- Wie die Presse Wulff zum Rücktritt zwang
Die Skandalisierung in der Causa Wulff ist einzigartig und zugleich exemplarisch. Sie zeigt, warum Skandale eine Eigendynamik entwickeln, und wie sich dadurch das Machtverhältnis zwischen Politik, Justiz und Medien verschiebt
Die Medien decken keine Skandale auf. Sie prangern die Skandalisierten an. Sie vermitteln den Eindruck, dass sie in Kenntnis der Fragwürdigkeit ihres Tuns, ohne äußeren Zwang und aus eigennützigen Motiven gehandelt haben. Die Missstände selbst sind oft nicht neu, meist beweis- oder prüfbar und sachlich oft unstrittig. Neu ist die skandalträchtige Perspektive, im engeren Sinn nicht beweisbar, im Unterschied zu den Missständen aber wirkmächtig.
Die enge Beziehung von Christian Wulff zum Ehepaar Geerkens und seine Vorzugsbehandlung durch Air Berlin waren schon während seiner Zeit als Ministerpräsident ein Thema im Niedersächsischen Landtag. Zum Skandal wurde das erst, als Bild und Spiegel im Dezember 2011eine Beziehung zu seinem Hauskredit aufgezeigt und Thorsten Denkler auf Süddeutsche.de eine schlüssige Verbindung zwischen Geld, Moral, Charakter und Amt hergestellt hatte: „Mit der Kreditaffäre hat Bundespräsident Wulff das Recht verwirkt, als moralische Instanz zu gelten. Er verliert damit die stärkste Legitimationskraft in diesem Amt. Wer Wulff kennt, weiß dass es so kommen musste“.
Zwei Tage später schlug Frank Schirrmacher in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in die gleiche Kerbe: „Kreditfragen…sind moralische Fragen. Es geht um Glauben und Vertrauen. Damit sind sie das Äquivalent zum höchsten Staatsamt. Es geht um moralischen Kredit“. Damit hatten die wichtigsten Leitmedien – Bild, Spiegel, Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Allgemeine Zeitung - ein Schema etabliert, das die folgenden Recherchen und Interpretationen geprägt hat. Selbstverständlich hätte es auch andere Schemata geben können. Unter der Überschrift „Christian Wulff musste Uhr versetzen“ hätte stehen können: „Wulff zahlt seiner geschiedenen Frau und seiner Tochter 4.200 Euro Unterhalt im Monat. Deshalb hat er Schulden gehabt. Allerdings haben ihm gute Freunde aus der Klemme geholfen, darunter sein langjähriger Mentor, Egon Geerkens. Er hat ihm 90.000 Euro geliehen und einen günstigen Kredit für sein Haus vermittelt. Wulff hat Geerkens dafür seine Rolex und wertvolle Bücher als Sicherheit überlassen müssen“. Vermutlich hätten die Leser darauf ganz anders reagiert – mit Häme, Spott, Anteilnahme oder Respekt, aber kaum mit Ärger und Wut.
Die Entstehung und Wirkung von Schemata hat der Sozialpsychologe Muzafer Sherif vor Jahrzehnten in einem berühmten Experiment nachgewiesen: In einem dunklen Raum scheint sich ein fester Lichtpunkt vor den Augen der Beobachter zu bewegen. Wenn mehrere Personen nacheinander in einer Gruppe urteilen, nähern sich ihre Beschreibungen schnell an die Urteile informeller Meinungsführer an. So entstehen in verschiedenen Gruppen unterschiedliche Sichtweisen, die ihren jeweiligen Mitgliedern aber die Überzeugung vermitteln, dass sie den Lichtpunkt „richtig“ sehen. Lässt man die gleichen Personen nach einigen Tagen alleine urteilen, beschreiben sie die Scheinbewegung so, wie sie es in der Gruppe gelernt haben.
