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Bomben werden den Islamismus nicht besiegen. Stattdessen muss der Westen anerkennen, dass große Teile der islamischen Welt noch immer nach Stammestraditionen leben – und aufhören, sie als unzivilisiert zu beschimpfen
Viele Menschen in Europa und der übrigen westlichen Welt haben nach wie vor erhebliche Berührungsängste mit dem Islam. Die Ursachen hierfür reichen tief: vom Generalverdacht des Fundamentalismus und der Gewaltbereitschaft über die angebliche kulturelle Rückständigkeit bis hin zum latenten Misstrauen gegenüber den im Islam noch sehr starken Stammestraditionen.
Die jüngsten Ereignisse wie die gewissenlosen Mordtaten der IS-Terroristen in Syrien oder der islamistische Terroranschlag von Paris schüren solch tiefsitzende Vorurteile. Rechtsextreme Gruppierungen erhalten Auftrieb in Europa; in Deutschland folgen Zehntausende den Demonstrationsaufrufen einer diffusen Bewegung „gegen die Islamisierung des Abendlandes“. Es besteht die große Gefahr, dass dieses brisante Zusammenspiel von radikalem Islamismus und seiner fälschlichen Gleichsetzung mit dem Islam insgesamt uns weit zurückwirft im gesellschaftlichen Miteinander.
Ehre und Rache als Stammesregeln
Was ist zu tun? Neben vielen drängenden Aufgaben im interreligiösen und interkulturellen Dialog und neben der gerade im Westen noch zu leistenden Differenzierung zwischen gewaltverherrlichendem Islamismus und dem Islam als ehrwürdiger Weltreligion kommt auch den islamischen Stammesstrukturen eine Schlüsselrolle zu. Mit einem „Stamm“ sind Menschen gemeint, die in familiären Strukturen – oft auch Clans genannt – organisiert sind, die von gemeinsamen Vorfahren abstammen. Ihre Politik wird häufig von einem Rat älterer Männer bestimmt, und sie leben nach einem Regelwerk, in denen Ehre, Rache oder Gastfreundschaft eine wichtige Bedeutung haben. Stämme gibt es noch in vielen Teilen der muslimischen Welt.
Der Westen wäre gut beraten, diese islamischen Stammestraditionen nicht länger ins Abseits zu drängen, sondern dafür zu sorgen, dass sie endlich die ihnen zukommenden Autonomie- und Mitbestimmungsrechte zurückerhalten, die ihre Geschichte geprägt haben. Es ist dringend an der Zeit, in einen umfassenden Dialog einzutreten, um den Stammesgesellschaften eine faire Teilhabe an der Zukunft zu ermöglichen. Ohne die Einbeziehung und Unterstützung der friedlichen islamischen Stämme wird weder die Überwindung des islamistischen Terrors noch die Befriedung der von Krieg und Bürgerkrieg gebeutelten Region des Mittleren Ostens nachhaltig gelingen.
Die Stammeskultur im Islam war lange Zeit geprägt von Stabilität und Kontinuität. Für den modernen Liberalismus westlicher Prägung war sie eigentlich vorbildhaft: Die meisten Stämme zahlten keine Steuern und lehnten häufig jede Form von zentraler Autorität ab. Als Herren über die Wüste und die Berge waren sie in jeder Hinsicht frei.
Europäer verachteten die Stammesgesellschaften
Auch die zeitweise Existenz von zentralistischen muslimischen Sultanaten konnte zwar den Herrschaftsbereich der Stämme beschneiden, sie aber nicht dauerhaft in ihrer Rolle zurückdrängen. Innerhalb der großfamiliären Stammesstrukturen war Bildung über die Koranschulen organisiert, Rechtsprechung über die Scharia-Gerichte. Die Stammesältesten überlieferten Tradition und Ehrenkodex an die nächste Generation. Gegen zu starke Zentralisierungsbestrebungen und militärische Bedrohungen setzten sich die Stämme über Jahrhunderte sehr erfolgreich zur Wehr und bewahrten so ihre weitgehende Autonomie.
Diese vertraute Ordnung geriet mit der Kolonialisierung durch die Europäer schlagartig ins Wanken. Die Stammesgesellschaften wurden zur verachteten Peripherie einer entfernten, fremden Imperialmacht, die bedingungslose Unterwerfung erwartete.
Die blutigen Kämpfe, die mit dem Ansturm des europäischen Imperialismus begonnen hatten, hörten mit dessen Rückzug keineswegs auf. Das wohl schwerste Erbe, das die Europäer der Region hinterließen, ist die überstürzte und historisch unsensible Grenzziehung zwischen den neu entstandenen Nationalstaaten, die die gewachsenen Stammesstrukturen vollständig missachtete.
