- Die Mathematik hebelt das Grundgesetz aus
Bei der Europawahl waren die Stimmen extrem unterschiedlich viel wert. Denn das Verfahren, nach dem die Mandate vergeben wurden, taugt nicht für eine Wahl ohne Sperrklausel. Dem Bundesverfassungsgericht war das offenbar egal
Martin Sonneborn ist ein Demokratieverächter. Nur Hohn und Spott hat er für das Mandat übrig, das er bei der Europawahl am Sonntag als Spitzenkandidat der Spaßpartei „Die Partei“ gewonnen hat. Er lebt von der Politikverdrossenheit, die er zugleich nährt. Offenbar ist es ein funktionierendes Geschäftsmodell. Die Demokratie muss so etwas aushalten. Auch wenn Sonneborn nun spottet, er wolle sein Mandat nach einem Monat niederlegen, damit sich auch andere Parteimitglieder „einmal für 33.000 Euro im Monat“ Brüssel anschauen können. Und auch wenn einem angesichts so billiger Späße das Lachen im Halse stecken bleibt.
Dass Sonneborn jedoch überhaupt einen Sitz im Europaparlament erringen konnte, hat nichts mit Demokratie zu tun, sondern viel mit den Tücken der Mathematik. Und damit, dass die hoch dotierten Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zwar Verfassungsartikel, aber keine mathematischen Modelle interpretieren können.
Eigentlich ist Demokratie ganz einfach: one man, one vote. Jede Stimme bei einer Wahl ist gleich viel wert und jedes Mandat sollte sich in etwa auf gleich viel Stimmen stützen. Legt man den gesunden Menschenverstand und das kleine Einmaleins zugrunde, dann müsste auch die Mandatsverteilung ganz einfach sein. 96 Mandate für das Europaparlament wurden am Sonntag vergeben. Dies müsste eigentlich bedeuten, dass es für einen Stimmenanteil von etwa einem Prozent bei der Europawahl ein Mandat gibt.
Teuerstes Mandat bei den Freien Wählern
Auch der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts ist unter Leitung von Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle davon ausgegangen. In seinem Urteil von Februar, in dem es die Drei-Prozent-Hürde kippte, heißt es dementsprechend: „Ein Sitz im Europäischen Parlament kann bereits mit etwa einem Prozent der abgegebenen Stimmen errungen werden“, wenn die Sperrklausel ihre Wirksamkeit nicht entfalte.
Ein typischer Fall von Denkste.
Nach der Europawahl am Sonntag bekamen 14 Parteien ein Mandat zugeteilt, darunter drei, die nur einen Stimmenanteil von deutlich weniger als einem Prozent erzielten. Als letzte Partei errang Sonneborns Spaßtruppe ein Mandat, mit exakt 0,629 Prozent, beziehungsweise 184.525 Stimmen. Ähnlich billig kamen die ödp und die Familienpartei an ihr Mandat.
Die CDU als stärkste Partei brauchte für jedes Mandat 303.707 Stimmen, die meisten Stimmen für ihr Mandat mussten die Freien Wähler aufbringen: 428.524 Stimmen und damit mehr als doppelt so viele Stimmen wie Die Partei (siehe Tabelle 1). Die Stimme eines Wählers der Freien Wähler war somit nur weniger als halb so viel wert wie die Stimme eines Wählers der Partei Die Partei. Auch die Stimme eines CDU-Wählers war deutlich weniger wert. Von einer gleichen Wahl, wie sie das Grundgesetz vorsieht, kann also keine Rede mehr sein.
Es ist vielmehr so, dass es bei der Europawahl faktisch ein Grundmandat für alle Parteien gibt, die mehr als 0,5 Prozent der Stimmen erhalten. Oder anders ausgedrückt, das erste Mandat erhalten die kleinen Parteien zum halben Preis.
Tabelle 1:
Um zu erklären, warum das so ist, muss man ein bisschen ausholen. Dies hat vor allem mit zwei Herren zu tun, die ein Verfahren zur Berechnung von Sitzverteilungen nach Wahlen entwickelt haben: das Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren. Nach diesem Verfahren werden in Deutschland seit 2009 die Mandate für den Bundestag und für das Europaparlament vergeben.
Willkürliche Rundung
Das Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren folgt der Divisormethode mit Standardrundung. Vereinfacht gesagt, wird dabei ein gemeinsamer Divisor gesucht, mit dem die Zweitstimmenergebnisse der Parteien so geteilt werden können, dass die Summe der Quotienten der Zahl der Sitze entspricht.
