- Weiterleben nach dem Holocaust
Wie sieht das Dasein derer aus, die dem Holocaust entgangen sind? Unsere Literaturen-Redakteurin hat fünf neue Bücher – vom Krimi bis zum Zukunftsroman – verglichen und kommt zu grundverschiedenen Antworten
Dieser Text ist eine Kostprobe aus der Literaturenbeilage der März-Ausgabe des Cicero. Das Magazin für politische Kultur ist in unserem Online-Shop erhältlich.
„Oy gevalt“ – dieser Ausruf entschlüpft dem 88‑jährigen Ex‑Cop Baruch „Buck“ Schatz, als er im Altersheim „Valhalla Estates“ die „Fox News“ schaut. Dort nämlich hat gerade der Moderator gesagt: „Ich habe zwei Wörter für all die Liberalen auf dem Capitol Hill, die uns die Rechte auf Waffenbesitz nehmen wollen.“ „Ich hoffte“, räsoniert Schatz, „die beiden Wörter würden ‹Zweiter Zusatzartikel› lauten“ – und so auf das verfassungsmäßig verbriefte Recht der Amerikaner auf Selbstbewaffnung verweisen. Doch die Antwort des TV‑Populisten ist knapper: „Buck Schatz“. „Oy gevalt“, das jiddische Äquivalent für „Lieber Himmel“, ist darauf eine angemessene Reaktion.
Zuvor nämlich hat Buck geradezu Übermenschliches geleistet und am Ende einen Serienkiller noch aus dem Krankenhausbett heraus zur Strecke gebracht. Doch hat er den langen Weg von einer Leiche zur nächsten nicht nur dank seiner geliebten 357er Magnum lebend überstanden; Unerschrockenheit und bärbeißiger Humor hatten einen ebenso starken Anteil daran. Als Polizist mit stupender Aufklärungsquote ist Schatz in Memphis/Tennessee eine Legende. Seit mehr als zwanzig Jahren befindet er sich aber nun im Ruhestand, schaut am liebsten Fernsehen, kabbelt sich mit seiner Ehefrau Rose und achtet darauf, zum richtigen Zeitpunkt die richtige Dosis Tabletten einzunehmen.
Das Einzige, was ihm Sorgen macht, sind seine Gedächtnislücken; auf Anraten des Arztes hat er sich daher ein Merkheft zugelegt, in das er einträgt, „was ich nicht vergessen will“. Das führt er immer bei sich, ebenso wie seine Lucky Strikes. „Dass man sich nicht mehr darum kümmern muss, es anderen recht zu machen, ist einer der großen Vorteile des Alters“, proklamiert Buck. „Die anderen beiden sind das Rauchen und die Möglichkeit, Mitmenschen zu sagen, was ich von ihnen halte. Ich suche niemals einen Ort auf, an dem nicht mindestens zwei dieser Bedingungen gegeben sind.“
So nimmt er jede Gelegenheit wahr, seine Mitwelt zu brüskieren, versucht, seinen berufsbedingten Hang zur Paranoia im Zaum zu halten – der Arzt sagt, diese könne eine beginnende Demenz anzeigen – und ansonsten ein möglichst geruhsames Leben zu führen: Auto fahren, einkaufen, den Rasen nicht mähen. Doch eines Tages meldet sich die Vergangenheit, und Buck muss noch einmal alle Fähigkeiten mobilisieren, die ihn als Cop auszeichneten. Das passt ihm ganz und gar nicht, er wütet und grantelt. Und macht am Ende noch einmal einen grandiosen Job: Als siegreicher Rollstuhlfahrer zieht er mit Rose ins „Valhalla“ ein. Auch dahin hatte er nicht gewollt: „Nach Valhalla können wir niemals. Das ist der Himmel der Nazis.“
Thriller nach allen Regeln der Kunst
Daniel Friedmans Debütroman mit dem Titel „Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten“ – in den USA 2012 erschienen und gleich für die wichtigsten Krimi‑Preise nominiert – ist ein Thriller nach allen Regeln der Kunst der Schwarzen Serie, nach Art von Dashiell Hammett und Raymond Chandler; auch bei ihnen dominierte ein sarkastischer Humor. Doch Friedmans Buch ist noch weit mehr als das: ein Lehrstück nämlich über die jüdische Kunst des Überlebens. In beherztem Tempo steuert der Autor auf dieses Thema zu. Denn Baruch Schatz, dessen Großväter noch in einem litauischen Shtetl gelebt hatten, war im Juni 1944 als Leutnant der US‑Army an der Landung in der Normandie beteiligt gewesen und geriet in deutsche Kriegsgefangenschaft.
