() Letztes Bild vor der Flucht, Wincenty Gawron malt Luiza Targoszowa, Buntstift auf Karton
Die Gesichter von Auschwitz
Sie malten um ihr Leben. Sie schufen Heil inmitten von Zerstörung. Ende Mai wird eine Ausstellung in Berlin erstmals die Werke inhaftierter Künstler aus dem Konzentrationslager Auschwitz zeigen. Bilder, die sich der Auslöschung des Menschen und seiner Menschlichkeit widersetzen.
Adam, wo bist du? Der 19-jährige Pole Józef Szajna hat den Ruf Gottes aus der Schöpfungsgeschichte im Ohr. Er befindet sich an einem Ort, an dem die Menschen millionenfach nackt in die Gaskammern getrieben werden, an einem Ort, an dem sich niemand verstecken kann. Und der Baum der Erkenntnis ist ein Galgenbaum. Józef Szajna antwortet auf die Hölle Auschwitz mit einem großen Bild, das 34 mal 30 Zentimeter klein ist: 37 Abdrücke seiner Daumen auf fünf Linien, darunter die Oberkörper aus Bleistiftstrichen. Verlorene Gesichter, denen die Daumenabdrücke denn doch das Unverwechselbare, das Einmalige ihrer einmaligen Existenz zurückgeben.
Adam, wo bist du? Das ist die Schlüsselfrage aller im KZ Auschwitz inhaftierten Künstler. Adam, zeig Dein Gesicht. Sie malen ihre Gesichter und die der Mithäftlinge. In jener Welt der Erniedrigung halten sie an ihrem ästhetischen Anspruch fest. Sie illustrieren nicht das Grauen. Sie dokumentieren nicht. Sie geben in ihren Porträts den Menschen ihre ursprüngliche Würde zurück. Sie sind keine Illusionisten. Ihre Hoffnung, die sie in die Gesichter legen, hat nichts mit der Zukunft zu tun. Sie ist die Nachgeburt der Schöpfung.
Eine solche Sicht auf Zeichnungen, die im KZ entstanden sind, hat es noch nicht gegeben. Der 35-jährige Kunsthistoriker Jürgen Kaumkötter vom Museumspädagogischen Dienst Berlin bricht mit der 60-jährigen Ausstellungspraxis zum Thema Holocaust, in der die Kunstwerke lediglich das Beiwerk von Inszenierungen des historischen Geschehens waren. Für die Ausstellung „Kunst in Auschwitz“ im Berliner Centrum Judaicum hat er aus 1562 Objekten der Gedenkstätte 176 Objekte von 44 Malern zusammengestellt, die allein ästhetischen Kriterien genügen.
Die überwiegende Mehrheit der nicht nur in Auschwitz entstandenen Bilder von KZ-Häftlingen hat illustrativen Charakter. Es sind immer die gleichen Schreckensbilder. Sie zeigen den Menschen als Müll und unterliegen der Täterperspektive. Das Mitleid, das sie beim Betrachter auslösen, hat den Charakter einer Nächstenliebe, die sich als Übernächstenliebe in Sicherheit bringt. Diese historischen Dokumente gewinnen erst ihre Bedeutung als Hintergrund zu jenen Bildern, in denen die exististenzielle Not in die Freiheit der Kunst, in die Eigenmacht des Künstlers, in die Macht über die Verfolger führt.
Józef Szajna, Jahrgang 1922, längst berühmt als Maler und Bühnenbildner der metaphysischen Dimension, katholischer Christ, schrieb 1976: „Ich bin vom Haken abgeschnitten worden – der Tod ist in mir, ich muss mit ihm schlafen.“ Nach einem Fluchtversuch hatte er erlebt, wie seine Zellengenossen, Todeskandidaten wie er, zum Kopfschuss an die Exekutionswand geführt wurden. Auch er hatte den Weg angetreten, hatte sich nackt ausziehen müssen und war als einziger zurück in die Zelle geschickt worden.
