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Zuwanderung - Die Angst vor der Roma-Debatte

Aus der Zuwanderungsdebatte lässt sich lernen: Die Wege der Empörung sind oft unergründlich. Das Gespräch mit und über Roma fällt schwer. Ein Gastbeitrag von Publixphere-Redakteur Alexander Wragge

Autoreninfo

Alexander Wragge seit Ende 2016 Redakteur und Koordinator der Initiative Offene Gesellschaft, und war zuvor als freier Journalist und als Redakteur des Diskussions-Netzwerks Publixphere tätig.

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Das erste Rätsel der Zuwanderungsdebatte lautet: Warum findet sie überhaupt statt? Denn es gäbe viele Gründe, die Armutszuwanderung und den Sozialbetrug von Bulgaren und Rumänen nicht übermäßig zu problematisieren. Da wären die Erfahrungen mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Polen und Tschechen. Anders als prophezeit blieb ihr „Massenansturm“ auf Deutschland aus. Oder das EU-Recht: Deutschland muss Zuwanderer aus der EU nicht dauerhaft dulden, die zur „übermäßigen Belastung“ für die Sozialsysteme werden.

Auch ein politischer Konflikt scheint zu fehlen. Im Koalitionsvertrag zeigte sich Schwarz-Rot schon vor Weihnachten einig darüber, dass „Anreize für Migration in die sozialen Sicherungssysteme“ zu verringern sind. Selbst die viel zitierten „Brandbriefe“ aus den „Brennpunkten“ der Armutszuwanderung werden im Koalitionsvertrag erhört. Die betroffenen Städte wie Duisburg und Berlin sollen stärker unterstützt werden – etwa im Kampf gegen Scheinselbstständigkeit.

Datenschutz interessiert kaum jemanden


Warum also konnte die CSU mit dem Slogan „Wer betrügt, der fliegt“ den Startpunkt für eine wochenlange Auseinandersetzung setzen? Dass sie einen Nerv getroffen hat, ist kaum zu übersehen. Eine Mehrheit der Deutschen hält das Thema „Zuwanderung, Ausländer und Integration“ für das „wichtigste politische Problem“ – so das Ergebnis des jüngsten Polit-Barometers. Zum Vergleich: Das Thema Datenüberwachung durch die Geheimdienste landet auf Platz 15.

Ein Erklärungsversuch für die Existenz dieser Debatte führt zu den Bildern, die wir von Bulgaren und Rumänen im Kopf haben. Wenn von vorhergesagten 80.000 bis 200.000 Neuzuwanderern gesprochen wird – sehen wir dann nur geringverdienende Großfamilien in Duisburger „Problem-Häusern“ vor uns, oder auch die Ingenieure, Ärzte und Pflegekräfte, die zu uns kommen? Um diese Bilder tobt in den Medien ein „semantischer Kampf“, wie die Linguistin Clara Herdeanu beobachtet. Für unser Denken mache es einen Unterschied, ob wir von „Sozialbetrügern“ oder „neuen Nachbarn“ lesen. Tatsächlich lohnt es sich, über die Sprache der vergangenen Wochen nachzudenken. Ist Deutschland das „Aufnahmeland“, die „neue Heimat“ oder der „Selbstbedienungsladen“? Was wirkt eigentlich bedrohlicher, eine schwappende Zuwanderungswelle oder ein endloser Zuwanderungsstrom?

Manche der politischen Akteure mögen damit hadern, dass die Deutschen ausgerechnet die Zuwanderung als so problematisch empfinden. So machte die Linke-Politikerin Sahra Wagenknecht in der ARD eine Rechnung auf. Arbeitslose Bulgaren und Rumänen beanspruchten im vergangenen Jahr etwa 172 Millionen Euro Hartz-IV-Leistungen. Ob rechtmäßig oder „sozialbetrügerisch“, lässt die Zahl offen. Im selben Zeitraum gingen dem deutschen Staat geschätzte 160 Milliarden Euro durch Steuerhinterziehung und Steuervermeidung verloren. Hat die CSU also die „falsche“ Debatte angezettelt, wie es ihr Linkspolitikerin Wagenknecht vorwirft?

Am Beispiel der Zuwanderung lässt sich über den Tag hinaus fragen, ob es so etwas wie „Scheindebatten“ geben kann. Stehen Politik und Medien in einer Verantwortung, die „richtigen“ Themen zu setzen, oder müssen sie die Probleme aufgreifen, mit denen sich Menschen – aus welchen Gründen auch immer – beschäftigen?

Black Box Brüssel


Die vergangenen Wochen haben offenbart, wie viel Wissen europäische Themen dem einzelnen Bürger abverlangen. Beispielsweise erregte die Schlagzeile Aufsehen: „Brüssel fordert Hartz IV auch für arbeitslose Ausländer“. Da mag sich der Beobachter zunächst wundern. Seit wann darf die EU-Kommission, eine nicht gewählte Behörde, von Deutschland so etwas fordern?