Kommandeur des Gefangenenlagers war ein SS‑Mann namens Heinrich Ziegler, der sich zuvor im polnischen Todeslager Chelmno als Exekutor hervorgetan hatte. „Allein schon die Idee, dass ein Jude Armeeleutnant sein könne, empfand er als beleidigend“, erinnert sich Schatz – Ziegler gab sich folglich alle Mühe, auch ihn vom Leben zum Tode zu befördern. Buck überlebte das Lager trotzdem: halbtot geschlagen, mit einer kraterartigen Schusswunde in der rechten Schulter. Im November 1944 wachte er in einem amerikanischen Lazarett wieder auf.
Dies alles ist längst Vergangenheit, als der alte Mann ans Sterbebett seines einstigen Kriegskameraden Jim Wallace gerufen wird. Dorthin will er absolut nicht gehen (darf man im Krankenhaus rauchen? Nein!), beugt sich aber schließlich seiner Ehefrau. Und erfährt von Jim Ungeheuerliches: Keineswegs ist Heinrich Ziegler bei Kriegsende, wie es hieß, zu Tode gekommen. Vielmehr hatte ausgerechnet Jim ihm 1946 den Weg in die Freiheit geebnet. „Er kam in einem Mercedes Benz vorgefahren“, stöhnt der Todkranke. Der Wagen war schwer von Goldbarren – „er gab mir einen von den Barren, und ich ließ ihn fahren.“ Nun soll der alte Cop den womöglich immer noch lebenden Ziegler finden und ihm das Gold abjagen.
So beginnt eine aberwitzige Jagd nach dem SS‑Mann und seinem Nazi‑Schatz. Sie führt in ein Heim für Demenzkranke in St. Louis und von dort zum Schließfach einer Bank, und hätte Buck nicht seinen Enkelsohn William Tecumseh, genannt Tequila, dabei, der Ex‑Cop wäre niemals so weit gekommen. Er wäre aber vor allem niemals zu jener Erkenntnis gelangt, die die eigentliche Essenz dieses Buchs ausmacht. „Ziegler ist der Tod“, bilanziert Schatz. „Ich musste ihn zur Rechenschaft ziehen (…), aber als ich ihn schließlich fand, war er ausgelaugt und leer wie der Rest von uns“ – nicht länger also ein Gegner. Indem er ihn begnadigt, erkennt der Cop, worum es ihm in all den Jahrzehnten als Verbrecherjäger im Grunde gegangen war: Er musste das Selbstwertgefühl zurückgewinnen, das ihm Ziegler 1944 aus dem Leib geprügelt hatte. Das Nazi‑Gold ist ihm letztlich egal – dass er es dem Schlächter abgenommen hat, darauf allein kommt es an.
Oy gevalt – ist denn das erlaubt? Darf man die Geschichte vom Weiterleben erzählen als eine Burleske, in der es ebenso spannend zugeht wie einst in «Der Malteser Falke» und auch ebenso ingrimmig komisch? Klar darf man – vorausgesetzt, man beherrscht sein Handwerk so gut wie Daniel Friedman. Das Motiv der Rache aufzugeben und sich seiner Grundangst zu stellen, das ist die nachgerade spirituelle Botschaft, die hier unvermutet hinter all den wilden Aktionen zutage tritt. Wer ihr folgt, hat, wie Baruch Schatz beweist, sein Leben zurückgewonnen.
