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Wer hat Angst vor der Freiheit?
Die schwarz-gelbe Koalition, so der Philosoph Norbert Bolz, mache Hoffnung darauf, dass der paternalistische Staat endlich abdanke: Dessen „Tyrannei der Wohltaten“ und „demokratischer Despotismus“ hätten das Land viel zu lange in Lethargie versinken lassen
Das Ergebnis der Bundestagswahl ist das erfreulichste politische Ereignis seit dem Fall der Mauer. Dass die Ressentiment-Linke in der Opposition bleiben muss, die SPD endlich Zeit zur Reflexion findet und die Kanzlerin weiterwursteln kann, ist nicht weiter interessant. Faszinierend sind die Zahlen für die FDP und die Piraten. Diese beiden Parteien haben eine Agenda der Freiheit: Die Piraten stehen für die Freiheit der Information, und die Liberalen stehen für die Freiheit des Marktes. Die etablierte Medienlinke versucht, dieses Ergebnis mit einem Kopfschütteln abzutun, als seien die Piraten nur eine Spaßpartei und die Liberalen nur glücklich Begünstigte einer Leihstimmenkampagne. Aber wie wäre es, wenn 17 Prozent der deutschen Wähler einfach für mehr Freiheit und weniger Staat gestimmt hätten?
Im Kommentar des FDP-Ergebnisses schwankt die Medienlinke zwischen Hass, Verachtung und Verzweiflung. Wie ist es möglich, dass diejenigen, deren Un-Geist doch verantwortlich für die große Krise zu sein scheint, von den Wählern so königlich belohnt werden? Offenbar erkennen immer mehr Menschen, dass die FDP die einzige im Bundestag vertretene deutsche Partei ist, die nicht an den Säulen der Freiheit des Westens sägt, als da sind: wissenschaftlich-technischer Fortschritt, wirtschaftliches Wachstum, freier Markt, Privateigentum, Individualismus und Rechtsstaatlichkeit. Das alles wieder gutzuheißen, ist eine Provokation für das sozialdemokratische Juste Milieu von SPD, Grünen und CDU/CSU.
Warum ist die Agenda der Freiheit in Deutschland für die meisten eine Provokation? Die Deutschen konnten die Pioniere des Sozialen werden, weil sie keine liberale Tradition haben. Nirgendwo lässt sich das historische Apriori der modernen Gesellschaft besser studieren als in Deutschland: als die „autonome Sozialtendenz“ (Arnold Gehlen), die auf eine Ergänzung des Rechtsstaats durch eine Gefühlsdemokratie drängt. Im Innersten ihres Herzens sind die meisten Deutschen Sozialdemokraten.
Zunehmend mischt sich der Staat auch in die geringfügigsten Angelegenheiten ein. Er sorgt für die Gesundheit, die Arbeit, die Erziehung und Bildung seiner Bürger. Aber er sorgt auch für unsere geistige Gesundheit und flößt uns die korrekten Gefühle und Ideen ein. In den modernen Massendemokratien sind die Regierenden keine Tyrannen mehr, sondern Vormunde. Und die Regierten bewegen sich im Hamsterrad der kleinen Lüste und Vergnügungen – gleich, einförmig und rastlos.
Wohlfahrtsstaatspolitik erzeugt Unmündigkeit, also jenen Geisteszustand, gegen den jede Aufklärung kämpft. Und so wie es des Mutes bedarf, um sich des eigenen Verstandes zu bedienen, so bedarf es des Stolzes, um das eigene Leben selbstständig zu leben. Wie für das Mittelalter ist deshalb auch für den Wohlfahrtsstaat der persönliche Stolz die größte Sünde. Vater Staat will nämlich nicht, dass seine Kinder erwachsen werden. Der Paternalismus des vorsorgenden Sozialstaates wird den Menschen aber nicht nur aufgezwungen – sie begehren ihn, denn er entlastet sie von der Bürde der Freiheit. Die verwaltete Welt ist für viele eine Wunscherfüllung.
