Insbesondere Kinder und Jugendliche litten unter den verordneten Lockdowns während der Pandemie / picture alliance

Perspektiven nach Corona, Teil 1/3 - Über das Monströse reden

In der Corona-Krise wurde Monströses gesagt und getan: Kindern wurden Schuldgefühle eingeredet, Alte mussten allein sterben, Intellektuelle forderten „mehr Diktatur“. Das alles darf, bei allem vorwärtsgewandten Denken, nicht unter den Teppich gekehrt werden.

Autoreninfo

Christoph Lütge ist Philosoph mit Schwerpunkt Wirtschaftsethik. Er ist Inhaber des Peter-Löscher-Stiftungslehrstuhls und Direktor des „Institute for Ethics in Artificial Intelligence“ an der Technischen Universität München. Bis Februar 2021 war Lütge Mitglied des Bayerischen Ethikrats. 

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Die Pandemie ist vorbei, ihre Auswirkungen werden uns noch lange begleiten. Der Philosoph Christoph Lütge versucht in einem dreiteiligen Beitrag zu klären, was in der Coronakrise eigentlich vorgefallen ist und was diese Krise mit uns als demokratischer Gesellschaft gemacht hat. 

„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Immanuel Kant schrieb diese Worte im Jahr 1784. Viele Generationen haben sie an Schulen, Universitäten und anderswo kennengelernt. Sie klingen für viele Ohren oft selbstverständlich oder trivial: Warum sollte ich zum Denken Mut brauchen? Wovor sollte ich Angst haben? Man lacht vielleicht noch über die Unaufgeklärten im 18. Jahrhundert und darüber, wie weit man sich doch von ihnen entfernt hat. Aber haben wir das wirklich?  

Skepsis an der Wirkung der Aufklärung wurde auch schon in der Vergangenheit geäußert. Die Coronakrise hat uns erneut an dieser Wirkung zweifeln lassen, vor allem auch deshalb, weil Meinungsvielfalt, Pluralismus, ja Demokratie doch seit langem eigentlich völlig unstrittig waren. Wie konnte es so weit kommen?  

Diese Frage ist alles andere als trivial: Was ist überhaupt eine angemessene Sprache für das, was vorgefallen ist? Denn das, was vorgefallen ist, ist in vieler Hinsicht monströs. Viele wollen möglichst gar nicht darüber sprechen und lieber vergessen, und das mag verständlich sein. Und dennoch müssen wir es tun: über das Monströse sprechen. 

Manche wollen pauschal alles für richtig erklären, manche pauschal alles für falsch, und so manche wollen auch nicht wahrhaben, dass sie sich geirrt haben. Vor allem aber scheint mir wichtig: Man darf sich – zum gegenwärtigen Zeitpunkt – nicht zu sehr in den Details einer Aufarbeitung verlieren. Die wird kommen, eines Tages. Aber für alle Details ist es zu früh, und sie sind hier auch nicht meine Sache. Ich will möglichst wenige Namen nennen. Versuchen wir, hier etwas mehr im Abstrakten zu bleiben.  

Ich werde auch Vergleiche ziehen, historische und andere. Dabei ist es mir wichtig zu betonen: Ich setze nicht direkt gleich, und ich rechne auch nicht gegeneinander auf. Aber dennoch gibt es für einige der Situationen, für einige Krisenmomente, historische Parallelen. Und darüber muss man als Philosoph sprechen, das ist Sache der Geisteswissenschaften. Sie müssen sich über gesellschaftliche Situationen und Momente vergewissern, sie dürfen dies nicht den anderen überlassen, die (legitimerweise) die Krise beispielsweise aus rein medizinischer, virologischer oder auch ökonomischer Sicht betrachten. Die geisteswissenschaftliche Selbstvergewisserung – die durchaus die anderen Momente heranziehen kann und sollte – muss dennoch auch über diese hinausweisen. Fangen wir an.  

Was ist eigentlich passiert? 

Es ist essenziell, dass wir uns in Grundzügen vergewissern, was in der Coronakrise eigentlich vorgefallen ist, und zwar im Sinne der Frage: Was hat diese Krise mit uns als demokratischer Gesellschaft, mit uns als eigentlich doch aufgeklärten Bürgern gemacht? Zweifellos ist viel Leid zugefügt worden. Durch das Virus, aber auch durch die Maßnahmen, die oft völlig überzogen waren. Aber aus philosophischer Sicht scheint mir etwas anderes zentral zu sein: Menschen wurden als Vernunftwesen nicht mehr ernst genommen. Die Eigenverantwortung und der mündige Bürger wurden komplett entmachtet, vergessen, erledigt.

