- Lieber aufziehen statt schreddern
Kolumne: Stadt, Land, Flucht. Es waren einmal acht Eier, die lagen in einem Plastikinkubator. Nach zwanzig Tagen fing eines von ihnen an zu piepsen. Eine besorgte Ziehmutter berichtet
Die nächsten Tage werden zeigen, ob es überlebt. Jetzt liegt es da, der Flaum ist nass und klebt an der rosa Haut. Die kleinen eingefallenen Rückenhälften heben sich schnell im Atemrhythmus, seine Augen sind unter einer dünnen Membran versteckt.
Bevor es aus dem Ei geschlüpft ist, hat es uns Sorge bereitet. Wir erleben gerade unsere erste Hühnergeburt. Das bedeutet, dass wir Fragen zu Verhalten, Fütterung und Aussehen googeln. Wir googeln viel dieser Tage.
Hatten die anderen beiden – einen Tag zuvor geschlüpften – Küken nicht sofort ihre Augen aufgemacht? Sie konnten so schnell auf eigenen Füßen stehen! Nach wenigen Stunden begannen sie, von dem gekochten Ei mit Haferflocken und Petersilie zu picken.
Diesem dritten Sorgenhuhn haben wir bei der Geburt geholfen. Das ist sehr umstritten, wie unter www.huehner-info.de nachzulesen ist. Denn nur gesunde Hühnchen schaffen demnach auch den Weg aus dem Ei. Mit einem Eingriff unterbinde man die natürliche Auslese. Wir haben das Küken trotzdem geholt, sozusagen aus dem Ei gepellt. Aber so sieht es nun nicht aus. Stattdessen regt es sich selten und nur sehr holprig. Dann wieder liegt es schlapp darnieder. Man könnte meinen, es sei tot – wenn sich die Haut nicht heben und senken würde.
Erst seit etwa einem halben Jahr legen unsere Ramelsloher Hühner Eier. Sie kamen zu uns, da waren sie erst ein paar Wochen alt. Schmal waren sie und staksten auf ihren für ihre Rasse typischen langen bläulichen Beinen im Gras herum. Den kleinen Hahn erkannten wir nur an seinem niedlichen Minikamm. Heute ist er ein stolzer, ziemlich aggressiver Macho. Und er hat seine ersten Kinder gezeugt.
Zuspruch für ein taumelndes Sorgenhuhn
Die nassen skelettartigen Minikörper der beiden Geschwister haben sich schnell in weichen gelben Flaum verwandelt. Zwischen ihnen taumelt nun das Sorgenhuhn unter der Rotlichtlampe von einer Ecke in die andere und versucht, auf seinen drei langen Vorder- und der einen kurzen Hinterzehe zu stehen. Langsam trocknet sein Flaum, es raschelt, wenn es unkoordiniert mit seinen etwa drei Zentimeter langen Flügeln über die untergelegte Zeitung schubbert. Wir hatten Angst, dass die beiden Geschwister es anpicken oder drauf herumtrampeln würden, aber sie stehen aufrecht piepsend daneben, putzen an ihrem Gefieder herum und scheinen ihrem neuen Kompagnon Mut machen zu wollen.
Und wir, die Zieheltern, stehen sorgenvoll dreinblickend an der Wiege, der Hühnerkiste. Bevor wir die Eier in den Brutkasten legten, habe ich eines von ihnen in der Hand gehalten. Wissend, dass ich es nicht in einen Kuchenteig schlagen oder als Spiegelei verbraten werde, sondern dass daraus ein Lebewesen werden soll, hatte ich das Bedürfnis, es an meiner Haut zu wärmen.
Heute, zwei Tage nach der Geburt des kleinen Hinkebeins, scheint alles gut zu gehen. Das Küken wächst, es frisst, nur humpelt es ein bisschen. Es ist nicht perfekt, aber es wird überleben und im Frühling mit seinen beiden Geschwistern raus auf die Wiese laufen. Und ich bin sehr froh darüber.
Sie fragen sich vielleicht, wieso diese alltägliche Geschichte es verdient, aufgeschrieben zu werden. Schließlich werden noch immer täglich tausende männliche Küken in Deutschland zu Tode geschreddert oder vergast, weil nur ihre weiblichen Geschwisterchen von der Geflügelindustrie gebraucht werden.
Na, genau deswegen.
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