Zurück in die Zeit, in der begann, was der amerikanische Soldat 1944 in der Endstufe erlebte, führt Volker Weidermanns Erzählung „Ostende. 1936 – Sommer der Freundschaft“. Für ein letztes Mal treffen sie hier im Weltbad an der Nordsee zusammen: die österreichischen und deutschen Juden, die sich als Schriftsteller der Vorkriegszeit einen Namen gemacht haben, Stefan Zweig und Joseph Roth, die „Asphaltliteratin“ Irmgard Keun, die sich in den rettungslosen Trinker Roth verliebt, der Revolutionär Ernst Toller mit seiner bildschönen Ehefrau und der Noch‑Kommunist Arthur Koestler.
Ihre Bücher wurden in Deutschland verbrannt, sie alle können nicht dorthin zurück – nach diesem Sommer werden sie in alle Himmelsrichtungen auseinandergehen, in den beginnenden spanischen Bürgerkrieg der eine, der andere nach Galizien, der dritte in die USA, Keun nach Paris und Stefan Zweig, der Star‑Autor, schließlich nach Brasilien. Roth wird sich zu Tode trinken, Toller und Zweig begehen wenige Jahre später Selbstmord. Doch noch scheint nicht alles hoffnungslos.
Die „Gesellschaft der Stürzenden“
Noch können sie sich in ihrer Freundschaft aufgehoben fühlen. Sie leben in einer Zwischenzeit, soviel wissen sie; wie alles weitergehen wird, können sie nicht ahnen. Noch scheint Entwicklung möglich: in einer neuen Liebe, in der Aussicht auf ein neues Land. Volker Weidermann hat sich in die Geschichte seiner Figuren vertieft, er hat ein genaues Bild von ihnen, denn er kennt (und zitiert) ihre Briefe und Tagebücher. In poetischen Skizzen führt er uns teils bis ins Jahr 1914 zurück, als Stefan Zweig ebenfalls in Ostende war – damals stand der Ausbruch des Ersten Weltkriegs bevor. Der Ton, in dem insbesondere die Vorgeschichte und Gegenwart der Schriftsteller‑Freunde Zweig und Roth hier heraufgerufen wird, ist ruhig und klar, alles Aufgeregte, womöglich Anklagende ist dieser Erzählung fremd.
Mit einem Brief vom März 1936 etwa hatte Zweig, besorgt wegen Roths Alkoholkonsum und Geldverschwendung, die Freundschaft auf eine harte Probe gestellt: „Haben Sie endlich den Mut, sich einzugestehen“, stand da, „dass, so groß Sie als Dichter sind, Sie im materiellen Sinne ein kleiner armer Jude sind, fast so arm wie sieben Millionen andere, und werden so leben müssen wie neun Zehntel der Menschen dieser Erde, ganz im Kleinen und äußerlich Engen.“ – „Joseph Roth war tief gekränkt“, schreibt Weidermann. „Zweig hatte die Wurzel ihrer Entzweiung, den tiefen Graben benannt, der zwischen dem assimilierten, von Geburt aus vermögenden Westjuden und dem armen Ostjuden vom Rande der Monarchie im Verborgenen klaffte. Es war Notwehr.“
Eine „Gesellschaft der Stürzenden“ versammelt sich also im „Café Flore“ an der Ostender Strandpromenade. Noch sieht alles fast wie ein Urlaub aus. Zweig, Roth und Keun arbeiten an neuen Büchern, sie trinken miteinander, besprechen literarische Probleme. Doch dann geht der Sommer zu Ende, und Weidermann trägt nach, wie es mit ihnen allen weitergegangen ist. Dem verzweifelten Roth folgen wir nach Galizien und Paris, sehen, wie Keun ihn verlässt.