Und zwar besonders in Deutschland. Während andere Länder wie Schweden durchweg oder wie Dänemark, England, Schweiz, Niederlande, auch Frankreich und viele andere zumindest ab bestimmten Punkten in der Krise klar zur Eigenverantwortung zurückkehrten, konnte sich das Land Kants dazu lange Zeit gar nicht, und dann nur sehr mühselig durchringen. Auch mehr als zweieinhalb Jahre nach Ausbruch der Krise, zweieinhalb Jahre, in denen viele Erkenntnisse gewonnen wurden (von denen man manche auch schon wesentlich früher hätte gewinnen können), agierten viele Politiker so, als ob Bürger kleine Kinder wären, die man obrigkeitsstaatlich behandeln muss, denen man Regeln im Detail vorschreiben und diese dann auch kleinteilig kontrollieren muss.  

Ich möchte zunächst drei Punkte herausstellen, die alle in gewisser Hinsicht an Kant anschließen: Handlungsmacht, Mündigkeit und Würde. 

Handlungsmacht  

Generationen von Geistes- und Sozialwissenschaftlern haben in Bezug auf Krisen der letzten Jahrzehnte immer wieder herausgestellt, dass diese als Resultat menschlicher Entscheidungen zu betrachten seien, nicht als unausweichliche Naturkatastrophen. Ob es um die Klimakrise ging, um Flutkatastrophen oder um Hungersnöte: Durchweg betont die Forschung, dass eine Zurechnung – in der Moderne – letztlich auf menschliche Entscheidungen erfolgen soll.

Ulrich Beck etwa hat dies in seiner „Risikogesellschaft“ herausgestellt. Und Amartya Sen erhielt 1998 den Nobelpreis für Wirtschaft wesentlich für seine Analyse der Hungersnöte in Indien, die diese gerade nicht als unabwendbar, sondern als Ergebnis verfehlter Politik darstellte. Das gilt auch für Flutkatastrophen wie im Ahrtal 2021 oder den Tsunami in Indonesien 2004: Sie sind nicht einfach Naturkatastrophen, sondern ebenfalls Resultate politischer Versäumnisse.  

Aber mir geht es hier um mehr: Es geht darum, dass die Krise nicht allein in der Bedrohung durch das Virus besteht, sondern – was nicht mehr zu bestreiten ist – in den überzogenen Maßnahmen: Die Corona-Krise ist nicht Schicksal oder „Heimsuchung“ (so nannte Merkel es einmal im Oktober 2020), sondern das Ergebnis menschlicher Entscheidungen. Angefangen mit dem plötzlichen Umschwenken erst des CDC im März 2020, dann der WHO etwas später im April, als Jahrzehnte an Erfahrungen im Umgang mit Pandemien über den Haufen geworfen wurden, über die Entscheidungen für Lockdowns oder Maskenpflichten bis hin zum völligen Aussetzen von Grundrechten für bestimmte Bevölkerungsteile aufgrund ihres Impfstatus.

Das alles war nicht notwendig im Sinne von „durch das Virus erzwungen“. Es waren politische Entscheidungen – aber gerne versuchen Politiker, anderen dafür die Schuld zu geben: dem Sicherheitsdenken oder der angeblichen Angst in der Bevölkerung (die man selbst massiv befördert hatte), später dem Ukrainekrieg und Putin, die für die Inflation verantwortlich seien (obwohl diese längst vor dem Krieg da war). Die Handlungsmacht lag bei den Politikern – und diese haben sie in der Coronakrise über das in einer Demokratie Zulässige weit hinaus ausgebaut. Mündigkeit und Eigenverantwortung blieben dabei auf der Strecke.  

Mündigkeit 

Über weite Strecken dieser Krise, wenn nicht gar durchweg, wurden Menschen in Deutschland nicht mehr als mündige Bürger mit der Fähigkeit zur Eigenverantwortung angesehen. Stattdessen operierte man mit Politik im Erziehungsmodus: Politiker sprechen wie zu Kindern. Allerdings merkte die Politik wohl auch, dass dies offensichtlich nicht reichte, weil zumindest ein Teil der Menschen diesen Erziehungsmodus nicht hinnahm, und so arbeitete man zusätzlich mit dem Panikmodus, mit der systematischen Angstmache.  

In kaum einem anderen Land der Welt ist in dieser Krise so systematisch die Angstkarte gezogen worden – bis hin zu jenen Formulierungen, die sich nicht nur einmal oder vereinzelt, sondern durchweg immer wieder an Kinder und Familien richteten: Wenn ihr euch trefft, wenn ihr auch mal gemeinsam Spaß habt, dann sterben die Großeltern. Es ist monströs, es war auch zur Zeit dieser Äußerungen schon monströs, nicht erst im Nachhinein, da es jetzt wahrscheinlich – mit etwas zeitlichem Abstand – auch die meisten zugeben würden. Es ist im Übrigen egal, ob diese Formulierungen sozusagen im Eifer des Gefechts gefallen sind oder von langer Hand geplant wurden, die Wirkung ist die gleiche. Ein solcher monströser Umgang mit Kinderseelen darf sich niemals wiederholen. Und jeder, der so etwas geäußert hat, sollte sich öffentlich entschuldigen. 