Die Urteilsbildung im Skandal folgt den gleichen Prinzipien. Auch hier geht es um objektive Tatsachen – im Falle Wulff um die Finanzierung seines Hauskaufs, um Ferien bei vermögenden Freunden usw. Die Richtigkeit und Vollständigkeit der Informationen ist im Experiment nicht sofort prüfbar, weil die Versuchspersonen nicht zum Lichtpunkt gehen dürfen, im Skandal nicht, weil notwendige Informationen fehlten. So war z.B. lang unklar, zu welchen Konditionen, von wem und wann Wulff Kredite für den Hauskauf erhalten hatte. Im Verlauf einer Skandalisierung gleichen sich die Urteile der dominierenden Sichtweisen an, was alle als Beleg für die „Richtigkeit“ ihrer Sichtweise betrachten.
Trotzdem glauben alle, dass sie unabhängig urteilen - sozusagen aus eigener Einsicht (Illusion der autonomen Urteilsbildung). Zudem sind sie überzeugt, dass sie den Sachverhalt beschreiben - die Bewegung des Lichtpunktes, das Ausmaß der politischen Verfehlung usw. (Essenzialistischer Trugschluss). Tatsächlich ist das, was sie für eine Beschreibung der Natur der Sache halten, Ausdruck eines Schemas, einer spezifischen Sichtweise.
Die Etablierung skandalträchtiger Schemata dauert in den Medien nur wenige Stunden oder Tage. Einen Beleg dafür liefert der Bericht der BILD-Reporter Martin Heidemanns und Nikolaus Harbusch über das Zusammentreffen mehrerer Journalisten in der Kanzlei des Anwaltes von Wulff, Gernot Lehr, drei Tage nach Beginn der Skandalisierung. Dort konnten sie die Unterlagen zur Finanzierung seines Hauses einsehen. Nach Darstellung der Reporter war „von Jagdfieber…nichts zu spüren“ – aber nicht, weil die Journalisten den Vorwürfen keine Bedeutung beimaßen. Es ging „in den Gesprächen, die einige Journalisten miteinander führten weniger darum, ob der Bundespräsident zurücktritt. Vielmehr war die Frage, wann er den entscheidenden Schritt tut“. Drei Tagen nach der Erstveröffentlichung von BILD aber mehr als ein Jahr vor Abschluss der Vorermittlungen durch die Staatsanwaltschaft war damit für die Gatekeeper vor Ort die Sache schon gelaufen.
Nachdem das Anti-Wulff-Schema gebildet war, wurden alle früheren und folgenden Rechercheergebnisse schemagerecht interpretiert. Dazu gehörten angeblich fragwürdige Vergünstigungen (Urlaubausreisen, Flugreisen, Hotelaufenthalte, Buchwerbung, Handybenutzung, Autokauf, Leihkleidung); Kontakte zu angeblich fragwürdigen Personen (Geerkens, Maschmeyer, Glaeseker, Schmidt, Groenewold); ungebetene Telefonanrufe bei Springer - Verlagsangehörigen (Diekmann, Döpfer, Springer) und exotische Themen (Tätigkeit als Anwalt, Rolle im VW-Aufsichtsrat, Ernst Jünger-Zitat, Bobby-Car, Handy-Nutzung usw.). Auf dem Höhepunkt der wechselseitig erzeugten Selbstgewissheit gab es kein Halten mehr. Berthold Kohler, Herausgeber einer angesehenen Tageszeitung, verstieg sich zu einem Spottgedicht über den Bundespräsidenten, drei seiner Kollegen, Günter Bannas, Stephan Löwenstein und Majid Sattar, informierten ihre Leser, wie man im Internet Gerüchte über Frau Wulff findet. Zahllose Kollegen in allen Medien demonstrierten mit dem Kunstwort „Wulffen“ ihren grimmigen Humor.