Mit Stefan Zweig, der seinen Besitz verkauft und sich von Frau und Töchtern trennt, um mit einer neuen Gefährtin auf einem neuen Kontinent neu anzufangen, reisen wir nach Brasilien und lesen am Ende die „Declaracão“, mit der er sich von der Welt verabschiedet, die die seine nicht mehr sein konnte. Ernst Toller nimmt sich in New York das Leben, andere werden von ihren Parteigenossen umgebracht. Wieder andere, wie Hermann Kesten, überleben, doch bleibt ihr Dasein eine Wanderung: Nach Stationen in New York und Rom stirbt Kesten 1996 in Basel.
Der drohenden Vernichtung physisch entkommen zu sein, sagt über die innere Möglichkeit zum Weiterleben noch gar nichts aus. Auch daran erinnert Volker Weidermanns Sommer‑Erzählung: 1936 bereits hatten die Nationalsozialisten die alte Welt in Trümmer gelegt, lange bevor der Holocaust begann. Der Zertrümmerung des eigenen Inneren standzuhalten, wurde vielen unmöglich, wenn es auch viele Jahre noch anders scheinen mochte.
Dies war auch Sarah Kofmans Fall. Die 1934 in Paris geborene Philosophin, Tochter eines aus Polen zugewanderten chassidischen Rabbi und spätere Assistentin von Jacques Derrida, schließlich selbst Professorin an der Sorbonne, veröffentlichte im Oktober 1994 ihre Erinnerungen an das einschneidende Jahr 1942 und dessen Folgen. „Rue Ordener, Rue Labat“ heißt das schmale Buch. Es vollzieht nach, wie die organisierte rassische Verfolgung, die die Deutschen über Frankreich gebracht haben, endgültig greift: Sarah Kofmans Vater wird verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Die Mutter verteilt ihre sieben Kinder auf verschiedene Einrichtungen.
Nur die achtjährige Sarah erzwingt immer wieder die Rückkehr zu ihr – und entgeht so der Deportation der jüdischen Kinder aus einem Kinderheim. Und Mutter und Tochter haben sogar noch mehr Glück im Unglück: Sie, die bisher in der armen, überwiegend von Juden bewohnten Rue Ordener gelebt haben, finden Aufnahme bei einer katholischen Französin in der Rue Labat. „Meine Mutter war ihr auf der Straße aufgefallen“, berichtet Sarah Kofman, „als sie in ihrem Kinderwagen `so niedliche, blonde Kinderchen` spazierenfuhr. (…) ´Das ist mal eine Frau, die Kinder liebt` hatte meine Mutter gesagt, ‹sie kann uns nicht draußen stehen lassen!“ Und sie hatte recht. Knapp entgehen die beiden der Verhaftung durch die Gestapo, weil die freundliche Madame sie über Nacht beherbergt. Von da an bleiben sie in deren Wohnung. Das Risiko für Madame, sie aufzunehmen, ist hoch: Es drohen Erschießung oder Deportation, wenn die Einquartierung auffliegt.
Akkulturation aus Liebe
Für Sarah nimmt damit ein Prozess der Akkulturation aus Liebe seinen Lauf. Über ihre Retterin schreibt sie: «Ich war vom Blond ihrer Haare und der melancholischen Zartheit ihrer blauen Augen beeindruckt»; vor allem aber verliebt sich das Kind in die Wärme und Zuneigung, die die Fremde ihr zukommen lässt. Aufgewachsen mit den strengen Regeln eines chassidischen Haushalts, lernt Sarah lieben, was der Kultur ihrer Beschützerin entspricht: So wird blutiges Beefsteak mit Butter und Petersilie ihr Leibgericht. Madame kleidet sie neu ein und geht unbehelligt mit dem blonden Kind durch die zerbombte Stadt.