Zum Thema Mündigkeit gehören aber nicht nur die Angst- und Panikmache, sondern auch das offenbar bewusste Inkaufnehmen einer vollständigen Erosion zentraler Grundwerte der Demokratie: an erster Stelle Meinungsfreiheit und Pluralismus

 

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Wie konnte es sein, dass nach all den Erfahrungen der deutschen Geschichte, nach zwei Diktaturen, das offene Sagen seiner, übrigens durchaus auch begründeten, Meinung nicht nur zu absurdesten Diffamierungen in der Öffentlichkeit führte, sondern auch zu handfesten Maßnahmen seitens des Staates – der sich offenbar plötzlich in seiner Rolle als Obrigkeit wiederfand und darin wohlfühlte. Menschen mit abweichenden Meinungen wurden aus Positionen entfernt, es wurden gegen sie im Verein mit Medien und anderen Akteuren konzertierte Kampagnen unternommen, die ihresgleichen suchen. Bezeichnend hierfür steht jener Satz des bayerischen Ministerpräsidenten aus dem Frühjahr 2020: „Alles muss in eine Richtung laufen“. Die Antwort darauf kann nur lauten: Nein. Wir sind keine Herde, wir sind keine Lemminge. Und das muss man auch den nachfolgenden Generationen genauso beibringen. 

Diese Kritik richtet sich nicht nur an politische Institutionen und ihre Mandatsträger, sie richtet sich auch an Vertreter gesellschaftlich relevanter Bereiche wie Wissenschaft und Medien. Wie kann es sein, dass nach zwei Jahren Pandemie plötzlich im Sommer 2022 ein Expertenrat den Großteil der über zwei Jahre hinweg für sakrosankt erklärten Maßnahmen für wirkungslos erklärt? Ich habe Lockdowns bereits im Frühjahr 2020 kritisiert und dann noch stärker im Winter 2020/21, wofür ich letztlich aus dem bayerischen Ethikrat geworfen wurde.  

Ich sah die Demokratie und ihre Bürger in der Defensive. Man musste sich verteidigen, gegen die Entmündigung durch die Politik, unterstützt durch Teile der Wissenschaft. Und das darf, bei allem vorwärtsgewandten Denken, nicht unter den Teppich gekehrt werden. Es kann nicht sein, dass jene Wissenschaftler, die in Papieren Maßnahmen für über jeden Zweifel erhaben und für absolut notwendig erklärten, jetzt darüber achselzuckend hinweggehen, was auch heißt, die gigantischen Schäden zu ignorieren, die diese Papiere anrichteten. Und das betrifft etwa auch die Impfkampagne, während der jegliche Art von Zweifel verboten wurde: Wer Zweifel an der Wirksamkeit oder Notwendigkeit von Impfungen (wie übrigens in anderem Zusammenhang auch an der Maskenpflicht) äußerte, gerade auch als Arzt, musste mit schwerwiegenden Nachteilen rechnen oder wurde zensiert. Es ging ja soweit, dass eine bekannte deutsche Tageszeitung im Februar 2021 einen Artikel brachte, der überschrieben war: „Mehr Diktatur wagen“. Monströs. 

Würde 

Den Menschen wurde in der Coronakrise Würde genommen, und zwar jeden Tag. Das galt etwa, um nur zwei Gruppen herauszugreifen, für Sterbende, denen eine letzte Begleitung durch Angehörige verweigert wurde, oder für die aufgrund von Impfstatus-Regelungen Ausgegrenzten – man erinnere sich: Flächendeckende 2G-Regelungen gab es praktisch nur in Deutschland und Österreich. Und es galt insbesondere für die Kinder und Jugendlichen, die gerade in Deutschland eine systematische Drangsalierung erfahren mussten.

Begonnen hatte es mit den unseligen Studien vom Anfang der Krise, die zu zeigen schienen, dass Kinder und Jugendliche eine besonders große Rolle bei der Verbreitung des Virus spielten. Egal, wie viele Befunde in den folgenden zwei Jahren das Gegenteil belegten, das wurde von den Protagonisten der ursprünglichen Studie kaum mehr zur Kenntnis genommen. Erst als es nicht mehr zu bestreiten war, wurde zurückgerudert, und schließlich musste im November 2022 endlich auch Karl Lauterbach einräumen, dass Kinder und Jugendliche keine Treiber der Pandemie waren.

Lesen Sie morgen in zweiten Teil, wie die Demokratie Schaden genommen hat und Konformismus zum neuen gesellschaftlichen Ideal wurde.

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