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- „Die Schuldfrage gehört zur Propagandafront“
Was machte den Ersten Weltkrieg zum Weltkrieg? Ein Gespräch mit dem Publizisten und Historiker Jörg Friedrich, dessen Buch „14/18: Der Weg nach Versailles“ vor Kurzem erschienen ist. Vor hundert Jahren begann der Krieg, der für Friedrich einen "Zivilisationsbruch" markierte
Machen wir es kurz, Herr Friedrich: Wer war schuld am Ersten Weltkrieg?
Das deutsche Publikum ist schuldverliebt. Aber schuld ist jemand an einem Verkehrsunfall, nicht an dem gegenseitigen Abschlachten von Abermillionen Leuten.
[[{"fid":"62854","view_mode":"copyright","type":"media","attributes":{"height":226,"width":150,"style":"float: left; margin-left: 5px; margin-right: 5px;","class":"media-element file-copyright"}}]]War der Erste Weltkrieg nicht der größte anzunehmende Verkehrsunfall der Geschichte?
Stellen Sie sich vor: Alle Autos in Europa fahren mit Karacho aufeinander los. Sieht einer ein Auto, gibt er Vollgas und hält darauf zu. Die Autos sind bald Schrott, es werden neue gebaut – eigentlich nur noch Autos für Zusammenstöße, der Rest ist zweitrangig. Die nächsten Jahrgänge bekommen den Führerschein. Das läuft zwei, drei Jahre mit wachsender Wut. Fragen Sie danach, wer 1914 als Erster falsch geblinkt hat? Man will doch wissen, warum diese Menschen nicht aufhören. Wovon sind sie besessen? Um dieser Frage auszuweichen, sagt man, ein Schuldiger habe damit angefangen.
Schuld ist keine historische Kategorie?
Nein. Niemand fragt, wer schuld gewesen sein soll an der Reformation oder der Völkerwanderung. Das ist Quatsch.
Im Krieg aber war die Frage von Belang.
Die Schuldfrage gehört zur Propagandafront. Jede Regierung muss ihren Soldaten sagen, warum sie sie ins Sterben schickt. Krieg meint Töten und Sterben. Seine Materie sind das Herz und das Fleisch der Soldaten. Ist die Armee nicht mehr zum Sterben bereit, ist der Krieg beendet. Den Männern wird in Verdun gesagt, ihr seid hier, an einem militärisch letztlich unbedeutenden Platz, um zu sterben. Ihr verblutet nicht, weil die Regierung politisch friedensunfähig ist, sondern weil der Feind keine Wahl lässt. Am Ende hat man zehn Millionen Tote, und die Welt ist schlechter als vorher.
Historiker nehmen Schuldzuweisungen vor. Sean McMeekin hat soeben in seinem Buch „Juli 1914“ das Zarenreich für den Ersten Weltkrieg verantwortlich gemacht. Deutsche Historiker wie Gerd Krumeich oder Volker Berghahn sehen die Hauptverantwortung bei Wilhelm II. oder „vor allem in Berlin und Wien und weitaus weniger in London, Paris oder St. Petersburg“.
An Torheiten Kaiser Wilhelms und an Brutalitäten des deutschen Oberkommandos mangelte es nicht. Ich muss meinen Kollegen insofern zustimmen, als es Wilhelm möglich gewesen wäre, seine Solidarität mit Österreich-Ungarn aufzukündigen. Aber eines hat er richtig gesehen. Österreich-Ungarn wollte mit den serbischen Nationalisten abrechnen, weil sie diesen ganz sympathischen Vielvölkerstaat abwracken wollten. Die schlauen Serben ließen sich aber auf eine politische Lösung ein, und Wilhelm sah darin am 28. Juli 1914 morgens einen glänzenden diplomatischen Sieg. Krieg sei nun überflüssig. Er wollte nicht nach Osten marschieren, gegen seinen Vetter, Zar Nicolai, nicht nach Westen, gegen die französische Republik, geschweige denn nach Norden, gegen die eigene Familie in England.
Es kam anders.
