- Zeitenwende in Tokio
In Japan konnten die Liberaldemokraten des ermordeten Ex-Premiers Shinzo Abe am Wochenende einen bemerkenswerten Wahlsieg erringen. Das lag sicher auch an der schrecklichen Tat. Aber im Kern haben die Japaner über ihre künftige Rolle als Militärmacht abgestimmt und die Zeiten des Verfassungspazifismus hinter sich gelassen. Im Bündnis mit den USA entsteht ein neuer Machtblock gegen China.
Nach der Ermordung des ehemaligen japanischen Premierministers Shinzo Abe am vorigen Freitag errang seine Partei am Wochenende eine überwältigende Mehrheit bei den Parlamentswahlen. Die Liberaldemokraten haben sicherlich viele Sympathiestimmen wegen Abe erhalten, aber das Wahlergebnis war größtenteils eine Aussage darüber, wie die japanische Öffentlichkeit zu der wichtigen Frage des Artikels 9 steht, der einst unter der Aufsicht von Douglas MacArthur, dem Befehlshaber der US-Besatzungstruppen in Japan, in die japanische Verfassung aufgenommen wurde. Artikel 9 untersagte Japan die Anwendung jeglicher militärischer Gewalt. Dies war eine Entscheidung, die Washington später bereute.
Nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte sich Japan dramatisch. Das Land wurde zu einer Demokratie und erlebte ein bemerkenswertes Wirtschaftswachstum. Die Vereinigten Staaten brauchten im pazifischen Raum Verbündete gegen die Sowjetunion, und Japan befand sich in einer entscheidenden geografischen Lage. Der wichtigste sowjetische Hafen im Pazifik war Wladiwostok, aber sowjetische Schiffe konnten den weiteren Pazifik nicht erreichen, ohne die engen Passagen zwischen Japans großen Inseln zu durchqueren.
Der japanische Pazifismus-Artikel
Während des Kalten Krieges suchten die Sowjets nach verschiedenen Möglichkeiten, eine größere Seestreitmacht im Pazifik zu stationieren. Die USA befürchteten, dass Japan ohne bedeutende eigene See- und Luftstreitkräfte den engen Korridor gegen die Sowjets nicht halten könne. Amerika verfügte zwar selbst über die erforderlichen Luft- und Seestreitkräfte, wollte aber angesichts der sowjetischen Herausforderung in Europa und im Atlantik keine Truppen nach Japan abziehen. Also versuchte Washington, Japan aufzurüsten: Das Land stellte keine Bedrohung für die Vereinigten Staaten dar – und sollte über eine Blockadekraft gegenüber den Sowjets verfügen.
Doch die Japaner weigerten sich und beriefen sich auf Artikel 9 – den, wie Tokio hervorhob, die Amerikaner ja selbst in die japanische Verfassung geschrieben hatten. Washington versuchte dennoch, japanische Ressourcen zur Unterstützung der US-Ziele einzusetzen. Die Japaner wiederum hielten an einem Verfassungspassus fest, der für sie zwar eine historische Bürde darstellte. Doch Tokio hatte keine Lust, viel Geld für eine Marine auszugeben. Und zog es stattdessen vor, massiv zu investieren – etwa in die Autoindustrie, die später die amerikanischen Autohersteller herausfordern sollte.
Mehrere japanische Regierungen verschiedener Parteien verteidigten Artikel 9, bis der Oberste Gerichtshof Japans entschied, dass Tokio nicht auf eine militärische Streitmacht zur Verteidigung Japans verzichten könne. Das Argument lautete, eine Regierung sei quasi von Natur aus verpflichtet, ihr Volk zu schützen, und dass deshalb eine auf die Verteidigung Japans beschränkte Streitkraft geschaffen werden müsse.