Nach der ersten Attacke von Bild entstand eine Welle von Wulff-Berichten. Die Zahl der Aussagen über ihn in den meinungsbildenden Medien stieg nach den Untersuchungen des Media Tenor von knapp 100 im November auf über 3.500 im Dezember. Der Anteil negativer Aussagen nahm von weniger als 5 Prozent auf knapp 30 Prozent zu. Daran änderten auch einige kritische Stimmen u.a. von Giovanni di Lorenzo in der ZEIT und von Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung nichts. Zwar wurden viele der Vorwürfe gegen Wulff nicht weiter verfolgt und spielten letztlich keine Rolle mehr. Jeder Einzelne hat aber zu seiner Skandalisierung beigetragen: Sie bestätigten das bereits etablierte Bild von seinem Charakter und ließen ihn im Amt des Bundespräsidenten untragbar erscheinen.
Portionierung
Die meisten Skandale müssen, damit sie ihre volle Wirkung entfalten können, immer wieder neu angefacht werden. Bei der Skandalisierung von Wulff lieferten die Rechercheure von BILD mit ihren schemagerecht interpretierten Erkenntnissen hinreichend viel Nachschub. Trotzdem erlahmte der Schwung der Angriffe nach zwei bis drei Wochen. Das ist normal und deshalb hätte Wulff, weil er nicht entlassen oder abgewählt werden konnte, gute Chancen gehabt, die Angriffe im Amt zu überstehen. Allerdings hatten sich seine Gegner ein Killerthema aufgespart – Wulffs Anruf bei Diekmann. Angesichts der späteren Darstellung des Anrufs als Angriff auf die Pressefreiheit hätte man vermuten können, dass Diekmann den Vorfall in Bild als spektakuläre Exklusivmeldung sofort veröffentlicht. Das hat er aber nicht getan. Die Situation änderte sich schlagartig Anfang Januar 2012 durch Beiträge der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und der Süddeutschen Zeitung. Innerhalb weniger Tage mutierte der Mailboxanruf zum „Drohanruf“ und zum Angriff auf die Pressefreiheit. Die schemabildenden Schlüsselworte hatte Wulff selbst geliefert: „Rubikon“ und „Krieg führen“.
Die Welle von weitgehend gleichartigen Kommentaren und Meldungen vermittelte den Eindruck, als sei der Anruf eine einzigartige Entgleisung gewesen. Einzigartig war er insofern, als Wulff auf der Mailbox einen Beweis hinterlassen hatte. Keineswegs einzigartig war aber sein Ansinnen: Fast die Hälfte der Berliner Korrespondenten hat nach eigenen Angaben schon die Erfahrung gemacht, dass Politiker ihre Berichterstattung mit Hilfe ihres Redaktionsleiters beeinflussen wollten. Jeder Zehnte berichtet, der Politiker habe die Berichterstattung über ein bestimmtes Thema verhindern wollen. Hierbei handelt es sich um eine kritikwürdige, aber nicht unübliche Praxis - und das Verhalten von Wulff war keineswegs so einzigartig, wie es dargestellt wurde. Einige Monate später bekannte deshalb Michael Hanfeld ganz entspannt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Anrufe von…von Politikern…, freundliche oder unfreundliche, berechtigte Kritik, Beschwichtigungen oder Drohungen sind für Journalisten Tagesgeschäft. Wollte man derlei an die große Glocke hängen, käme man zu nichts anderem mehr“.