Bis zum Ende der Besatzung überstehen die drei in der Rue Labat das enge Zusammenleben. Die gebildete „Omi“ macht das Mädchen mit der Philosophie bekannt, sie unterrichtet sie, sie lachen zusammen, hören Chansons, hoffen auf den Sieg General de Gaulles. Nur bleibt die leibliche Mutter von diesem innigen Einverständnis ausgeschlossen. Sie muss zusehen, wie ihr Kind sich immer enger an die Andere anschließt und vom Judentum immer weiter abrückt: Als der Krieg endet, ist Sarah Teil einer katholisch‑französischen Familie geworden.
Sarah Kofman rekapituliert ihre Geschichte als eingeschlossenes Kind zweier Mütter scheinbar unbewegt.
Alles hier ist streng verknappt – selbst als die Mutter im befreiten Paris vor Gericht geht, um zu erzwingen, dass die Tochter künftig wieder mit ihr zusammenlebt, obwohl das Kind bei der „blonden Dame“ bleiben will und die Mutter sie mit der „Klopfpeitsche“ schwer misshandelt. Das Gericht spricht Sarah der Ziehmutter zu, die reale Mutter aber lässt das Kind von zwei kräftigen Männern in ihre Gewalt zurückbringen. Auf zwei Jahre in Wärme und Zugewandtheit folgen Jahre des Nie‑mehr‑Aufgehobenseins. Sarahs Rettung sind ihre Lehrerinnen und die Bücher. Die Möglichkeit aber, ihre Gefühle einem Menschen angstlos zu offenbaren, scheint zerstört. Fünfzig Jahre hat Sarahs Kofmans Leben nach der Befreiung noch gewährt, äußerlich höchst erfolgreich im Weiterleben nach dem Überleben. Sobald aber ihre Erinnerungen erschienen waren, setzte sie ihrem Dasein ein Ende.
Eine Überlebensgarantie gab es nicht
Israel, hatte der alte Cop Buck Schatz gesagt, sei «eine Nation aus Menschen wie meinem Urgroßvater, die es satthaben, verbrannt zu werden, und die Fackel selbst in der Hand halten wollen» – dieses Land hätte die physische Rettung sein können für die verlorenen Schriftsteller aus Volker Weidermanns Erzählung, ebenso für die Familie Kofman aus Paris. Eine Überlebensgarantie freilich gab es auch in Israel nicht: Seit dem Unabhängigkeitskrieg von 1949 ist das Land bedroht, von außen allemal.
sGanz vom Krieg aus gedacht ist konsequenterweise der erste Roman des israelischen Autors Yali Sobol, „Die Hände des Pianisten“. Er führt ins Innere des Staates, der nach einem Krieg unter dem Kommando einer Militärjunta steht. Zeit der Handlung ist die nahe Zukunft, Schauplatz ist Tel Aviv, und wir erleben, wie hier Künstler und Intellektuelle, aber auch am politischen Geschehen gänzlich unbeteiligte Leute ins Visier der Geheimpolizei geraten – die seit je Verfolgten richten inzwischen „die Fackel“ nach innen. s
Die Feststellung ist ja nicht neu, dass die Gepeinigten die Methoden ihrer Peiniger übernehmen, so dass beide sich schließlich gar nicht mehr voneinander zu unterscheiden scheinen. Yali Sobol hat mit solchen Vorhaltungen nichts zu tun. Er beobachtet vielmehr, wie die zunehmende Macht des Geheimdienstes nicht nur das gesellschaftliche Klima zerfrisst und Angst zum allgegenwärtigen Begleiter wird. Er zeigt überdies, wie die Menschen selbst sich unter einem solchen Regime verwandeln, zu Denunzianten und Verrätern werden und unter der Folter schließlich geliebte andere der Verfolgung preisgeben. Dies ist das Wesen jedes totalitären Regimes, im NS‑Reich nicht anders als unter Stalin, unter Pinochet wie unter Ahmadinedschad.