Verwaltete Welt heißt, dass jede Lebensentscheidung vorgegeben, jedes Lebensrisiko vorgezeichnet wird. Gerade das, worum zu leben es sich lohnt, wird dem Einzelnen vom vorsorgenden Sozialstaat abgenommen. Dass man auf Freiheit zugunsten von Versorgungssicherheit verzichtet, ist in modernen Massendemokratien so selbstverständlich geworden, dass Rüdiger Altmann schon zu Beginn der sozialdemokratischen Ära mit beißender Ironie vom „Recht auf Abhängigkeit“ sprechen konnte. Die Tyrannei der Wohltaten erzeugt jene Sklavenmentalität, die Sozialpsychologen als erlernte Hilflosigkeit charakterisiert haben.
Wohlfahrt ist heute eine Droge, von der immer mehr Menschen abhängig werden. Aus der guten, humanen Idee wurde eine Art Opium fürs Volk. Denn die sozialistische Politik, die diese Idee implementieren wollte, hat lediglich die Menschen von der Regierung abhängig gemacht. Das macht zwar die Sozialhilfeempfänger nicht lebenstüchtiger, hält aber den Sozialstaat in Gang. Denn der stabilisiert sich, indem er immer mehr Empfänger öffentlicher Leistungen produziert. Die sozialistische Politik der globalen Sozialfürsorge muss dafür Sorge tragen, dass die Armut nicht knapp wird. Die Bürokraten des Wohlfahrtsstaats haben ein Interesse daran, dass sich die Lage der Abhängigen nicht ändert – sie leben ja davon, dass die anderen nicht für sich selbst sorgen können. „Die Linke“ liebt die Misere.
Die umfassend Betreuten brauchen keinen freien Willen mehr und empfinden die totale Vorsorge als Wohltat. Der demokratische Despotismus entlastet – vom Ärger des Nachdenkens genauso wie von der Mühe des Lebens. Ein Netz präziser, kleiner Vorschriften liegt über der Existenz eines jeden und macht ihn auch in den einfachsten Angelegenheiten des Lebens abhängig vom vorsorgenden Sozialstaat.
Massendemokratische Gesellschaften werden durch die Furcht vor der Meinung der anderen zusammengehalten. Je weniger sich die Meinungen der Einzelnen in der massendemokratischen Öffentlichkeit zur Geltung bringen können, desto stärker wird der Druck der öffentlichen Meinung auf den Einzelnen und sein Meinen. Und da es auf Dauer zu anstrengend ist, anders zu denken als man redet, denken die meisten auch schon politisch korrekt. Heute dürfen die meisten Menschen sagen und schreiben, was sie wollen, weil sie ohnehin alle das Gleiche denken. Luther predigte spirituelle Freiheit in politischer Knechtschaft; wir haben heute spirituelle Knechtschaft in politischer Freiheit.
René Girard hat in diesem Zusammenhang von Verbalexorzismen gesprochen, und in der Tat geht es um eine neue Form von Inquisition, um eine politische Säuberung der Sprache. Früher nannte man das Linientreue. Solche Verbalexorzismen sind hochpolitisch, weil Sprache die Menschen macht, die sie sprechen. Politische Korrektheit ist die Rhetorik eines besetzten Landes. Und wieder nennen sich die Besatzer Befreier. Alle reden von Individualität, Diversität und Selbstverwirklichung – und alle denken dasselbe. So entsteht der Konformismus des Andersseins.
Neben dieser Tyrannei der öffentlichen Meinung, die man „Political Correctness“ nennt, hat der Geist der Freiheit noch einen zweiten Feind: den egalitären Kult der Gruppe, der sich als „Teamgeist“ verkauft. Seine Attraktivität steckt in dem Angebot an die Individuen, sie von ihrer Individualität zu entlasten. Die Propaganda für Teamwork, Partnerschaft und Gemeinschaft verstärkt das kindliche Vorurteil für Verteilungsgleichheit. Teamwork ist ein Euphemismus dafür, dass die anderen die Arbeit tun. Hannah Arendt hatte den fabelhaften Mut, diese Wahrheit ganz unzweideutig auszusprechen: Es gibt nichts, was der Arbeitsqualität fremder und schädlicher wäre als Gruppenarbeit.