Seitdem hat Japan eine bedeutende militärische Streitmacht aufgebaut, hat aber gleichzeitig das Prinzip von Artikel 9 beibehalten und den Umfang der Unterstützung, die es für die USA im Pazifik leisten würde, begrenzt. Als drittgrößte Volkswirtschaft der Welt verfügt Japan über genügend Ressourcen für eine schlagkräftige Armee, und eine solche Armee könnte das Land auch in die Lage versetzen, amerikanische Militärinteressen in der Region zu wahren. Kürzlich hat Tokio jedoch sein Bekenntnis zu den Grundsätzen von Artikel 9 überstrapaziert, als es erklärte, Taiwans Sicherheit sei für die Verteidigung Japans unerlässlich. Denn sollte Taiwan in chinesische Hände fallen, könnte China den Süden Japans bedrohen.
Japanische Zeitenwende
Damit sind wir in der Gegenwart und bei den Wahlen vom Wochenende angelangt. Die Liberaldemokratische Partei des verstorbenen Premierministers hat sich nachdrücklich für eine Änderung der Verfassung ausgesprochen, um Artikel 9 zu streichen. Dies würde es Japan ermöglichen, ein Militär zu unterhalten. Es würde Japan auch in die Lage versetzen, den Zweiten Weltkrieg mental hinter sich zu lassen, indem es eine Einschränkung aufgibt, die es von allen anderen Ländern unterscheidet. Japan würde auf diese Weise zu jener Großmacht, die es seit Jahrzehnten sein könnte, dies aber bisher vermieden hat. Und zwar sowohl wegen der Erinnerung an frühere Zeiten als auch, weil es den Risiken und Herausforderungen einer Großmacht aus dem Weg gehen wollte.
Der Verzicht auf Artikel 9 ist für Japan jetzt attraktiv, da China aggressiver geworden ist – zumindest rhetorisch. Als bedeutende Macht könnte Japan China abschrecken oder sogar einschüchtern, wenn es im Bündnis mit den Vereinigten Staaten auftritt. Ein aufgerüstetes Japan wäre ein wertvollerer Partner für die Vereinigten Staaten, aber es würde Tokio auch eigene Optionen geben, falls Washington im Krisenfall nicht genügend Streitkräfte zum Schutz Japans entsendet.
Japan ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Und das Land hat gegenüber China den Vorteil, dass es eine sozial weitaus stabilere und homogenere Gesellschaft bildet. China hingegen muss seine Sicherheitskräfte für die Polizeiarbeit im eigenen Land einsetzen, was bedeutet, dass die tatsächliche Größe von Chinas konventionellen Streitkräften geringer ist, als es scheint. Japan braucht sein Militär nicht für polizeiliche Aufgaben im Inland, so dass seine Investitionen in die Sicherheit auf die Landesverteidigung und die Machtprojektion ausgerichtet werden könnten. Damit wäre Japans Militär nicht unbedingt größer als die chinesischen Streitkräfte, aber es hätte eine Armee, die sich China widersetzen könnte.
China befindet sich mitten in einer Wirtschaftskrise. Meiner Meinung nach wird dies zu erheblichen innenpolitischen Spannungen führen. In Japan ist es weniger wahrscheinlich, dass es zu einer transformativen Wirtschaftskrise kommt. Das Land stand in den 1990er-Jahren vor einer solchen Krise und überwand sie mit dem, was amerikanische Investoren aus mir unverständlichen Gründen als „verlorenes Jahrzehnt“ bezeichnen. Klar ist jedoch, dass Japan eine große Krise ohne größere soziale Unruhen überstanden hat. Japans innere soziale Disziplin trägt zu seiner Fähigkeit bei, eine umfassende militärische Macht aufzubauen und seine Wirtschaft wachsen zu lassen.