Freilich ist die Vision einer totalitären Herrschaft in Israel besonders prekär: Hier müssen die eigenen historischen Erfahrungen dem Vergessen anheimgefallen sein. Israel als „letzte Zuflucht im Fall einer durchaus denkbaren Verfolgung in der Zukunft“, wie Buck Schatz es sah – in der Fiktion von Yali Sobol existiert es nicht mehr. Yoav, ein junger Pianist, mittelmäßig erfolgreich, und seine Frau Chagit, Cutterin beim Fernsehen, geraten unversehens in die Mühlen des Geheimdienstes.
Yoav will eine Konzertreise ins Ausland antreten und wird zur Überprüfung seiner Vaterlandstreue vorgeladen; gleich bringt er ohne Not andere in Gefahr. Chagrit wiederum wird zur Befragung zitiert, nachdem der Starreporter ihres Senders ihr einen USB‑Stick mit decouvrierendem Material über den Sohn des Junta‑Führers zugesteckt hat; sie verbirgt den Stick in der Wohnung einer alten Frau, die sie liebt und betreut. Unter der Folter wird sie sie verraten und damit töten. Parallel dazu sehen wir dem Aufstieg und Fall des Geheimdienstoffiziers Levi zu, dem schließlich ein sadistischer Folterer mit dem wohl nicht zufällig deutschen Namen Wilner vorgezogen wird. Am Ende hat die herrschende Kaste sich selbst durch Verrat in Sicherheit gebracht, sind Unschuldige gestorben, die Zukunft des Pianisten ist ruiniert: Ihm wurde die rechte Hand zerschlagen. Was einzig überlebt, ist die Liebe von Chagrit und Joav.
Das Land der Verfolgten bietet diesen selbst, folgt man Yali Sobols negativer Utopie, in Zukunft keinen Schutz mehr: Die Aggression hat sich von außen nach innen gefressen. „Ist es das, was aus unserem Staat geworden ist?“, fragt der vom Geheimdienst verhörte Starreporter seinen Vater, einen hochrangigen Militär. „Dann sind wir wie unsere lieben Nachbarn. Ein arabischer Staat.“ Die Gegenwart also ist mittlerweile der Maßstab, nicht länger die Vergangenheit. Zu der muss sich nun erst umwegig wieder durchtasten, wer heute nach der Begründung seines eigenen Daseins sucht.
Katja Petrowskaja unternimmt dies mit einer Reise durch Gegenwart und Vergangenheit ihrer Familie: In ihrem Debüt „Vielleicht Esther“ steigt sie als Ich‑Erzählerin in Berlin in den Zug, und eine ausgedehnte Reise via Kiew, Warschau, Auschwitz und Mauthausen beginnt, im Archiv fährt sie auf Papierbahnen noch viel weiter, in den Ural, nach Lemberg, nach Wien oder Kalisz in Polen, nach Moskau zur Zeit des Hitler‑Stalin‑Pakts. Auf dieser Wegstrecke liegen Vernichtungs‑ ebenso wie Kriegsgefangenenlager, doch kommen auch wundersame Geschichten zutage, rührende, irrwitzige – solche, bei denen man denkt: Wahrscheinlich ist es ja Literatur.