Instrumentelle Aktualisierung
Als klar war, dass Wulff dem publizistischen Druck nicht nachgeben würde, blieb nur ein Mittel, ihn zum Rücktritt zu zwingen – die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens und die dafür erforderliche Aufhebung seiner Immunität. Ein Mittel dazu war die instrumentelle Aktualisierung der Kritik von Juristen an der angeblich zögerlichen Behandlung der Vorwürfe durch die Justiz. Am 7. Februar behauptete Dietmar Hipp in SPIEGEL ONLINE: „Im Fall Wulff werfen immer mehr renommierte Strafrechtler den Ermittlern vor, den Bundespräsidenten zu sanft zu behandeln“. Er belegte seine Behauptung mit Äußerungen von mehreren Strafrechtsprofessoren. Am 9. Februar berichtete BILD, die Hannoveraner Staatsanwaltschaft zeige sich durch einen Bericht des Blattes über einen Hotelaufenthalt von Wulff auf Sylt „alarmiert“. Am 10. Februar, nannten Severin Weiland und Philipp Wittrock in SPIEGEL ONLINE die Tätigkeit der Ermittler als eine „drei größten Gefahren für Wulff“, weil „der Druck“ auf die Staatsanwälte, ihre Ermittlungen über Olaf Glaeser und Manfred Schmidt auf Wulff auszuweiten, gestiegen sei. „Sollte die Staatsanwaltschaft tatsächlich einen Anfangsverdacht erkennen, müsste sie beim Bundestag beantragen, die strafrechtliche Immunität des Präsidenten aufzuheben“. Am 14. Februar erhöhten die beiden Autoren an gleicher Stelle selbst den Druck, über den sie zuvor berichtet hatten. Unter der Überschrift „Staatsdiener gegen Staatschef“ behaupteten sie, „mit wachsender Empörung“ würden viele beobachten, „wie die Justiz bislang mit dem Fall Wulff umgeht. Bis jetzt ist es nicht zu staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen den Bundespräsidenten gekommen… Das wundert etliche Staatsdiener“. Am 16. Februar war es dann soweit. Der Hannoveraner Oberstaatsanwalt Clemens Eimterbäumer, der noch wenige Tage vorher gegenüber dem Tagesspiegel einen enormen inneren wie äußeren Druck eingeräumt hatte, beantragte die Aufhebung der Immunität Wulffs.
Was die Mehrheit der Strafrechtler in Deutschland insgesamt und die Mehrheit der Strafrechtsprofessoren dachte, erfuhr man vor dem Rücktritt Wulffs nicht. Nach dessen Rücktritt erklärte Roman Herzog, ehemaliger Bundespräsident und Präsident des Bundesverfassungsgerichtes sowie Mitherausgeber eines maßgeblichen Kommentars zum Grundgesetz, das Grundgesetz weise einen Konstruktionsfehler auf. Einerseits könne nur das Bundesverfassungsgericht einen Bundespräsidenten aus dem Amt entfernen - und auch das nur wegen eines schweren Verbrechens. Andererseits könne ein Staatsanwalt bei der Aufnahme von Vorermittlungen wegen eines einfachen Vergehens die Aufhebung der Immunität des Bundespräsidenten beantragen, was einer Entfernung aus dem Amt gleichkomme. Deshalb sollte überlegt werden, ob man zum Schutz des Amtes das Grundgesetz ändern müsse.
Skandale und publizistische Konflikte
Warum musste Christian Wulff als Bundespräsident zurücktreten, Johannes Rau aber wegen vergleichbarer Vorwürfe ein Jahrzehnt zuvor nicht? Eine Antwort auf diese Frage gibt die Unterscheidung zwischen Skandalen und publizistischen Konflikten. In beiden Fällen werden tatsächliche oder vermeintliche Missstände angeprangert, und in beiden Fällen sind oder erscheinen die Fakten nach wenigen Tagen unstrittig. Daneben gibt es gravierende Unterschiede. Bei Skandalen besteht nach kurzer Zeit ein Konsens in der Einschätzung der Ursachen und des Ausmaßes der Missstände sowie in der Verantwortung ihrer Urheber: Sie haben nach allgemeiner Überzeugung aus egoistischen Motiven, freien Stücken und in Kenntnis der Folgen gehandelt. Deshalb sind sie voll verantwortlich und müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Bei publizistischen Konflikten entsteht eine Auseinandersetzung über die genannten Sachverhalte: Ein Teil der Beobachter hält die Missstände nicht für gravierend oder unvermeidbar. Zudem schreibt er den Urhebern legitime oder altruistische Ziele zu, die ihr Verhalten in einem milden Licht erscheinen lassen. Ein anderer, etwa gleich großer Teil, sieht das ganz anders. Im publizistischen Konflikt geht es vor allem darum, wie das Urteil aussehen soll. Im Skandal steht das Urteil bereits fest. Es geht nur noch darum, wann und wie es exekutiert wird. Deshalb haben die Angeprangerten bei publizistischen Konflikten gute, bei Skandalen schlechte Chancen, die Anprangerung im Amt zu überstehen.