Szajnas kleines Bild mit dem Titel „Unser Lebenslauf“, das er erst aus der Distanz zu Auschwitz in einem Nebenlager des KZ Buchenwald 1944 schaffen konnte, antwortet Felix Nussbaum, dem heute bekanntesten Maler der Shoa-Kunst, der 500 Kilometer weiter in seinem belgischen Versteck sitzt und um dieselbe Zeit sein letztes Werk vollendet, ehe er nach Auschwitz in den Tod transportiert wird. Szajnas Verteidigung des menschlichen Antlitzes mit dem Daumen nimmt die uranfängliche Hoffnung wieder auf, die der Metaphoriker Nussbaum in seinem großformatigen „Triumph des Todes“ aufgegeben hat.
Józef Szajnas Bild fällt aus dem Rahmen. Es fällt aus allen Rahmen jener Bilder, die von Häftlingen in den Konzentrationslagern gezeichnet oder gemalt worden sind. Es ist ein metaphorisches Kunstwerk aus der KZ-Vernichtungswelt. Solche Kunstwerke sind rar.
Im KZ Auschwitz selbst gelingt nur einem ein Kunstwerk von metaphorischer Qualität: Marian Ruzamski, 1889 als Pole im schlesischen Teil der österreichischen Monarchie geboren, ein akademischer Maler, der sich 1928 weit ab von den Kunstzentren im jüdisch geprägten galizischen Tarnobrzeg niederließ, im Haus seines Vaters, gefördert von einer Bilder sammelnden Unternehmerfamilie. Ein Volksdeutscher, den der Maler nicht porträtieren mag, verrät dessen jüdische Identität.
In Auschwitz arbeitet der Häftling im Baubüro. Ruzamski, der zum großen Porträtisten seiner Umwelt wird, leidet seit dem Ende des Ersten Weltkriegs unter Depressionen und ist von fragiler Gesundheit. Als Patient im Lagerkrankenbau zeichnet er den 68-jährigen Xawery Dunikowski, den Rodin der polnischen Bildhauerei, den die polnischen Funktionshäftlinge kurz vor der Begegnung mit Ruzamski vor der Ermordung in der Gaskammer retteten.
Ruzasmski zeichnet Dunikowski im Doppelporträt: In der Blattmitte der Kopf des Künstlers auf dem Krankenlager: das sichtbare Auge fast geschlossen. Dunikowski in der Schlaferleuchtung. Rechts oben entschwebt seine Seele der Verfolgung. Dieser Kopf ist markant konturiert.
Das metaphorische Bild Ruzamskis trägt die Ahnung seines eigenen Schicksals in sich. Der Maler Dunikowski wahrt seine Individualität, seine Seele in Auschwitz, überlebt und lebt bis 1964 als geachteter Professor in Krakau, Breslau und Warschau. Bei der Räumung des KZ Auschwitz wird Ruzamski aus dem Lager getrieben zum Todesmarsch nach Wodzislaw Slaski, den nur jeder zweite Häftling überlebt. Von dort wird er ins KZ Bergen-Belsen deportiert, unter seiner Kleidung seine Bilder. Sterbend vertraut er sie einem Mithäftling an, der nach der Befreiung bis Paris kommt und dann stirbt. Von Paris kehren die Bilder schließlich zurück nach Tarnobrzeg zu Ruzamskis einstigen Förderern. Sie geben die Bilder der Gedenkstätte in Au-schwitz.
Es sind polnische Künstler, die die Berliner Ausstellung dominieren. Bevor Auschwitz zur Mordstätte von 1,5 Millionen Juden wurde, war das ehemalige polnische Kasernengelände von Juni 1940 an ein KZ für polnische Häftlinge. Hier setzte Hitler-Deutschland nach seinem Sieg über Polen die polnische Elite fest, um jeglichen Widerstand im okkupierten Land auszuschalten. Unter ihnen waren zahlreiche Künstler.