Die Formel lautet: Zweitstimmenanzahl der Partei ÷ Zuteilungsdivisor = Sitzanzahl der Partei (nach Standardrundung).
Da keine halben Mandate vergeben werden können, hat der Gesetzgeber im Wahlrecht festgelegt, dass bei einem Rest von mehr oder weniger als 0,5 Prozent gerundet wird. Nur als der Gesetzgeber dies festgelegt hat, war von einem Wegfall der Sperrklausel noch keine Rede.
Das hat Folgen: Der Divisor, der bei der Mandatsverteilung nach der Europawahl zum Zuge kam, betrug nach Auskunft des Bundeswahlleiters 298.800.
Tabelle 2:
Für Die Partei ergibt sich damit ein ungerundeter Quotient von 0,617553, für die ödp von 0,619541 (siehe Tabelle 2).Von diesem Wert wird jeweils aufgerundet auf ein Mandat. Die Freien Wähler hingegen liegen mit einem Quotienten von 1,4344149 knapp unter der nächsten Rundungsschwelle.
Irgendwann muss der Mathematiker runden. Doch die Festlegung des Gesetzgebers, dass der Quotient ab 0,5 Prozent nach oben gerundet wird, ist aus Sicht der Demokratie reine Willkür. Das führt dazu, dass es nach dem Wegfall der Sperrklausel bei der Europawahl faktisch ein Grundmandat für allem Parteien gibt, die etwa 0,5 Prozent der Stimmen erreichen. Bei der Wahl am Sonntag hätten sogar 149.401 Stimmen, beziehungsweise 0,509 Prozent der Stimmen gereicht, um ein Mandat im Europaparlament zu erzielen.
Ein Sitz im Europäischen Parlament gibt es also nicht erst „mit etwa einem Prozent der abgegebenen Stimmen“, wie das Bundesverfassungsgericht schreibt, sondern schon mit halb soviel Stimmen. Wenn man so will, enthält das Urteil zur Verfassungswidrigkeit der Drei-Prozent-Hürde bei Europawahlen also eine falsche Tatsachenbehauptung.
Natürlich wirken sich Rundungseffekte bei kleinen Parteien stärker aus als bei großen Parteien. Bei der Mandatsverteilung, egal welches Verfahren gewählt wird, gibt es immer Ungerechtigkeiten, weil zum Beispiel Reststimmen verfallen. Das Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren wurde vom Gesetzgeber vor allem deshalb ausgewählt, weil es kleine Parteien nicht benachteiligt. An die Verzerrungen, die sich im Bereich von Miniparteien ergeben, hatte dieser schlicht nicht gedacht. War ja auch nicht nötig, bis zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts gab es ja eine Drei-Prozent-Hürde.
Verfassungsrichter haben Wahlrechtsgleichheit verletzt
Schweden hingegen kennt die Verzerrungen aus seinem Wahlrecht schon lange. Der Gesetzgeber hat daraus die Konsequenz gezogen, dass beim ersten Mandat nicht bei 0,5 Prozent gerundet wird, sondern erst bei 0,7 Prozent. Es ließe sich aber auch festlegen, dass für das erste Mandat 0,9 Prozent oder ein Prozent der Wählerstimmen erzielt werden müssen. Dem Demokratieprinzip der Gleichheit der Wahl würde dies eher entsprechen.
Diesem Prinzip fühlt sich eigentlich auch das Bundesverfassungsgericht verpflichtet. In der Drei-Prozent-Hürde bei der Europawahl sahen die Karlsruher Richter einen „schwerwiegenden Eingriff“ in den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit, deshalb erklärten sie diese für verfassungswidrig. Aus diesem Grundsatz folge, „dass die Stimme eines jeden Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben muss“, so heißt es in dem Urteil. Jeder Wähler müsse „mit seiner Stimme auch den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung der zu wählenden Vertretung haben.“ Ziel sei es, dass dort alle Parteien „in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis“ vertreten seien.
Den Mühen, sich in die Untiefen des Wahlrechts und in die Untiefen des Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren einzuarbeiten, haben sich die Richter am Bundesverfassung allerdings nicht unterzogen und stattdessen lieber eine falsche Tatsachenbehauptung in Kauf genommen. Zwar wurde ein aus Sicht der Richter bestehender „schwerwiegender Eingriff“ in den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit behoben, aber ein neuer geschaffen.
Der Demokratieverächter Martin Sonneborn sollte sich bei Andreas Voßkuhle bedanken, dass er mit seinem Mandat im Europaparlament nun seine Späße treiben kann.
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