- "Am Ende kann auch der gerechte Herrscher stehen"
Der Politikwissenschaftler Hardy Ostry bezweifelt, dass sich Libyen nach einem Sturz Gaddafis schnell zu einer Demokratie entwickelt. Mit CICERO ONLINE sprach er über die neuesten Entwicklungen in Libyen, die Motivation der Rebellen und unseren Traum einer parlamentarischen Demokratie, der vielleicht nicht der Traum der Libyer ist.
Herr Ostry, Libyen konnte bisher mit einem der höchsten Pro-Kopf-Einkommen aufwarten, einer Sozialversicherung mit kostenloser medizinischer Versorgung, Witwen-, Waisen- und Altersrenten. Was wird daraus nach der Revolution?
Diese Zahlen sind natürlich für sich genommen im Vergleich zu Tunesien oder auch Marokko beeindruckend. Aber als statistische Zahlen leiten sie auch in die Irre. Richtig ist, dass es in Libyen eine Mittelschicht gibt, der es relativ gut geht, die etwa im Ölgeschäft tätig oder ins Immobiliengeschäft eingestiegen ist. Das sind nicht unbedingt politisch oder ideologisch überzeugte Parteigänger Gaddafis, sondern einfache Profiteure. Und diese Schicht wird vielleicht auch erst einmal etwas verlieren. Wenn man sich das Land aber näher anschaut, hapert es an zahlreichen Ecken.
Wo genau?
Vor allem in der Gesundheitsversorgung oder in der Infrastruktur. In den Städten, die für Gaddafi wichtig waren, wie in seiner Heimatstadt Sirte und dem Umland, ist das anders. In anderen Regionen aber, wie dem Osten des Landes, ist die Infrastruktur mangelhaft. Es sind keineswegs paradiesische Zustände – und wenn, dann nur für ganz Wenige.
Warum waren die Rebellen gerade jetzt erfolgreich?
Erstens haben sich die Rebellen militärisch professionalisiert und entscheidende Berater gehabt. Zweitens gab es eine bessere Koordination mit der Nato. Das hat auch der Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen zwischen den Zeilen durchblicken lassen. Die Nato ebnete die Zufahrtswege nach Tripolis. Drittens zählt das psychologische Argument: Noch vor einer Woche waren die Rebellen gut 100 Kilometer von Tripolis entfernt. Je näher sie kamen, desto stärker konnten sie sich wieder motivieren. Wir sprechen schließlich nicht von einer gut strukturierten, mit Befehlsstrukturen ausgestatteten Armee. Bei den Rebellen war der psychologische Faktor ganz entscheidend.
Wer sind denn diese Rebellen genau? Wer sind jetzt die wichtigsten Akteure in Libyen?
Das sind im Moment die Mitglieder im Nationalen Übergangsrat. Dabei dürfen wir nicht übersehen, dass alte Parteigänger Gaddafis darunter sind, wie ihr Sprecher Mustafa Abdel Dschalil, der ehemalige Justizminister. Dann gibt es einige andere Intellektuelle, die dem Regime immer mehr oder weniger nahe standen, die sich aber jetzt, manche seit Februar, andere früher, entschieden haben, dass es so nicht weitergehen kann. Sie führen diesen Rat, der zum Teil auch mit Stammesvertretern bestückt ist.
Sprechen sie tatsächlich mit einer Stimme?
Es wird jetzt darauf ankommen, ob dieses Szenario wirklich greifen wird. Dschalil sagte am Montag, man werde zu gegebener Zeit, wenn Tripolis eingenommen sein sollte, den nationalen Übergangsrat nach Tripolis verlegen. Das ist eine ganz wichtige Entscheidung. Sie bedeutet noch nicht, dass dieser Rat dann wirklich von allen getragen wird, es wäre aber die erste politische conditio sine qua non. Weiter müsste man sich darum bemühen, so viele Stammesvertreter wie möglich in den Rat zu bekommen. Erst dann kann man davon ausgehen, dass diese vom Ausland schon weitgehend anerkannte Übergangsregierung auch wirklich mitgetragen wird.
Von wie vielen relevanten Stämmen sprechen wir?
Man rechnet mit Blick auf Libyen mit etwa hundert Stämmen und Unterstämmen, die unterschiedlich groß sind. Ich würde ausschließen, dass der Stamm Gaddafis selber sich einem solchen Rat anschließen würde. Ich schätze mal, dass es wichtig ist, die Hälfte dieser Vertreter an einen Tisch zu bekommen oder zumindest dafür zu sorgen, dass sie den Rat mittragen.
Peter Scholl-Latour warnt vor einem zweiten Somalia, Ruprecht Polenz vor Zuständen wie im Irak. Die Stammesfehden erinnern auch an Afghanistan. Inwiefern sind diese Vergleiche zulässig?
Libyen ist schwer zu vergleichen mit dem Irak, Afghanistan oder Somalia. Vergleiche sind wichtig, um das Verständnis zu wecken. Aber in Libyen ist die Lage ein bisschen komplizierter.
Wir Journalisten fragen vor allem danach, weil wir wissen wollen, ob Demokratie möglich ist?
In Tunesien oder Ägypten gab es staatliche Strukturen unterschiedlichster Qualität oder Effektivität. In Libyen beginnt jetzt die Stunde Null des „Nation Building“, des Staatsaufbaus. Es gibt noch nicht einmal eine Verfassung. Natürlich streben die Menschen von Tunis bis Kairo nach etwas wie Freiheit, wie Demokratie. Ob sich diese Aufstände am Ende in einem System äußern, das unserer parlamentarischen Demokratie ähnelt, ist aber völlig offen.
Dahinter steht zuerst einmal keine Demokratiebewegung, sondern gebildete Akademiker bis hin zu Menschen aus unteren Schichten, die es einfach satt hatten, sich mit korrupten klientelistischen Regimen abzufinden. Ihre Wünsche sind in all diesen Staaten trotz der Unterschiede gleich: Sie rufen nach Freiheit, Würde, „accountability“. Sie wollen, dass der Staat gerecht handelt. Da kann am Ende des Tages auch das Idealbild eines gerechten Herrschers stehen. Wir Europäer wünschen uns eine Demokratiebewegung, weil wir glauben, dass das dem menschlichen Glauben an Freiheit und Partizipation am ehesten entspricht. Aber das müssen wir erst einmal abwarten.
Das Interview führte Marie Amrhein.
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