Die Häftlinge wurden zum Ausbau des Stammlagers eingesetzt, später dann zum Bau der Lager Birkenau und Monowitz. Sie arbeiteten in Steinbrüchen, in einer Zementfabrik. Sie entwässerten das Sumpfgebiet Birkenau, wo ab 1942 die Deportationszüge mit Juden eintrafen und die Massenvernichtung begann. Viele Künstler hatten ihren wirklichen Beruf nicht genannt, sich als Handwerker ausgegeben und waren abkommandiert in die Tischlerei, Schlosserei oder Schmiede, auch in Lagerbauleitung und die Grafischen Betriebe. Viele stiegen auf in bestimmte Funktionen. Inhaftierte polnische Ärzte arbeiteten beispielsweise im Lagerkrankenbau.
Mit der Massenvernichtung der Juden von 1942 an rangierten die inhaftierten Polen in der Nazi-Skala der „Untermenschen“ eine Stufe über den Juden. Letztlich waren aber auch sie zur Vernichtung vorgesehen. Als Józef Szajna im Sommer 1941 ins Lager kam, lebten, wie er sagt, von den 18000 bis dahin inhaftierten Menschen nur noch 7000. Bei der Befreiung von Auschwitz beklagten die Polen 78000 Tote. Von ihren jüdischen Landsleuten wurden 300000 nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Nur die polnischen Häftlinge hatten die Möglichkeit, ihren Angehörigen in deutscher Sprache zu schreiben und Post sowie Päckchen zu empfangen. Juden nicht. Der Postverkehr lief über die SS-Zensurstelle. Der Pole Franciszek Targosz war in der Häftlingsschreibstube im Stammlager Auschwitz beschäftigt. Über ihn liefen die Briefe der Häftlinge zur Zensur, zu ihm kamen von der Zensur die Briefe von draußen.
Mit Targosz, Jahrgang 1899, der 1940 Häftling in Auschwitz wird, fließend Deutsch spricht und ein Faible für das Zeichnen von Pferden hat, beginnt die abenteuerliche Geschichte der Malerei in Auschwitz. Offiziell war jede Form der künstlerischen Betätigung verboten. Das Strafsystem reichte bis zur Hinrichtung. Targosz wurde beim heimlichen Malen einer Schlachtenszene ausgerechnet vom Lagerkommandanten Rudolf Höß erwischt, dem Mann, der die Mordmaschine Auschwitz-Birkenau bis zur Perfektion entwickeln sollte.
Nichts geschieht. Der Pferdeliebhaber Höß ist enthusiasmiert, lässt sich weitere Zeichnungen kommen. Diesmal sind es Bleistiftskizzen von Pferdehintern. Höß spricht mit dem Polen. Der möchte einen Ort, an dem die legal erlaubten Zeichnungen für die Lagerbauleitung und andere Institutionen gesammelt werden. Auf Befehl von Höß wird im Stammlager ein Lagermuseum eingerichtet. Dort werden die konfiszierten kulturellen Objekte der Slawen, dann der Juden und Zigeuner zusammengetragen.
Dort wird aber auch abends mit stillschweigender Duldung der KZ-Leitung gemalt. Schnell wird dieser Ort zur Oase für ein Dutzend polnische Künstler. Offizielle Auftragsbilder entstehen, aber auch private für SS-Männer, die ihre Frauen und Freundinnen damit beschenken. Und es entstehen zahlreiche Porträts von Häftlingen aus dem Lager, gemalt aus dem Gedächtnis, Bilder trotziger Würde. Verbotene Bilder. Die kahl rasierten Köpfe bekommen ihr Haar zurück oder ihren Anzug aus der Zeit vor der Haft. Landschaften in Öl werden geschaffen, Sehnsuchtsbilder.
Für Stunden gewinnen die Künstler eine Distanz zur Welt des Grauens. Sie sind in einer privilegierten Stellung wie 150 Kilometer westlich die Maler der Tschechoslowakei im Ghetto Theresienstadt, in dem die SS ein Vorzeigelager errichtet hat zur Täuschung der westlichen Welt. Theresienstadt ist nichts anderes als die Voretappe der inhaftierten Juden auf ihrem Weg in die Vernichtung in Auschwitz. In Theresienstadt versucht die „Jüdische Selbstverwaltung“, die nach Befehlen der SS das Lagerleben zu organisieren hat, die Maler in der „Technischen Abteilung“ vor der Deportation ins Gas zu schützen.
