Wie viele und woher?
Karl Otto Hondrich
Weniger sind mehr. Warum der Geburtenrückgang ein Glücksfall für unsere Gesellschaft ist
Campus, Frankfurt a. M. 2007. 280 S., 19,90 €
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