Motorsäge oder Gartenschere? / dpa

Bürgerliches Staatsverständnis - Zwischen Motorsäge und Gartenschere

Muss Deutschland „mehr Milei und Musk“ wagen? Es gäbe keinen Grund, nach Vorbildern im Ausland zu suchen, wenn das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft in seiner ursprünglichen Form ohne zusätzliche Adjektive wie „ökologisch“ noch gelten würde.

Autoreninfo

Nils Hesse berät und unterstützt die Denkfabrik R21 in Fragen der Ordnungspolitik und der Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft. Er hat Abschlüsse in VWL, BWL, Social Science und Politikwissenschaften und an der Uni Freiburg / Abteilung für Wirtschaftspolitik promoviert. Nils Hesse hat unter anderem als Redenschreiber im Bundeswirtschaftsministerium, Referent beim BDI, Wirtschaftspolitischer Grundsatzreferent im Kanzleramt, Journalist, Economic Analyst bei der EU-Kommission, Lehrbeauftragter und Fraktionsreferent der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gearbeitet. Derzeit arbeitet er an einer Habilitationsschrift zum Thema „Ordoliberalismus und Populismus“.

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Der deutsche Staat steckt in einer Überforderungsfalle: Er kann seinem Anspruch auf Allzuständigkeit nicht mehr gerecht werden. Gleichzeitig gelingt es ihm immer weniger, sich gegen gut organisierte Partikularinteressen durchzusetzen und Beharrungstendenzen zu überwinden. Um den Staat wieder funktionsfähiger zu machen, müsste die Politik an den tieferen Ursachen in den demokratischen Institutionen ansetzen. Stattdessen reagiert sie auf die wachsende Aufgabenfülle mit kleinteiligen Gesetzen, Programmen und zusätzlichen Stellen – was die Steuerungsüberforderung nur noch verstärkt. Dieser Teufelskreis wird dadurch verschärft, dass immer mehr Menschen direkt oder indirekt von öffentlichen Geldern abhängig werden.

Im Ergebnis stimmt das Gesamtpaket immer weniger: Während Bürger und Unternehmen eine hohe Staatsquote, komplizierte Bürokratie und Spitzensteuersätze schultern, sehen sie sich gleichzeitig mit Defiziten in der Infrastruktur und im Rechtsvollzug konfrontiert. Um aus diesem Teufelskreis auszubrechen, braucht es Durchsetzungskraft, Mut, klare Prioritäten, Pragmatismus – und ein bürgerliches Leitbild. Doch an allem fehlt es. 

Wie sehr der Politik ein Leitbild fehlt, zeigt die Debatte um Christian Lindners Appell, „ein bisschen mehr Milei und Musk“ zu wagen. Es gäbe keinen Grund, nach Vorbildern im Ausland zu suchen, wenn das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft in seiner ursprünglichen Form ohne zusätzliche Adjektive wie „ökologisch“ noch gelten würde.

Raum für freie individuelle Entscheidungen

Es ist an der Zeit, den Kern der Sozialen Marktwirtschaft wieder freizulegen: selbstbestimmte Bürger, die in Freiheit leben und ihr Leben eigenverantwortlich gestalten. Aufgabe des bürgerlichen Staates in der Sozialen Marktwirtschaft ist es, Konflikte zu lösen, die entstehen, wenn Einzelne die Freiheiten anderer Bürger überschreiten. Dazu setzt er die Grundregeln des Zusammenlebens durch und schützt das Recht auf Eigentum ebenso wie die Meinungs- und Vertragsfreiheit. 

Mit seinen kollektiven Entscheidungen schränkt der Staat zwangsläufig individuelle Freiheitsrechte ein. Zudem verzichtet er durch kollektive Entscheidungen in der Regel auf Informationen, die Individuen nur auf offenen Märkten preisgeben. Der bürgerliche Staat ist sich dieser Nachteile kollektiver Entscheidungen stets bewusst. 

Wo immer möglich, versucht er daher, sich zurückzuhalten, um Raum für freie individuelle Entscheidungen auf Märkten und für sozialen Austausch in gewachsenen Gemeinschaften zu lassen. Seine Eingriffe sind stets begründungspflichtig und sollen möglichst marktkonform sein. Seine wohlfahrtsstaatlichen Hilfen sollen sich auf die wirklich Bedürftigen konzentrieren. 