In Theresienstadt wird diese Abteilung „Malstube“ genannt. Fast alle Künstler aus der „Malstube“ sterben am Ende in Auschwitz. Den Polen im Stammlager Auschwitz gelingt es, 70 Prozent ihrer Maler vor der Vernichtung zu retten.
Das Bestehen des Lagermuseums in Auschwitz hing allein vom Kommandanten Höß ab, den die Polen 1947 zum Tode verurteilen und hängen werden – an einem Galgen vor dem Stammlager in Auschwitz. Im Blick auf seine Malerkollegen, denen er helfen wollte, ließ Targosz sich bis ins Privatleben des Massenmörders ein. Er ordnete die Briefmarkensammlung des Kommandanten. Sein Freund, der Maler Mieczyslaw Kóscielniak, Jahrgang 1912, wurde freundlich im Kommandantenhaus von Höß und seiner Frau empfangen, um in dreitägiger Arbeit die gesammelten Kunstgegenstände, geraubtes polnisches Gut, in ihrem Wert zu schätzen.
Es war Kóscielniaks Weg vom schwierigsten Arbeitskommando im Lager zur Rückkehr in die professionellen künstlerischen Fähigkeiten. Misshandelt von einem Aufseher, die Finger zerschlagen, hört ein hinzugerufener SS-Offizier das Deutsch des Häftlings, gibt ihm einen Notizblock und befiehlt, ein Porträt von ihm zu zeichnen. Der SS-Offizier, zufrieden mit dem Bild, teilt ihm eine leichtere Arbeit zu. Am Ende steht Kóscielniak vor Höß.
Kóscielniak ist als Maler bereits vor seiner Inhaftierung ein Spitzenkönner. Wie fast alle polnischen Maler trägt er die künstlerische Tradition des 19. Jahrhunderts in die Staatswerdung eines jungen Polens, das aus all den Teilungen durch andere Staaten zusammengefügt werden soll. Die polnischen Künstler sind konservativ. Doch was heißt das? Kóscielniak kommt ins KZ als der Illustrator des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz, auch Goethes und Shakespeares. Und Kóscielniak ist so einzigartig in seinem Strich wie Alfred Kubin. Kóscielniaks gezeichnete Leidensszenen haben diesen Strich, der die Nacktheit des Leidens so verhüllt, dass es wirken kann auf den Betrachter, dass es offenbar wird für die Schmerzempfindlichkeit der eigenen Haut.
Die Kunst von Auschwitz, wie sie die Berliner Ausstellung offenbart, knüpft erstaunlicherweise an zwei Jahrtausende abendländischer Kultur als Vorstellung von der Suche nach dem Schönen an. Schönheit in Auschwitz: Ist das nicht obszön? Die Meistermaler aus Auschwitz entlassen die Opfer nicht in die Hässlichkeit der Erniedrigung durch die Täter. Sie sehen sie anders als diejenigen, die sie raussäubern wollen aus dem Menschsein. Sie zeichnen und malen sie erkennend, nach einem Wort aus dem Alten Testament, das für Liebe steht. Das illegale Unternehmen der großen Maler in Auschwitz trägt in ihren Kunstwerken den Namen Liebe mitten in einer Situation, die darauf ausgelegt ist, dass die Menschen im KZ Auschwitz wertlos verrecken.
Der polnische Maler Stanislaw Gutkiewicz zeichnete die Gesichter einer Gruppe tschechischer Häftlinge, die im Januar 1942 nach Auschwitz deportiert worden waren und wie die Fliegen starben. Gutkiewicz mit dem nervösen Strich Max Beckmanns wurde vor seinem letzten Porträt an die Todeswand des Blocks 11 gestellt und im Alter von 41 Jahren erschossen.
Wincenty Gawron war einen Monat zuvor die Flucht aus dem KZ gelungen – mit Zeichnungen von Gutkiewicz, die nun in der Ausstellung zu sehen sind. In der Freiheit kämpfte Gawron in einer polnischen Partisanengruppe und überlebte 1944 den von den Deutschen niedergeschlagenen Warschauer Aufstand. Gawron wanderte nach 1945 in die USA aus und kehrte 1989 nach Polen zurück, um zu sterben – am 21. August 1991.
