- Das Nicht-Ereignis
Nach zwei Jahren Hass, Verleumdung, Gegenkampagnen, Demonstrationen, Hausbesetzungen und abmontierten Wahrzeichen eröffnet mit Chris Dercon ein neuer Intendant die Berliner Volksbühne. Nach dem seltsamen Eröffnungsabend bleibt nichts zurück außer der Frage: Wozu das Theater?
„Was, in die Volksbühne? Da kann man doch nicht hingehen, das ist doch böse“, warnte eine Bekannte, eine Architektin, die sich bisher nicht als Theaterkritikerin geoutet hatte, bevor es durch das Berliner Schmuddelwetter auf den Weg in eines der bekanntesten deutschen Schauspielhäuser ging. Und ein bisschen mulmig war einem ja auch, schließlich war der Neueröffnung ein „politischer Mord“ vorausgegangen, wie es der Schauspieler Milan Peschel ausgedrückt hatte. Das Verbrechen, das unter Berlins Kulturschaffenden, zumindest unter denen, die ihr staatlich subventioniertes Tun als besonders subversiv einstufen, und das sind in Berlin die meisten, mindestens an den Staatsterror in der Türkei heranreicht, war gewesen, dass Frank Castorf nach 25 Jahren als Intendant abgesetzt und von dem belgischen Museumsdirektor Chris Dercon ersetzt wurde. Es folgten zwei Jahre Hass, Verleumdung, Gegenkampagnen, Demonstrationen, Hausbesetzungen und abmontierte Wahrzeichen. Und jetzt also der erste Abend unter dem graubärtigen Dercon, der immerhin vor seiner Museumskarriere mal Theaterwissenschaften studiert hat.
„Nur über meine Leiche“
Man hatte sich also auf einiges gefasst gemacht. Auf Horden aufgebrachter arbeitsloser Schauspieler etwa, die einem das Ticket aus der Hand reißen würden. Oder auf die Bestuhlung, deren Demontage Castorf noch selbst angeordnet hatte, als undurchdringbares Hindernis aufgebaut. Stattdessen: nichts. Um hineinzukommen genügte es, das Ticket vorzuzeigen, dafür erhielt man dann, wie auf einem Festival, ein Bändchen um dem Arm. Vermutlich hatten die Protestler sich einfach verspätet, kann ja mal passieren, denn als die Klingelzeichen schon verklungen waren, erschien dann doch noch ein Grüppchen, das sich sogleich geschlossen auf die nasskalte Vortreppe niederlegte. Auf ihnen lagen DIN-A4-Blätter mit dem Satz „Nur über meine Leiche“. Eine Frau im weißen Kleid ging zwischen ihnen umher und bestreute sie mit Mehl. Die vereinzelten Zuspätkommer huschten dennoch ohne weiteren Zeitverlust hinein. Bei einem späteren Blick nach draußen hatten sich die Leichen verflüchtigt, es war ja auch wirklich kalt, nur die Frau war noch da und unterhielt sich mit den Polizisten, die in voller Stärke eines Mannschaftswagens das Geschehen beobachtet hatten.
Innen fing derweil das Licht an zu zucken. Hatten die neuen Verantwortlichen bei allem Tatendrang vergessen, die Stromrechnung zu bezahlen? Nein, Konzept! Denn als man sich im großen Saal mangels Alternative auf den Boden gesetzt hatte, ging auch dort das Licht aus. Und dafür die Musik an. Es folgte eine Art Licht- und Technikshow, dessen Highlight es war, dass der riesige Kronleuchter sich langsam absenkte. Das Ganze dauerte ungefähr zehn Minuten, dann sollten alle wieder nach draußen auf die Flure. Niemand wusste jetzt so recht, was er machen sollte, also holten sich die meisten ein Bier und unterhielten sich. Auf den Fluren waren Leinwände aufgebaut, die Avatare zeigten, die über irgendetwas redeten, über was, ließ sich nicht ausmachen, es ging im allgemeinen Stimmengewirr unter. Plötzlich sagten ein paar reale dürre Teenager auf Englisch einstudierte Texte auf, denen aber auch niemand folgen konnte. Das war natürlich alles Kunst, besser gesagt „Performance“ des Deutsch-Briten Tino Sehgal.