Ein guter Indikator für die Unterscheidung von Skandalen und publizistischen Konflikten ist der Anteil negativer und positiver Stellungnahmen in der Berichterstattung. Wie sah das Meinungsspektrum im Fall Wulff aus? Im zweiten Halbjahr 2011 waren laut Media Tenor 41 Prozent der Aussagen über Wulff in reichweitenstarken Medien wie Bild, Spiegel, Focus sowie den Fernsehnachrichten negativ, 2 Prozent waren positiv. Der Negativ-Saldo für Wulff betrug folglich – 39 Prozent. Die Kritik an Wulff entwickelte sich zu einem Skandal, in dem seine Unterstützer ab Dezember 2011 kaum eine Rolle spielten.
Wie verlief die Skandalisierung von Johannes Rau in der sogenannten „Flugaffäre“? Nachdem Rau im Juli 1999 als Bundespräsident vereidigt worden war, berichteten im Dezember mehrere Medien über die Bezahlung von Dienstreisen des damaligen Ministerpräsidenten Rau durch die WestLB. Im Januar 2000 warf eine Zeugin im inzwischen eingesetzten Untersuchungsausschuss Rau vor, er habe auf Kosten der WestLB auch Privatreisen unternommen. Anfang Februar berichtete der Spiegel, die WestLB habe die Kosten für eine Geburtstagsfeier von Rau mit 1.500 Gästen in Höhe von 150.000 DM übernommen. Mitte Februar hieß es im gleichen Blatt, die WestLB habe Wahlkampfreisen Raus sowie seine Reisen zur SPD-Veranstaltungen finanziert. Im Fall von Rau ging es folglich um ganz andere Summen als im Fall Wulff. Wie sah das Meinungsspektrum im Falle Rau aus? Damals waren laut Media Tenor 14 Prozent der Aussagen negativ. Ihnen standen 8 Prozent positiver Aussagen gegenüber. Der Negativ-Saldo für Raum betrug folglich – 6 Prozent. Er war nahezu ausgeglichen. Die Kritik an Rau mündete nicht in einen Skandal, sondern in einen publizistischen Konflikt zwischen ähnlich starken Lagern mit konträren Sichtweisen. Entsprechend waren die Folgen: „Bruder Johannes“ Rau hat seine Skandalisierung im Amt überstanden, der „Ober-Schnorrer“ Wulff dagegen nicht. Mit der kritisierten Sache selbst hatten beide Reaktionen wenig zu tun.