Nüchterner Blick auf Anreizstrukturen

Ziel ist es, den, wie Acemoglu und Robinson es nennen, „engen Korridor“ zu finden, in dem der Staat genügend Autorität besitzt, um autonom die Rahmenbedingungen zu setzen und durchzusetzen, ohne dabei die Autorität zu bekommen, die Freiheit des Einzelnen innerhalb dieses Rahmens übermäßig zu beschränken. Um diesen Korridor dauerhaft zu erreichen, braucht staatliches Handeln Schranken. 

Die Gewaltenteilung und die Dezentralisierung von politischer Macht sind grundlegende und bewährte Mechanismen, um staatlicher Macht Grenzen zu setzen. Beide Mechanismen gilt es zu stärken. Zum dezentralistischen Staatsverständnis gehört es, die Struktur der Gesellschaft von unten nach oben zu betrachten und möglichst viele politische Entscheidungen im Kontrollbereich der Bürger, nahe an ihren unmittelbaren Lebenskreisen, zu treffen.

Doch die Dezentralisierung und Beschränkung von Machtbefugnissen ist deutlich schwieriger zu erreichen als ihre Zentralisierung und Ausweitung. Umso wichtiger ist es, dass Reformen nicht an den Symptomen, sondern an den Ursachen von Interventionsspiralen, Zentralisierungstendenzen und staatlicher Steuerungsüberforderung ansetzen. Sie müssen ressortübergreifend, ganzheitlich und langfristig ausgerichtet sein und dürfen auch vor Besitzständen nicht zurückschrecken. Bei der Identifikation solcher Reformen hilft ein auf einem realistischen Menschenbild gründender, nüchterner Blick auf die Anreizstrukturen in staatlichen Institutionen.

Ein selbstbestimmtes Leben

Politiker und Bürokraten haben weder überlegenes Wissen noch sind sie bessere oder schlechtere Menschen, die nur aus Nächstenliebe oder als Teil einer großen Verschwörung Entscheidungen treffen. Sie reagieren genauso auf Anreize wie andere Menschen auch und entscheiden innerhalb der ihnen bekannten Strukturen auf Grundlage bewährter Heuristiken. Unsere demokratischen Spielregeln müssen dieses Verhalten antizipieren und das Eigeninteresse von Politikern und Bürokraten möglichst mit dem Interesse der Bürger in Einklang bringen. 

Dies gelingt am besten in einem Staat, der zugleich schlank, stark und subsidiär ist. Dieser ist für das Fundament zuständig, auf dem wir als Gesellschaft operieren: Die dortigen Risse und Brüche sollte er ausbessern, schiefe Ebenen wieder neu ausrichten, Leitplanken dort ziehen, wo sie Freiräume, sozialen Austausch und marktwirtschaftlichen Wettbewerb erst ermöglichen. Wie die Bürger auf diesem Fundament in ihren Gemeinschaften ihr tägliches Leben organisieren und ihr Bedürfnis nach Zugehörigkeit stillen, liegt zunächst in ihrer eigenen Verantwortung. Anders ausgedrückt: Der Staat sollte die Bürger nicht bevormunden und gängeln, sondern ihnen helfen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. 

Gartenschere für die Staatsreformen

Ganz konkret gilt es, den Staatsapparat mutig zu verkleinern und mit Regulierungsmoratorium, Einstellungsstopp sowie Bürokratie- und Schuldenbremsen einen erneuten Aufwuchs zu verhindern. Zweitens sollten Reallabore, Pilotstädte sowie Gründer- und Mittelstandsschutzzonen Deutschland zur Experimentierrepublik machen. Drittens braucht Deutschland eine Föderalismusreform, die die Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Kommunen endlich klar verteilt und entflechtet und die Fehlanreize des Länderfinanzausgleichs beseitigt. Das wäre ein guter Anfang.

Ziel ist dabei nicht, sämtliche staatliche Institutionen radikal zurechtzustutzen. Der Ökonom Stefan Kolev warnt mit Blick auf den argentinischen Präsidenten Milei vor dem zu forschen Gebrauch der Kettensäge und plädiert stattdessen für „mehr Gartenschere“. Seine Warnung ist berechtigt. Fraglich ist aber, ob die Gartenschere für die erforderliche Staatsreform ausreichend ist. Einige Ursachen eines in zu weiten Teilen dysfunktionalen Staates erreichen weder an der Oberfläche ansetzende Gartenscheren noch Motorsägen. Um an die tieferlegenden Wurzeln des Staatsversagens zu kommen, braucht es einen ordoliberalen Unkrautstecher mit langer Klinge.