Nicht zur Gruppe zu gehören, ist die Sünde wider den Heiligen Geist des Sozialismus. Wer hervorragen will, gilt als asozial. Persönlicher Stolz ist die größte Sünde im egalitären Sozialismus, Selbstauslöschung dagegen eine Tugend. Wer nicht mitmacht in den Gruppen und Kommissionen, gilt als Verworfener. Die Gruppe ist heute die Kirche, außerhalb derer kein Heil ist.
Jede Gruppenzugehörigkeit macht abhängig, und jede Abhängigkeit reduziert die Freiheit. Zuerst büßt man die Freiheit des Entscheidens ein und dann die Freiheit des Denkens. Die Gruppe ist die Gehirnwäsche, und es ist völlig gleichgültig, ob es sich dabei um Gruppentherapie, Teamtraining oder soziales Lernen handelt – stets geht es um die Austreibung von Individualität und Wettbewerb.
Wer fragt: „Freiheit, wozu?“, ist für den echten Liberalen ein Knecht. Und allein das macht schon deutlich, dass wir es hier mit einer Minderheitenposition zu tun haben. Die erhabene Lust, frei zu sein, ist dem Geist der Massendemokratie fremd. Was der Liberale in der Frage nach dem Wozu der Freiheit spürt, ist die Angst vor der Freiheit, der es eben an einer Autorität mangelt, der man sich unterwerfen könnte. Und tatsächlich hat Freiheit ihren Preis. Der Sozialismus bringt den Menschen die Hilflosigkeit bei, Freiheit dagegen erzieht zur Selbsttranszendenz. Und damit wechseln wir von der Klientel der „Linken“ zu den FDP-Wählern. Dabei kann uns ein früher sehr populärer, heute aber etwas verblasster Begriff leiten: Selbstverwirklichung. Deren eigentliches Problem – das hat der Philosoph Hermann Lübbe genau gesehen – liegt darin, Freiheit in Sinn zu verwandeln. Autonomie ist heute Selbstprogrammierung. Es geht um die Aufgabe, sich selbst zu verwirklichen, indem man sich selbst zu Aufgaben herausfordert, die man selbst bestimmt.
Selbsttranszendenz heißt konkret, sich von einer Aufgabe konsumieren zu lassen. Früher nannte man das Pflichterfüllung. Ich will einen Unterschied machen – das gilt gerade auch für die neuen Netzbürger, die sich in der Piratenpartei eindrucksvoll zu Wort gemeldet haben. Sie sind jung, gebildet, ehrgeizig; sie arbeiten in den Universitäten, Telekommunikationsgesellschaften, Medienhäusern und Banken; sie sind tolerant, vernünftig, medienkompetent und keineswegs unpolitisch. Diese Netzbürger haben eine große Leidenschaft: den freien Fluss der Information. Jeder soll sprechen und gehört werden können. Ihr Wunsch nach mehr direkter Demokratie wendet sich vor allem an die Welt des Digitalen. Man kann deshalb vermuten, dass wir wieder vor einem Wechsel des Leitmediums der Politik stehen. Roosevelt war der erste Radio-Präsident, Kennedy war der erste Fernseh-Präsident. Obama ist der erste Internet-Präsident.
Die Piraten als Partei – das ist auch deshalb interessant, weil sich hier eine neue Form von Gemeinschaft politisch artikuliert. Besonders deutlich wird das, wenn man sich an Robert Putnams Diagnose des Verlusts der Gemeinschaft („Bowling Alone“) und das kommunitaristische Programm einer Rettung der Gemeinschaft erinnert. Die Piraten sind die lachenden Dritten. Viel realistischer und zeitgemäßer als jene Klage über die verlorene Gemeinschaft oder die Predigt der geretteten Gemeinschaft ist ihre Netzwerktheorie der befreiten Gemeinschaft. Das ist die Welt der schwachen Bindungen im Cyberspace, die sich sehr gut mit dem jugendlichen Lebensstil der Coolness verträgt. Durch einen Klick im Netz wird man zum „Freund“.