Bei genauerem Hinsehen wird es richtig kompliziert. Die EU-Kommission hatte eine unverbindliche Stellungnahme zu einem Verfahren am Europäischen Gerichtshof abgegeben. Darin geht es auch um die Frage, ob Deutschland Zuwanderern aus der EU Hartz IV automatisch verweigern darf – oder nur nach einer Einzelfallprüfung. Es geht um „konkurrierende“ EU-Vorschriften, die deutsche Umsetzung und eine widersprüchliche Rechtsprechung deutscher Sozialrichter. Wer angesichts der grob vereinfachenden Schlagzeile nicht die Europäische Kommission, den Europäischen Gerichtshof, das europäische Recht und die deutsche Umsetzung durcheinander werfen will, braucht schon ein Jura-Selbststudium. Die Massenmedien scheinen oft damit überfordert, das komplexe Ineinander der deutschen und europäischen Ebene verständlich zu kommunizieren.

Im Sinne der demokratischen Meinungsbildung ist die Komplexität der europäischen Prozesse und Institutionen nicht irgendein Randaspekt. Nur wer sich mit den Abläufen auskennt, kann europäische Politik rechtzeitig diskutieren. Wer beispielsweise nur hochqualifizierte Zuwanderer aus der EU möchte, hätte das schon vor zehn Jahren deutlich artikulieren müssen. Heute hat auch der rumänische Straßenmusiker das gute europäische Recht, in Deutschland zu leben und zu arbeiten. Der jüngste Titel der Maybrit-Illner-Talkshow „Wie viel Freizügigkeit können wir uns leisten?“ wirkt da merkwürdig aus der Zeit gefallen.

Ärgerlich wird die Unwissenheit über Europa, wenn die Verantwortlichkeiten verschwimmen. So haben auch Hundertschaften deutscher Politiker und Beamter die – offenbar widersprüchlichen – Regelungen zur Migration innerhalb der EU jahrzehntelang vorangetrieben. In der aktuellen Debatte ist davon kein Wort zu hören. Stattdessen vermitteln manche Politiker den Eindruck, die EU agiere ohne oder gar gegen Deutschland.

Es wäre für künftige Debatten ein Gewinn, würden Medien und Bürger der deutschen Politik diesen Trick nicht durchgehen lassen. Sie darf ihren Anteil an der EU-Gesetzgebung nicht verleugnen, und alle Verantwortung einem ominösen „Brüssel“ zuschieben.

Das Roma-Tabu


Eine merkwürdige Sprachlosigkeit zeigt sich in der Zuwanderungsdebatte, wenn es um die spezifische Situation von Roma geht. Zwar zeigen Medien häufig Bilder von Roma, etwa Fotos von Bewohnern des sogenannten „Problem-Hauses“ in Duisburg. Reden tun sie mit Roma-Angehörigen allerdings selten. Dabei spielen sie offenbar eine zentrale Rolle. Bundespräsident Joachim Gauck meint sogar, es gehe bei dem Streit um Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien „genaugenommen (…) um einen Teil der Roma unter diesen Zuwanderern.“ Hätte die CSU also ehrlicherweise fordern sollen: „Roma, die betrügen, fliegen“?

Das gesellschaftliche Gespräch über Roma fällt aus guten Gründen schwer. Es drohen rassistische Pauschalurteile mit unseliger Tradition. Verschämte Sprachlosigkeit hilft aber auch nicht weiter, um weit verbreitete Berührungsängste und Vorurteile zu überwinden. Leider hat die aktuelle Debatte bisher nicht dazu geführt, mit Roma ins Gespräch zu kommen. Die Ablehnung gegenüber Roma wurde genauso wenig offen artikuliert wie das Bekenntnis, dass sie in Deutschland willkommen sind. Hat der Anti-Ziganismus-Forscher Markus End Recht, wenn er sagt; „Das Wort Roma steht in dieser Debatte ganz undifferenziert für Problem“? Stigmatisiert dann auch die EU eine ganze Volksgruppe, wenn sie eigens eine „Roma-Strategie“ auflegt? Reden wir darüber.

Alexander Wragge ist Redakteur von Publixphere.de. Publixphere ist ein unabhängiges, überparteiliches und nicht-kommerzielles Debatten-Portal. Mitte 2013 mit Unterstützung der Stiftung Mercator gestartet, bietet Publixphere politisch interessierten jungen Erwachsenen eine Plattform, sich gemeinsam und auf Augenhöhe mit Akteuren und Experten in den politischen Meinungsbildungsprozess einzubringen.

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