Ziel ist ein Staat, der sich auf seine Kernaufgaben konzentriert. Ein solcher Staat ermöglicht den Bürgern, ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Er sorgt für den Rahmen und das Grundlegende, nicht für das Besondere und Unvorhersehbare. Er ist stark, gerade weil er schlank und bescheiden ist und sich nicht für die Lebensgestaltung des Einzelnen verantwortlich fühlt. Er funktioniert, weil er die Lösungen nicht von oben vorgibt, sondern einen Wettbewerb um die besten Regeln und Lösungen von unten zulässt.

Dieser Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung der Denkfabrik R21 veröffentlicht. Eine ausführliche Version des Beitrags finden Sie hier

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Markus Michaelis | Di., 10. Dezember 2024 - 15:15

Mehr probieren in Reallaboren und Pilotstädten fände ich gut. Dazu bräuchte es erstmal die Einsicht, dass wir neue Versuche brauche, weil wir nicht mehr wissen, wie "es" unter den neuen Bedingungen geht.

Meinem Gefühl nach ist das größte Hindernis dabei nicht, dass sich der Staat oder Institutionen losgelöst von den Menschen verselbstständigt hat. Das wäre auch möglich, ist aber bei uns nicht der Hauptgrund. Den sehe ich darin, dass zuviele Menschen und entscheidende Gruppen mir zu gut zu wissen glauben, was richtig und falsch ist.

Politische Diskussionen drehen sich oft um Grundwerte: Menschenrechte, Demokratie, Gerechtigkeit etc. Da ist eigentlich nichts diskutierbar - das ist unpolitisch. Das sollte ein Rahmen sein, den alle akzeptieren. Politik wird zB darüber gemacht, welche Förderungen bestimmte Technologien oder Arbeiterrechte gegen Kindergartenplätze bekommen. Wir wissen es nicht und müssen probieren. Bei uns dreht sich aber alles um Fundamentalwerte und deren Feinde.

Da sollte man aber vorsichtig sein mit Ihrer Wuschvorstellung
nach "Reallaboren und Pilotstädten", denn es gilt:
"gebranntes Kind scheut das Feuer".

Herr Habeck hatte bereits zugegeben, dass er mit seinen Versuchen
zu weit gegangen sein (Heizungsgesetz). Soviel zum Reallabor.

In deutschen Großstädten können Sie sich ja mal in Stadtteilen
bewegen, die bereits umgestaltet wurden. Hoffentlich ist das
nicht Ihre Wunschvorstellung für die neuen Pilotstädte.

MfG

Karl-Heinz Weiß | Di., 10. Dezember 2024 - 15:37

In Anbetracht der hohen beruflichen Qualifikation des Autors ist der Beitrag eine Ansammlung von (maximal) 21 politischen Plattitüden. Schade.
Die Leitplanken zur längerfristigen Absicherung der "Sozialen Marktwirtschaft " wurden unter einem SPD-Kanzler gesetzt und unter einer Unionskanzlerin demontiert. Die Union versucht gerade krampfhaft, sich ihrer Verantwortung dafür zu entledigen. Das ist in etwa so glaubhaft wie Markus Söder, der 2011 als bayerischer Umweltminister maßgeblich am Ausstieg aus der Atomenergie beteiligt war. Herr Rödder hat nicht nur bei der Denkfabrik21 noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten, sondern auch bei der Union.

Rainer Dellinger | Di., 10. Dezember 2024 - 16:20

Ein Staat, der demokratisch ausgerichtet ist, kann nur bestehen, wenn Bürger einen entsprechenden Bildungsstand besitzen. Negatives Beispiel 3.Reich.
Die damaligen Bürger sind, übertrieben gesagt, nie aus der Uniform rausgekommen, lernten etwas Rechnen + Schreiben + militärischen Gehorsam (Der Untertan-Heinrich Mann). Wenn aber Politiker mit gefährlichem Halbwissen an die Macht kommen, lehrt uns die Vergangenheit was passiert und passieren kann.