Józef Mrozek kam mit 19 Jahren nach Auschwitz. Er arbeitete im Baubüro und porträtierte als Autodidakt Häftlinge. Marian Ruzamski entdeckte den jungen Mann und verfeinerte dessen Fähigkeiten. 1944 wurde Mrozek ins tschechische Leitmeritz verlegt, in ein Nebenlager des KZ Flossenbürg. Mit einem Freund floh er und wurde erschossen. Sein Freund bewahrte dessen Zeichnungen und gab sie nach der Befreiung nach Auschwitz.
Zufall oder Absicht: Polnische Maler, die Juden waren, fanden keinen Schutz im Lagermuseum des Franciszek Targosz. Der neben Kóscielniak herausragende jüdische Maler Ruzamski musste in den Tod von Bergen-Belsen gehen, während Targosz ebenso wie Kóscielniak bei der Auflösung des KZ Auschwitz ins österreichische Melk, in ein Nebenlager des KZ Mauthausen, kamen, wo sie befreit wurden. Targosz wurde stellvertretender Direktor des Auschwitz-Museums. Kóscielniak, der 1993 im polnischen Slupsk starb, wurde ein berühmter Künstler in seinem Land, der in alle Welt reisen konnte. In neuen Bildern versuchte er, das Leid von Auschwitz zu erfassen, erreichte aber nie mehr die Qualität seiner Bilder aus seiner eigenen Zeit im KZ Auschwitz.
Der traditionelle Antisemitismus ging in Polen auch nach 1945 weiter. Die Erfahrung mit der „Endlösung“ der Deutschen beendete ihn nicht. Nicht unter den Kommunisten und nicht nach 1989. Da ist Kielce, die Bischofsstadt, in der befreite Juden, die die Shoa überlebt hatten, nun von Polen ermordet wurden. Da ist der Streit um Jedwabne im Jahre 2000: Polen hatten 1941 an jenem Ort 1600 Juden bei lebendigem Leib in einer Scheune verbrannt. Ein amerikanisches Buch hatte das Verbrechen öffentlich gemacht. Der polnische Präsident bat um Vergebung. Die Meinung des Volks dazu war ambivalent.
1999 wurde Auschwitz zum Erregungsort, als vor der Gedenkstätte 300 Holzkreuze aufgestellt wurden, die erst durch das Eingreifen des polnischen Papstes wieder verschwanden. Es stimmt: Auschwitz ist nicht nur der größte Friedhof der Juden, sondern auch der größte der Polen. Aber was heißt hier Friedhof? Józef Szajna sagt 2000 in einem Interview mit Ingrid Scheurmann für sein Buch „Kunst und Theater“: „Hast du jemals gesehen, dass lebendige Menschen auf einen Friedhof geschafft werden? Auf den Friedhof werden doch nur Leute gebracht, die gestorben sind und dann zeremoniell beerdigt werden. Hier aber kamen lebendige Menschen – und das gegen ihren Willen. Auschwitz war die letzte Etappe der Menschheit.“
Die Kunst in Auschwitz führt die metaphysische Dimension wieder ein, die die Moderne des 20. Jahrhunderts aufgegeben hatte. Die Avantgarde hatte das herkömmliche Bild als Fessel empfunden und zerbrochen. In Zerstückelung, Deformation, Zusammenhanglosigkeit wurde die Vorstellung einer schockierenden Realität so oft dargestellt, bis sie da war. Der Weg der Avantgarde lief vom Gehabthaben, vom Haben zum Verloren-Sein. Die Kunst von Auschwitz fügt den Menschen und seine Welt wieder zusammen und gibt ihm Ein-Sicht. Ihr Bild des Allein-mit-sich-selbst-Seins ist Blick in den menschlichen Kern und zugleich Weltschau.