Zwischen den Extremen der kalten formalen Organisation der „Mitglieder“ und der stallwarmen Solidargemeinschaft der „Brüder“ bildet sich heute im Internet eine freie Gemeinschaft von Operatoren heraus, die weder ungesellig noch gesellig sind. So lässt sich unsere Gesellschaft als Netzwerk frei gewählter Verknüpfungen darstellen. Sie ist geprägt durch einen vernetzten Individualismus und eine fortschreitende Privatisierung der Geselligkeit. Hans Magnus Enzensberger hat sie als Komplex von vernetzten Minderheiten beschrieben, als eine kopflose, sich selbst steuernde Gesellschaft. Deshalb gab Enzensberger schon vor Jahrzehnten hellsichtig ein Kursbuch heraus, denn in Netzwerken kommt es vor allem auf die Verbindungen an. Es gibt eine großartige Formulierung des Philosophen Helmut Plessner, die diesen entscheidenden Sachverhalt der Stärke schwacher Bindungen auf den Begriff bringt: „Verbindlichkeit, die nicht bindet“.
Es ist die große kulturelle Verheißung der Zukunft, dass wir nach den Etappen der archaischen Stammesgemeinschaft und der modernen „Entfremdung“ nun wieder vor einer neuen Gemeinschaftsform stehen: der von elektronischen Netzwerken getragenen organisatorischen Nachbarschaft. Die eigentliche Bedeutung der Netzwerke liegt nämlich nicht in der Dimension der Informationsverarbeitung, sondern in der Bildung freier Gemeinschaften. An die Stelle der Masse treten die vielen Stämme der Freiwilligen. Facebook, StudiVZ und Xing sind eindrucksvolle Beispiele dafür, wie sich heute „soziale Graphen“ bilden, und zwar durch die einfache Frage: Wen kennst du, und wer kennt dich?
Darin steckt aber auch ein völlig neues Potenzial für politisches Linking, das nicht mehr braucht als eine führende Idee, eine Kommunikationsplattform für das gemeinsame Interesse und das Bedürfnis der Zugehörigkeit.
Weil alle Welt von Heuschrecken, Finanzmonstern und gierigen Managern spricht, wird leicht übersehen, dass es noch nie so viel gelebten Idealismus gab wie heute. Idealistisch gesinnte Menschen gab es natürlich schon immer und durchaus auch in Massen. Aber die Lebensbedingungen, unter denen diese Gesinnung florieren konnte, waren selten gegeben. Heute haben Idealisten nicht nur eine realistische Lebenschance, sondern auch gute Geschäftschancen. Das Internet macht den Idealismus zum Realismus. Das zeigt sich in Amerika natürlich am deutlichsten. Aber auch hierzulande ist es kein Widerspruch mehr, Millionär und zugleich Sympathisant von Attac zu sein. Dass sich Kapitalismus und Idealismus, Profitorientierung und Gerechtigkeitssinn in der Produktion des sozialen Reichtums ergänzen – das ist der neue Geist, der uns optimistisch stimmen sollte.
Freiheit als Passion – in Deutschland wird die Leidenschaft für die Freiheit wohl nie mehrheitsfähig sein. Aber immer mehr Menschen leiden am Verlust des Bewusstseins von Freiheit. Man prüfe sich selbst: War es nicht die bitterste Erfahrung der vergangenen zwanzig Jahre, wie rasend schnell der Rausch der Freiheit nach unserer großen friedlichen Revolution verflog? Ist der Siegeszug der „Linken“, deren Genealogie nach wenigen Schritten ins Zentrum des DDR-Terrors führt, nicht eine Schande für unser Freiheitsbewusstsein? Wird, weil Freiheit riskant ist, eine Mehrheit immer für die freiwillige Knechtschaft optieren? Der Triumph der Liberalen und das Ausrufezeichen der zwei Prozent für die Piraten bei den Bundestagswahlen fällt ins Jubiläumsjahr des Mauerfalls. Nehmen wir das als gutes Omen für den Freiheitssinn der Deutschen. Der Fall der Berliner Mauer muss unser Geschichtszeichen sein.
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