Der Investiturstreit
Schon lange vor Prozessbeginn gab es dezidierte Kritik von Journalisten an der Skandalisierung von Wulff. Den Auftakt bildeten Beiträge von Stefen Niggemeier im Spiegel, Harald Staun in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und Hans-Ulrich Jörges im Stern. Trotz der enormen Diskrepanz zwischen dem Ausmaß der Skandalisierung von Wulff und dem bescheidenen Ertrag des Ermittlungsverfahrens stimmen aber noch heute nahezu alle Kommentatoren darin überein, dass sein Rücktritt notwendig war. Warum bleiben sie bei ihrer Meinung und wie begründen sie das? Die erste Begründung lautet: Wulff ist selbst schuld, weil er bei seiner Verteidigung schwere Fehler gemacht hat. Nach der gleichen Logik ist der Hase an seinem Tod bei der Treibjagt schuld, weil er so ungeschickt herumgesprungen ist. Das Argument beruht, wenn es kein reiner Zynismus ist, auf einer Verkennung der sachlichen, sozialen und emotionalen Belastungen, denen die Skandalisierten ausgesetzt sind sowie ihrer angesichts immer neuer Vorwürfe sehr begrenzten Reaktionschancen. Die zweite Begründung lautet: Wulff war für das Amt ungeeignet, weil er seiner Vorbildfunktion nicht gerecht geworden ist. Sie wirft die Fragen auf, worin ein Bundespräsident Vorbild sein muss, wer das festlegt und warum ein Amtsinhaber, der in wilder Ehe lebt, der Vorbildunktion gerecht wird? Die dritte Begründung lautet: Wulff war von Anfang an erkennbar für das Amt ungeeignet. Sie wirft die Fragen auf, welche politische Fehler im Amt Wulff gemacht hat oder ob es auf die politische Substanz von Fehlern möglicher Weise gar nicht ankommt?
Jede der drei Begründungen führt zu der Frage, wer über die Bestellung und Entlassung des Führungspersonals entscheidet, die dafür zuständigen Gremien oder die meinungsbildenden Medien? Die deutschen Medien haben innerhalb von drei Jahren zwei Bundespräsidenten, Horst Köhler und Christian Wulff, sowie zwei Bischöfe, Walter Mixa und Franz-Peter Tebartz-van Elst aus ihren Ämtern getrieben. Die Skandalisierung von Wulff weist in diesem Kontext gesehen über den Einzelfall hinaus. Sie ist ein exemplarischer Teil der modernen Neuauflage des Investiturstreits – mit dem Unterschied, dass sich heute nicht mehr Kirche und Staat gegenüberstehen, sondern Medien und Politik, bzw. Medien und Kirche. Ein wesentlicher Grund besteht darin, dass in Deutschland – und vermutlich nicht nur hier – Journalisten und Politiker Rivalen um Macht und Moral sind. Bundestagsabgeordneten und Hauptstadtkorrespondenten waren bei einer Befragung 2008 übereinstimmend der Meinung, dass die Medien mehr Einfluss auf die Politik haben als die Politik auf die Medien. Vor vierzig Jahren war das noch umgekehrt. Nun schrieben die Politiker und Journalisten auf einer Skala von 0 bis 10 den Medien einen Einfluss von 8,2 bzw. 7,0 zu, der Politik aber nur einen Einfluss von 5,3 bzw. 6,2. Journalisten und Politiker erkennen folglich ein klares Machtgefälle zwischen Medien und Politik.
Während die Politiker damit zufrieden wären, wenn Politik und Medien weniger aber gleich viel Macht hätten, sollte nach Meinung der Journalisten das Machtgefälle zwischen Medien und Politik dreimal so groß sein, wie es heute schon ist. Dieser Machtanspruch ist mit massiven Zweifeln an der Moral der Politiker verbunden. So waren drei Viertel der Hauptstadtkorrespondenten der Überzeugung, dass die Mehrheit der Politiker „vor allem ihre Eigeninteressen und die Interessen ihrer Partei“ vertreten. Genau so sahen und sehen sie Wulff, und deshalb musste er in jedem Fall zurücktreten. Zwar haben Politiker eine genau so schlechte Meinung von der Moral der Journalisten wie umgekehrt. Das nutzt ihnen aber, wie der Fall Wulff zeigt, nichts, weil Journalisten mehr Macht haben und noch mehr Macht beanspruchen, und weil sie es als ihre Aufgabe betrachten, ihre Macht zur Beseitigung der von ihnen erkannten Missstände einzusetzen. Das ist verständlich, hebelt aber die Auswahl des Führungspersonals durch geregelte Verfahren aus und ersetzt sie durch medial erzeugte Stimmungsbilder. Mit den Prinzipien einer repräsentativen Demokratie ist das nicht vereinbar.
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