Der 33-jährige Jacques Markiel, in Lodz geboren und von Frankreich nach Auschwitz deportiert, ist Arbeiter in der Kohlegrube des Nebenlagers Jawischowitz. Unter Bewachung holt er mit anderen Häftlingen für das Lager Brot aus der Bäckerei des Ortes. Vor ihm steht Anna Krystyna Madej, die Tochter des Bäckers, und schiebt ihm jedes Mal heimlich zusätzlich Lebensmittel zu. Diese „Sonderrationen“ lassen ihn überleben. Markiel malt im Lager Anna leuchtend und schenkt das Bild dem zwölfjährigen Mädchen.
Markiel zeichnet auch den mit ihm in der Kohlengrube arbeitenden zehnjährigen Geza Schein. Der jüdische Junge aus Ungarn schenkte das Porträt einer Polin, die ihm illegal immer wieder Nahrung zuschob und so dafür sorgte, dass er überlebte. Im September 1944 wurde der Junge erst ins KZ Mauthausen, dann nach Buchenwald überstellt.
In Budapest gab es 1973 eine Ausstellung der Gedenkstätte Auschwitz. Die Wochenschrift Nök Lapja veröffentlichte eine Reproduktion des Porträts von dem Jungen mit der Bitte um Identifizierung des Porträtierten. Eine Leserin erkannte in dem Jungen ihren Ehemann. Nach fast drei Jahrzehnten trafen sich der Junge von einst und seine polnische Helferin, die er im Lager „Mama“ genannt hatte.
Der Jude Markiel, der im Januar 1945 nach Buchenwald überstellt wurde und überlebte, ging zurück nach Paris und nahm dort seine Arbeit als Maler und Bildhauer wieder auf. So wie Markiel gingen fast alle jüdischen Maler aus Auschwitz nach der Befreiung in den Westen. In der Registratur der Gedenkstätte heißt es bei den Porträtisten Jean Bartischan, Jacques de Metz, Jean Paul Claude: Schicksal unbekannt. Von dem Zeichner Nathan hat sich nur der Vorname erhalten. Yehuda Bacon, bei der Befreiung gerade 15 Jahre alt, und die 1921 in Warschau geborene Halina Olomucki nahmen ihre Bilder, die bereits Kunstwerke waren, bevor beide Kunst studierten, mit nach Israel.
Um die Porträts der Brünner Jüdin Dinah Gottliebova, die Auschwitz und zuletzt Ravensbrück überlebte, um dann über Paris in die USA zu gehen, wogt seit Jahren eine Auseinandersetzung, wem die sieben erhalten gebliebenen Aquarell-Porträts von in Birkenau inhaftierten Zigeunern gehören. Dinah Gottliebova wurde 1943 im Alter von 20 Jahren nach Birkenau deportiert. Dort wurde sie in das Familienlager gebracht. Der SS-Arzt Josef Mengele wurde auf sie aufmerksam, als sie in der Kinderbaracke des Zigeunerlagers Szenen aus Disneys Filmmärchen an die Wand malte.
Mengele, der furchtbare Menschenexperimentator, beauftragte die Malerin dessen Opfer zu porträtieren. Mit den Porträts gelang es der Malerin, Mengeles Vorstellungen nicht zu verprellen und den Porträtierten dennoch nicht ihre Individualität und Würde zu nehmen. Eine unglaubliche Gratwanderung auf dem Weg zum Kunstwerk.
Dinah Gottliebova-Babbitt, die heute 82-jährig in San Diego lebt, hat nach der Befreiung gesagt: „Ich nutzte einfach meine zeichnerischen Fähigkeiten, um mein Leben zu retten.“ Denn als am 8. Mai 1944 die Menschen des Transports, mit dem Dinah Gottliebova nach Birkenau gekommen war, in den Gaskammern ermordet wurden, blieben sie und ihre Mutter verschont.