Verlockende Aussicht auf Unabhängigkeit
Die tragische Konsequenz dieser typisch westlichen Art, für „Ordnung“ zu sorgen, war die gewaltsame Trennung von Angehörigen derselben Clans. Stammesbrüder, die das gleiche Ackerland bewirtschaftet hatten und deren Kinder untereinander verheiratet waren, brauchten plötzlich Ausweispapiere, um sich gegenseitig zu besuchen. Die uralte Gemeinschaft der Kurden etwa wurde zerrissen in ein halbes Dutzend unterschiedlicher Staaten des Nahen Ostens, die sich häufig untereinander bekriegten.
Das Ende der Kolonialzeit sollte die verlockende Aussicht auf Unabhängigkeit bieten. Doch die Idee entpuppte sich als Chimäre, deren Schöpfer wenig Ahnung davon hatten, wie diese Unabhängigkeit in der Praxis aussehen sollte.
Die Stammesangehörigen verstanden unter Unabhängigkeit eine Staatsform, unter der sie zwar Teil der modernen Welt werden, aber zugleich ihre traditionellen Lebensweisen fortführen konnten. Die städtischen Eliten gingen davon aus, die Rechte und Privilegien aus der Zeit der früheren europäischen Kolonialherren zu behalten. In der Realität ließ sich keine dieser Vorstellungen umsetzen.
Saudi-Arabien als Nutznießer der Moderne
Einige wenige, dominierende Stämme hatten mit dem modernen Staat das große Los gezogen. Sie besetzten die Schaltstellen der Macht und schusterten sich unermessliche Reichtümer zu. Saudi-Arabien ist das beste Beispiel für eine solche „Erfolgsgeschichte“.
Andere Staaten wie Libyen brachten Diktatoren hervor, die sich einer abstrusen Mischung aus fremden Ideologien bedienten, um rücksichtslos ihre persönliche Agenda durchzusetzen. Sie besetzten sämtliche Schlüsselposten mit Verwandten und hielten die übrigen Stämme des Landes mit einer Art Lehnssystem unter Kontrolle. Diese Machteliten waren die Nutznießer der Moderne, so wie ihre Nachfahren von der Globalisierung profitieren sollten – zumindest eine Zeit lang.
Binnen weniger Jahrzehnte verwandelte sich die fein kalibrierte Balance zwischen Zentrum und Peripherie in eine Asymmetrie. Als die Zentralregierungen – oft mit offener oder verdeckter Unterstützung aus dem Ausland – Zugriff auf Panzer, Kampfflugzeuge und moderne Militärtechnologie bekamen, spitzte sich die Lage weiter zu.
Die Akteure der lokalen Machtspiele stellten schnell fest, dass sie sich über negative internationale Presse wegen eklatanter Menschenrechtsverletzungen keine Gedanken machen mussten. Im Westen interessierte man sich wenig für das Schicksal rückständiger Stämme in entlegenen Weltregionen.
Teufelskreis aus gegenseitigen Schuldzuweisungen
So wurden militärische Angriffe auf die Peripherie immer mehr als „legitimes Mittel“ begriffen, um die Autorität des Staates aufrechtzuerhalten. In logischer Konsequenz wurden die Stammesangehörigen als Rebellen oder Schurken gebrandmarkt – nach den Anschlägen vom 11. September schließlich pauschal als „Terroristen“. Die erhofften Vorteile durch die Unabhängigkeit lösten sich für die Stammesgesellschaften damit endgültig in Luft auf.
Stattdessen entstand ein Teufelskreis aus gegenseitigen Schuldzuweisungen. Der Westen betrachtet die islamische Peripherie als unzivilisiert und primitiv. Die Bewohner der Peripherie wiederum halten die westlichen Machtzentren für korrupt und räuberisch. Dieses zerstörerische Ritual gilt es zu durchbrechen, damit den islamischen Stämmen Aufmerksamkeit und Mitbestimmung nicht länger verwehrt bleiben. Damit würde zugleich eine Quelle der Radikalisierung versiegen.
Derzeit sorgen in diversen Länden wie Libyen, Jemen und Afghanistan islamische Stammesfehden untereinander oder gegen den Staat für viel Brisanz und Fanatismus. Eine kluge Verständigungspolitik erkennt die Stammesstrukturen des Islam an und unterstützt sie auf ihrem Weg in die Moderne. Das ist zugleich die beste Antwort im Kampf gegen den pervertierten Islamismus, mit dem auch die islamischen Stämme nichts zu tun haben wollen.
Fotos: picture alliance, The Globalist
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