Tomas Poth | Di., 10. Dezember 2024 - 16:21

Vorbilder hinsichtlich Wirtschaft/Ökonomie gibt es im deutschen Sprachraum mehr als genug, wie z.B. Ludwig von Mises, Friedrich August Hayek, Ernst Fehr.
Ludwig Erhardt als Wirtschaftsminister nicht zu vergessen.
Nur unsere rotgrünen, wildwütigen Vergewaltiger jedweder wirtschaftlicher Vernunft und des politischen Augenmaßes müssen erst mal aus ihren Ämtern entfernt werden!
Das wird die Hauptaufgabe der kommenden Wahlen sein. Wer sich der Abwahl rotgrüner Parteien verweigert macht sich unweigerlich zum Handlager des Niedergangs unseres Landes.

Stefan Jarzombek | Di., 10. Dezember 2024 - 16:22

Deutschland und seine Politiker sollten einfach geltendes Recht und die Dublin-Abkommen einhalten.
Es würde dann genug Steuergeld zur Verfügung stehen,um es gerecht an die Bevölkerung hierzulande zu verteilen.
Arbeiten würde sich wieder lohnen und wenn eine gesunde Balance zwischen erneuerbaren und herkömmlichen Energien hergestellt wird, bedarf es keiner Bevormundung mehr seitens der Regierung.
Markt und Innovative sind Schlüssel zu allem und keine Planwirtschaft àla DDR.
Die Grünen könnten wieder mit Ruhe im Bundestag ihre Pullover stricken und das Wirtschaftsministerium getrost Leuten überlassen,die sich mit der Materie auskennen.
Nazi-Hype und Nazi-Keulen verschwinden in der Mottenkiste, alles wäre gut, Null Problemo!
Es könnte sooo einfach sein.
Aber Nein, sie legen es darauf an.
Kriegstreiberei, falsches Zeugnis wider die anderen und scheinheiliges Gutmenschentum ... So wird das nix, nicht heute und nicht morgen.
Hier wechseln sie wahrscheinlich nur den Kapitän aus und das war's.

T Romain | Di., 10. Dezember 2024 - 18:55

Das klingt alles sehr nett, positiv, die Meisten würden sicher zustimmen.
Weil alles sehr vage und in Unbestimmten bleibt.
Jetzt mal konkret, was soll staatlicherseits abgebaut werden? Welche Funktionen / Aufgaben nicht mehr wahrgenommen?
Sobald konkrete Vorschläge auf dem Tisch liegen, kommen nämlich schnell von allen Seiten Bedenken(träger). Und alle verteidigen ihre Pfründe.

Sabine Lehmann | Mi., 11. Dezember 2024 - 09:30

Während Menschen wie Musk so banale Dingen regeln, wie Raketen in den Orbit zu schicken, Milliarden zu verdienen und Teil der Wert(e)schöpfung zu sein, löst Deutschland existenzielle Probleme der Menschheit, wie die Frage nach den richtigen Pronomen, wie der Deckel an der Plastikflasche bleibt, und wie ein Mann mit Penis wirklich eine Frau sein kann ohne ein Fall für die nächstgelegene Meldestelle zu sein.
Ja, so entscheidet sich die Frage nach dem Aufstieg oder Abstieg einer ganzen Nation…..

Henri Lassalle | Mi., 11. Dezember 2024 - 14:51

Die Politik aber wird nicht unbedingt mit guten Absichten gemacht, und Gesetze sind auch mit guten Intentionen behaftet, aber man vergisst die Triebnatur der Menschen, gerade in unserer Epoche, in der der Individualismus und hypertrophe Materialismus die Gesellschaft zeichnen. Wie oft hört man bezügl. der Politik von Klienten/Klüngelwirtschaft, Priorität von Karrieplänen, Erpresssbarkeit (etwa nach dem Motto: "Wenn du als Bürgermeister nicht die Tennishalle bauen lässt, dann sorge ich dafür, dass du nicht mehr gewählt wirst")....... - so im Kleinen wie im Grossen.
Zu Verbesserungen, die durchaus möglich sind, braucht es Politiker eines gewissen Kalibers. Wo sind sie?
Helmut Schmidt war als Bundeskanzler eine grossartige, umfassende private wie politische Persönlichkeit. Ich fürchte, solch einen Politiker bekommt Deutschland nie wieder.

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