Wahrscheinlich hätte die 1918 bei Krakau geborene und seit 1928 in Antwerpen aufgewachsene Jüdin Mala Zimetbaum Auschwitz-Birkenau überlebt, hätte sie nicht die Flucht mit ihrem fünf Jahre älteren Geliebten Edward Galinski angetreten. Dasselbe gilt für ihren Freund, der seit 1940 im KZ inhaftiert ist und als Schlosser und Installateur arbeitet. Beide kommen am 24. Juni 1944 aus dem KZ heraus. Mala Zimetbaum, die 1942 nach Birkenau deportiert worden ist und mit ihren sechs Sprachen, die sie spricht, im Kommunikationssystem der SS eingesetzt ist, hat sich einen Passierschein besorgt. Edward Galinski hat durch Bestechung eines SS-Manns eine Uniform erhalten. Von ihrem Freund bekommt Mala Zimetbaum den Arbeitsoverall der Installateure. Sie gehen durchs Lagertor: sie mit einem Waschbecken über dem Kopf, damit sie nicht als Frau erkannt wird; er als SS-Mann, der den „Installateur“ zur Arbeit ins drei Kilometer entfernte Außenlager zur Arbeit eskortiert. Erst am 6. Juli werden die beiden gefasst – kurz vor dem Übertritt in die Slowakei. In Auschwitz werden sie von dem SS-Folterspezialisten Wilhelm Boger verhört und verraten ihre Helfer nicht. Erst wird Edward Galinski gehängt. An anderer Stelle hört Mala Zimetbaum vor den zum Sonderappell angetretenen Häftlingen des Frauenlagers ihr Todesurteil und schneidet sich mit einer Rasierklinge die Pulsadern auf. Als die 26-Jährige hingerichtet werden soll, schlägt sie dem SS-Mann ihre blutende Hand ins Gesicht. Margita Švalbová aus dem Kreis der angetretenen Häftlinge sagt später, sie habe die Oberaufseherin Mandel brüllen gehört: „Dies Vieh kommt lebend in den Kamin!“
Die 23-jährige Zofia Stepién, die heute in Nowa Huta lebt, porträtiert Mala Zimetbaum mit Buntstiften bereits ein Jahr vor deren Tod. Ein Gesicht bewahren, es lebendig halten: Das zeichnet die Porträtisten von Auschwitz aus. Und wieder ist es Ruzamski gewesen, dem die Nachwelt verdankt, dass der 35-jährige Pole Edward Biernacki mit der frühen Auschwitz-Nummer 1802 nicht vergessen ist. Biernacki wurde 1944 nach Neuengamme überführt und starb mit anderen Häftlingen am 3. Mai 1945 in der Lübecker Bucht auf dem Schiff „Cap Arcona“ bei einem sinnlosen Bombardement der Engländer.
Jedes Bild der Ausstellung in Berlin trägt die Geschichte des Überlebens durch Kunst. Der Betrachter betritt im Schlussteil der Ausstellung einen runden abgedunkelten Raum. Er erkennt sechs Kojen in einem weiteren Rund. An den Außenwänden leuchten die Namen der Künstler. Durch die Öffnungen zwischen den Kojen tritt der Besucher in den Innenkreis, in den Kreis der gezeichneten Gesichter. Der Adam des 20. Jahrhunderts wieder nackt, anfänglich, nicht in der Selbstentblößung der Maskierten der Moderne.
Der Kreis schließt sich auch um den Ausstellungsmacher Jürgen Kaumkötter, der in seiner Heimatstadt Osna-brück den großen und besessenen Ausstellungsmacher Karl Georg Kaster kennen lernte. Einen Kunsthistoriker, der mit seiner Ausstellung des Werkes von Felix Nussbaum 1990 den Weg aus dem Zeugnischarakter dieser Bilder wies ins Bewusstsein einer Kunst, die mehr ist als Zeugnis. Kaster war Kaumkötters Lehrer an der Universität. Kaumkötters Ausstellung, an der er fünf Jahre lang gearbeitet hat, atmet das Kunstbewusstsein seines Lehrers, der 1997 mit 54 Jahren starb, und hat ihn auf den Weg geführt, auf dem das Gedenken nicht geschmälert wird, die Zeugnisse aus dem KZ nicht sakralisiert werden müssen, damit der Betrachter erkennt. Kaumkötters Ausstellung ist die Antwort der Kunst auf das millionenfache Grab in den Lüften.
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