Deutschland hatte 1914 keine Ziele bei den Nachbarn. Es musste aber seinen Beistandsvertrag mit Österreich erfüllen. Sofern Russland sich in den österreichisch-serbischen Konflikt einmischte, bestand für Wilhelm sonnenklar Bündnispflicht. Diese hörte auf, als Serbien zu 99 Prozent eingelenkt hatte. Da machten die Russen jedoch schon seit zwei Tagen mobil. Alle Parteien hätten am 29. und 30. Juli bequem aussteigen können, aber jeder machte Ernst, aus der Angst, sonst zu verlieren. Das war das Hauptmotiv Wilhelms.
Wie erklären Sie sich bei so viel Friedensliebe in Berlin die berühmte Aussage des Generalstabschefs Moltke vom Mai 1914, es bleibe „nichts anderes übrig, als einen Präventivkrieg zu führen“, ehe „die militärische Übermacht unserer Feinde“ zu groß geworden sei?
Präventivkrieger gibt es überall, damals wie heute. Die Militärs haben einen, wie sie meinen, genialen Plan in der Schublade und wollen losschlagen, solange die Chancen gut stehen. Nur wollten Kaiser Wilhelm und sein Kanzler Bethmann Hollweg Ende Juli eben nicht marschieren, solange sie sich sicher sein konnten, dass die andern nicht marschieren. Dann kam Moltke, wusste, dass die Russen schon unterwegs waren, und fand die Gelegenheit günstig.
In der deutschen Schublade lag der untaugliche Schlieffen-Plan. Man wollte Frankreich binnen sechs Wochen niederwerfen und sich dann nach Russland wenden.
Alle Kriegspläne waren untauglich, der französisch-russische „Plan XVII“ noch viel mehr. Der Schlieffen-Plan fußte auf der Annahme, dass die Deutschen halten konnten. Sie standen aber dann vier Jahre an vier Fronten, in Russland, in Frankreich, auf dem Balkan und unter der See gegen England. Im Osten und Südosten haben sie schließlich gewonnen und im Westen verloren. Dieses geteilte Resultat wird gern übersehen, aber ohne das versteht man rein gar nichts.
Der „Zivilisationsbruch“, schreiben Sie, ereignete sich trotz geringerer Opferzahlen an der Westfront: „Zum ersten Mal behauptete das weltbeherrschende Europa, dass es allenfalls ein geografischer Begriff sei, aber kein Zivilisationshort. Wer die Kathedrale von Reims mit Krupp-Kanonen beschießt, gehört offensichtlich nicht dazu, und wer mit Seeblockaden das Aushungern von Kindern und Kranken bezweckt, auch nicht.“
Die Blockade der Nordsee von Ende 1914 an ist für rund 800 000 Ausgehungerte in Deutschland verantwortlich. Die Engländer riegelten die maritimen Zufahrtswege ab, auch jene, die über die neutralen Häfen führten, also norwegische, dänische, holländische Häfen. Deshalb fehlten den Deutschen Medikamente, Fette und Früchte. Das ist eben totaler Krieg, ohne Rechtsschranken. Ein massives Sterben der Schwächsten in der Gesellschaft war die Folge. Mit europäischer Zivilisation hatte das nichts zu tun.
Ebenso wenig wie die deutschen Gräuel beim Durchmarsch durch Belgien. Diese aber hätten sich „im Rahmen des bei Belgiern und Briten, Franzosen und Amerikanern Üblichen“ bewegt. Heute, lese ich bei Ihnen, falle ein „Kleinkrieg in Irak oder Libanon weitaus gräulicher aus“.
Nach scharfer Berechnung durch zwei britische Kollegen sind den deutschen Gräueltaten, die es natürlich gab und die schrecklich waren, rund 3000 Zivilisten zum Opfer gefallen. Der Anti-Partisanenkrieg ist aus sich heraus rechtlos und blutig. Wenige Jahre zuvor starben im Burenkrieg der Engländer in Südafrika 40 000 Zivilisten in den concentration camps. Das entnehme ich dem „Oxford Military Dictionary“.
Durchgesetzt hat sich das Bild vom hässlichen Deutschen, nicht Engländer.