Ganz gewiss sogar ist „Vielleicht Esther“ Literatur. Das Literarische liegt jedoch im Ton: in einer Sprache von poetischer Dichte, wie man sie aus Forscherbüchern normalerweise nicht kennt. „Es wäre mir lieber“, beginnt die Erzählerin, „ich müsste meine Reisen nicht hier beginnen, in der Ödnis um den Bahnhof, die immer noch von der Verwüstung dieser Stadt zeugt, einer Stadt, die im Verlauf siegreicher Schlachten zerbombt und ruiniert worden war, als Vergeltung (…). Das ist nun so lange her, dass diese Stadt zu einer der friedlichsten der Welt geworden ist und diesen Frieden fast aggressiv betreibt, als eine Form der Erinnerung an den Krieg.“
Insistentes Wissenwollen
Einer derart ostentativ überlagerten Erinnerung muss folglich hier die eigene antworten, und das ist zunächst auch gar nicht so schwer: Auf dem Berliner Hauptbahnhof trifft die Erzählerin auf ein älteres jüdisches Ehepaar aus den USA, das ebenfalls nach Kiew, zu den eigenen Wurzeln, unterwegs ist. Schauen sie nach oben, unters Bahnhofsdach, sehen sie ein riesiges Schild mit der Aufschrift „Bombardier“, und können gar nicht anders, als sich an Bomben erinnert zu fühlen: an diejenigen, die hier gefallen sind, ebenso aber an die, die von hier aus in andere Länder losgeschickt wurden. Und so tritt gleich mit dem ersten Kapitel ein, was nur geglückter Literatur gelingt: Wir selbst beginnen unsere alltägliche Wirklichkeit mit fremden Augen zu sehen, beginnen sie neu zu verstehen.
Zu verstehen: alles zu sammeln, um daraus ein Gesamtbild der eigenen Familiengeschichte zu bauen, dies ist das Vorhaben der Erzählerin, und natürlich lässt sich die Poesie dabei nicht immer durchhalten – zeitweilig wird sie von der schieren Masse an menschengemachtem Unheil, aber auch von zufällig Geschehenem oder Unaufklärbarem überwältigt; dann schiebt sich das Berichtende nach vorn. Die längste Zeit aber trägt der Ton insistenten Wissenwollens, Rätselns und Imaginierens. Und am Ende liegt die Geschichte einer Familie vor uns, die sich als Roman nicht hätte erzählen lassen: weil es der historischen Wirklichkeit selbst nicht nur an Gewissheit, sondern auch an Balance fehlt, an der Harmonie der Teile. Und da alles, was Katja Petrowskaja erzählt, im Forschungsprozess ja gleichsam noch einmal ihr selbst geschieht, kann es auch keinen alles beherrschenden Zugriff der Erzählerfigur geben. Alles auf einmal ist nicht zu haben: die gesicherte Distanz des Forschers mitsamt der Verstörung durch die eigene Geschichte.
An einer Straßenkreuzung ihrer Heimatstadt Kiew trifft die Erzählerin nach ihren Such‑ und Irrfahrten auf eine weißgekleidete Frau, die sie unerwartet anspricht: „Ich treffe Sie etwas zu oft hier in letzter Zeit! Und ich erwiderte erstaunt, dass ich seit Jahren nicht mehr hier gewesen sei. Das spielt doch keine Rolle, sagte sie.“ Und die Reisende denkt: „Sie hat recht, ich kehre etwas zu oft hierher zurück, ja genau, dachte ich, etwas zu oft.“ Mag sein. Für den Leser aber verhält es sich anders. Wie Leben weitergehen kann, mit der Erfahrung des Holocaust im Nacken – Katja Petrowskaja zeigt es meisterlich: Sie kehrt dorthin zurück, wo alles begonnen hat. Mit offenen Augen und Sinnen, mit Schrecken und mit Neugier.
Daniel Friedman: Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten. Roman
Aus dem Amerikanischen von Teja Schwaner
Aufbau, Berlin 2014. 320 S., 17,99 €
Volker Weidermann: Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 160 S., 17,99 €
Sarah Kofman: Rue Ordener, Rue Labat
Aus dem Französischen von Ursula Beitz
Diaphanes, Zürich 2014. 96 S., 10,95 €
Yali Sobol: Die Hände des Pianisten. Roman
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
Kunstmann, München 2014. 300 S., 19,95 €
Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther
Suhrkamp, Berlin 2014. 200 S., 19,95 €
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