Neue geopolitische Realität
Die Entscheidung Japans, eine nicht unbedeutende Selbstverteidigungsstreitmacht aufzubauen, wird die geopolitische Realität im Pazifik verändern. China liegt bereits im Clinch mit den Vereinigten Staaten, die in extremer Entfernung von ihrem eigenen Territorium operieren. Washington kann dies leisten, aber die Japaner könnten eine gleichwertige oder sogar eine führende Rolle übernehmen. Die Kosten und Risiken der Eindämmung Chinas würden dann für die Vereinigten Staaten sinken. Dies würde auch die informelle Quad-Allianz stärken, der Australien, Indien, Japan und die Vereinigten Staaten angehören. Die amerikanische Kontrolle über den westlichen Pazifik würde von amerikanischen Sicherheitsgarantien abhängen, aber nicht mehr von einer kontinuierlichen, groß angelegten Präsenz.
Dies alles setzt voraus, dass die USA und Japan ihre Allianz aufrechterhalten. Sie hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg als eine Beziehung zwischen Ungleichen bewährt. Japans Militär wird die amerikanischen Streitkräfte nicht übertreffen, und die USA garantieren offene globale Wasserwege. Japan wäre dazu allein nicht in der Lage, und als wichtiger Exporteur von Waren und Importeur von Rohstoffen ist Japan auf die globale Präsenz der USA angewiesen. Anders als vor dem Zweiten Weltkrieg teilen die USA und Japan daher entscheidende Interessen in einer Beziehung, die über mehrere Generationen hinweg aufgebaut wurde.
Ein Bündnis zwischen der größten und der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt, in dem Japan auch über eine bedeutende Streitmacht verfügt, würde das Machtgleichgewicht im Pazifik neu definieren, ohne dass die Gefahr von Unstimmigkeiten besteht. Zumindest in absehbarer Zukunft.
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als die Mongolen es versuchten, auf die Insel zu übersetzen u. dank des Sturms, wurden die Japaner der barbarischen Invasion verschont.
1905 Tsushima; 1941 Pearl Harbor sind Markenzeichen des militärischen Könnens Japans. Pflichtlektüre an jeder Militärakademie.
Und: Es geht nicht nur um VRC, sondern auch um aktuelles Russland, mit dem imperialen Faschorassisten im Kreml, der nur die Sprache der Gewalt versteht, wie es Gangster untereinander pflegen.
Bis heute verlangt Japan 4 Kurilen Insel zurück, die Sowjets nach A-Bomben Abwurf, aus imperialistischem Gier, besetzten. Deshalb gibt's bis heute keinen Friedensvertrag zw. Japan & Russland. Wofür das kremlsche Botox-Monster der beste Garant ist.
die Anwendung jeglicher militärischer Gewalt. Dies war eine Entscheidung, die Washington später bereute."
Nun, das nehme ich ihnen, Herr Friedman, ohne wenn und aber ab. Übrigens sollten sie ja ein Fried-licher-man(n) sein.
Als wenn Konfrontation jemals zu etwas Gutem geführt hätte.
"Washington kann dies leisten,... sagen sie, aber wer die Kosten tragen soll, ist nicht erwähnt.
"Kanjō atte, zeni tarazu"
Wenn es auch Wahnsinn wäre. Aber mit Russland als Partner ginge es. Ich glaube nicht, dass Japan über eine nukleare Bewaffnung nachdenkt. Andererseits ist die Tonnage an aktuellen Kriegsschiffen der Chinesen beträchtlich und es würde die USA erheblich entlasten. Insbesondere da sie sich wieder verstärkt in Europa engagieren. Die USA können sich nur selbst gefährden und sie sind ziemlich erfolgreich dabei. Die Krise der Mittelklasse, die Defizite bei der Gesundheitsversorgung, Kriminalität und Schusswaffenopfer in kriegsähnlichen Dimensionen in Kombination mit einer extrem hohen Rate an Inhaftierten würden in Europa und Japan niemals akzeptiert und als Anzeichen einer drohenden Anomie gewertet werden. Wir werden sehen. So macht sich einer um den anderen Sorgen.