Seltsam, oder? Krieg ist nie eine Bewährungsstätte der höheren Moral. Mit welchem Recht blockierte man Holland? Damit die Holländer nichts weiterverkaufen an die Deutschen. Wenn wir die österreichisch-ungarischen zu den deutschen Hungeropfern hinzuzählen, kommen wir auf über eine Million getöteter Zivilisten, darunter die Ärmsten der Armen, die Ältesten, Kränksten und Jüngsten. Das ist die Härte des Krieges. Die Deutschen haben keinen Grund, sich darüber zu empören. Sie haben ihrerseits über die Ostsee versucht, Russland zu blockieren. Es gab in diesem Krieg nicht die Rechtstreuen und die Rechtsuntreuen, sondern nur die moralische Pflicht, den Krieg zu gewinnen. In der Wahl der Mittel sehe ich überhaupt keinen Unterschied zwischen der deutschen und der alliierten Seite. Nur dass Letztere zigmal mehr Ziviltote verursacht hat. Aber es waren deutsche Kriegsschuldige, die keine Rücksicht verdienten.
Die alliierte Seite hätte ohne den Eintritt der USA nicht gewonnen.
Der militärische Beitrag der Amerikaner war minimal. Aber die USA haben bereits vor Kriegseintritt 40 Prozent des alliierten Materials geliefert. Die Bezieher haben sich dabei ruiniert, und die Lieferanten wurden steinreich.
Der Kriegsschuldartikel im Versailler Friedensvertrag befand sich im Abschnitt über Reparationszahlungen. Wurden die Deutschen Opfer einerseits der Gräuel, andererseits der Gräuelpropaganda, mit der der Krieg begonnen hatte?
Die Propagandafront ist eine Front wie der Schützengraben. Es wird geschossen mit Granaten, Kugeln, Gas und mit Verleumdung, Propaganda, Desinformation. Man muss den Feind dämonisieren. Gegen einen Feind, den man schätzt, zieht der Soldat nicht ins Feld. In britischen Feldpostbriefen steht: Wir befinden uns auf einem Kreuzzug gegen den Auswurf des Menschengeschlechts. Es sei ein Krieg der Zivilisation gegen die Barbarei. Der Kreuzzug ist von 1915 an der beherrschende Kriegsgrund der Entente.
Wurde die entscheidende Schlacht an der Propagandafront verloren?
Eindeutig. Die Gräuel beim Durchmarsch durch Belgien drangen bis in die USA und sorgten für Abscheu, die Folgen durch die Hungerblockade blieben versteckt. Bis heute befassen die Historiker sich kaum mit den Aberhunderttausenden deutschen Toten. Man müsste systematisch die Akten der Krankenhäuser sichten.
Das bringt uns nicht der Antwort auf die Frage näher, warum das „Weltfest des Todes“ (Thomas Mann) bis zum bitteren Ende ausgefochten wurde.
In der Tat. Der Zivilisationsbruch besteht nicht darin, dass Krieg geführt wurde. Nein, hier wurde ein Krieg geführt, bei dem das militärische Instrumentarium nicht den leisesten Erfolg zeigte. Krieg soll eine gewaltsame Lösung von Streitfragen sein, die sich politisch nicht lösen ließen. Hier war es anders. An der Westfront standen sich vier Jahre lang zwei gleich starke Heere gegenüber und trugen Schicht für Schicht vom Leben ihrer jungen Männer ab. Die europäische Zivilisation mit ihren zentralen Begriffen Staatskunst, Humanität, Mitmenschlichkeit und Bruderschaft in Christo hatte ausgespielt. Europäer, die seit der Neuzeit die Heiligkeit des Lebens und die Kostbarkeit des Individuums hochgehalten hatten, steckten nun wie Ratten in den Löchern, lebten mit den Leichen, infizierten sich – und kriegten es nicht fertig, sich in Stockholm oder Bern von Staatsmann zu Staatsmann diskret zu unterhalten.
Der Krieg als eine riesige Dialog- und Kommunikationskatastrophe?
Er war eine Tragödie. Ein Krieg, der begonnen wurde, um die Völker der Monarchie beieinanderzuhalten, hinterließ eine instabilere, verstörtere, ärmere, verzweifeltere, unglücklichere Welt als jene von 1914. Dass Deutschland Republik wurde und alle zwei Jahre einen neuen Kanzler bekam, wiegt die Toten nicht auf, die Krüppel. Weiten wir den Blick: Auf dem Boden der Donaumonarchie kamen keine Grenzen zustande, in denen es die Bewohner miteinander aushielten. Auch die Angehörigen des Osmanischen Reiches, Türken, Araber, Kurden, Armenier, Iraker, Ägypter, haben in den Formen seiner Zerlegung bis heute keinen Frieden gefunden.
War der Erste Weltkrieg überhaupt ein Weltkrieg?
Er war ein Weltkrieg, weil es um den Besitz der Welt ging. Das Osmanische Reich etwa reichte von Ägypten bis zu den Dardanellen. Bereits in den ersten Kriegswochen machte sich England Ägypten untertan – ein Gebiet, dreimal so groß wie England und 33-mal so groß wie Belgien. Bis Mitte der fünfziger Jahre blieb es Teil des British Empire.
Wo waren noch Weltfragen berührt?
Russland ist ein eurasischer Kontinent für sich, zwischen Pazifischem Ozean und Elbe. Österreich-Ungarn hatte eine enorme Ausdehnung, und dann waren da die riesigen Kolonialgebiete in Afrika. In diesem Krieg wurde die ganze Welt zusammengerafft. Es war nicht nur ein Krieg, an dem die Welt beteiligt war, Kanadier, Australier, Neuseeländer, Inder, Japaner. Es war ein Krieg um die Welt. Auch die Frage, wem die Ukraine gehört, spielte eine große Rolle.
Warum zogen immer mehr Staaten gegen das Deutsche Reich zu Felde?
Italiener und Rumänen wurden mit satten Zugewinnen geködert. Die Amerikaner kamen hinzu, als sie ihre Schuldner zu verlieren drohten und die deutschen U-Boote die Rüstungsexporte kaputt machten.
Ihr Buch begreift den Weltkrieg als Weg nach Versailles.
Der Gegenseite der Deutschen ging es um den Rückbau der Reichsgründung von 1871. Das haben sie untereinander deutlich gesagt. Wenn eine Weltkoalition nötig ist, um einen Einzigen zu stoppen, und diese nach vier Jahren noch 40 Kilometer vor Paris steht, dann ist er nicht gleichgewichtsverträglich. Keiner aus der Siegerkoalition konnte einzeln mit dem Reich konkurrieren. Versailles sollte eine gesündere Neugründung werden.
Was bedeutet 1919 der Versailler Friede?
Er bedeutet genauso einen Irrsinn wie der Krieg. Russland fehlte in Versailles, weil ihm der Verrat an der Anti-Deutschlandkoalition verübelt wurde, Deutschland war gewissermaßen in Ketten vorgeladen zur Unterschrift. So lehnten die zwei größten Mächte auf dem Kontinent den Frieden ab. Wenn sich die zwei Verlierer zusammentaten, waren sie weit stärker als die Sieger, wie sich 1939/40 gezeigt hat.
Also war Versailles kein „Schandfriede“?
Es war ein gefühlter Schandfriede. Am meisten haben sich die Deutschen über den dummen Kriegsschuldartikel aufgeregt. Aber der diente nur dazu, den Deutschen die Kriegskosten aufzuhalsen. Am Ende haben sie jedoch außer ihren eigenen Kosten nicht viel davon gezahlt. Der Vorteil für Deutschland war das geostrategische Resultat. Weil Russland nun antiwestlich war, fiel die Klammer fort, die bis 1914 das Deutsche Reich von rechts und links in Schach gehalten hatte, durch ein russisch-französisches Bündnis und die Engländer als Zünglein an der Waage. 1941 kam die Klammer wieder zustande. Damit ging der Zweite Weltkrieg verloren. Die Zwischenkriegszeit war ein Kartenhaus. Es brauchte nur der böse Geist hineinfahren, dann musste es umkippen.
Nach Versailles ging der Weg also weiter nach Stalingrad, Dresden, Hiroshima?
Nicht zwangsläufig. Aber Versailles öffnete beiden Verlierern eine fatale Chance. Sie konnten sich als Schurkenstaaten konstituieren und mit dieser Kraft Europa wieder in ein Meer von Blut und Trümmern stürzen. Und das haben sie verschuldet, ja. Versailles war die Dummheit, die den Verbrechern die Realisierung ihrer Chance geliefert hat. Die zwei Weltkriege waren völlig überflüssig. Das ist das Traurige.
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