Nach eineinhalb Stunden doch noch Theater
Ein Stockwerk höher sprach einen dann aus dem Nichts ein Mann mit grün lackierten Fingernägeln an, man solle doch mal was über Marktwirtschaft sagen. Wow. Interaktion! Kontroverses Thema! Als Entschädigung für diese Zumutung erhielt der teilnehmende Zuschauer 20 Prozent des Eintrittspreises zurück. Immerhin.
Nach eineinhalb Stunden des Herumflanierens sollte es dann doch noch Theater geben. Und zwar nicht irgendeins, sondern gleich drei Stücke der irischen Legende Samuel Beckett. Spielen sollte die Anne Tismer, die vor 15 Jahren als Ibsens „Nora“ an der Berliner Schaubühne einmal der deutsche Theaterstar war. Also wieder rein in den Saal, und diesmal gab es sogar Stühle. Aber von Anne Tismer nur den Mund. In einem Loch des Vorhangs wurde der angestrahlt, als er den Monolog von „Nicht ich“ sprach. Es war der erste gute Einfall an diesem Abend. Aber auch hier war der Inhalt so leise gesprochen, dass kaum etwas zu verstehen war. Ähnlich unverständlich blieb das zweite Stück „Tritte“, für das Tismer immmer wieder viermal nach rechts und dann nach links schritt. Beim dritten Stück „He, Joe“ war dann von Tismer nichts mehr zu sehen, dafür konnte man dank Mikrofon zum ersten Mal hören, was sie sagte. Auf der Bühne saß nun der dänische Schauspieler Morten Grunwald, dessen furchenreiches Gesicht auf einer Großleinwand immer größer wurde. Wie das bei einem anderen Schauspieler aussieht, lässt sich übrigens für umme auf Youtube betrachten, denn fürs Fernsehen wurde das Stück einst fast genauso inszeniert. Aber das ist ja erst 51 Jahre her.
Stühle und Gedanken abgeräumt
Und das war’s dann. Halt, nein, es kam ja noch was. Aber nicht „das Beste“, wie es uns in „He, Joe“ versprochen wurde. Denn die jungen Menschen, die nun die Stühle wieder abbauten, waren gar keine Bühnenarbeiter, sondern auch von Sehgal instruierte Perfomer, die dazu erst sangen und dann immer wieder in unterschiedlichen Formationen auf einen zurasten und jeweils eine neue Anekdote erzählten, in denen es irgendwie ums Fremdsein ging, die aber allesamt weder witzig noch verstörend noch sonstwie geartet waren, um auch nur eine Sekunde in Erinnerung zu bleiben. Immerhin schafften sie es so, auch alle Gedanken an Beckett abzuräumen, der kleine Rest Theater, der von diesem Abend hätte bleiben können.
Nun war ja auch die Volksbühne unter Castorf schon lange nicht mehr das „Kraftzentrum des deutschen Theaters“, wie es der Spiegel einst bezeichnet hatte. Vor allem die Inszenierungen des früheren Intendanten wurden immer länger, aber nicht mehr besser, und das ewige Revolutionspalaver war zum langweiligen Dauersound der saturierten Berliner Gegenkultur geworden. Die Zeit war mehr als reif für ein anderes, ein neues Theater am Rosa-Luxemburg-Platz.
Aber was sollte uns diese seltsame Mischung seines Nachfolgers Dercon sagen? Castorfs Kollege Claus Peymann, auch er gerade im Zorn aus dem Berliner Ensemble entlassen, hatte Dercon bezichtigt, aus der Volksbühne einen „Eventschuppen“ machen zu wollen. Die Befürchtung scheint unbegründet, zumindest bei der Eröffnung passierte wenig bis nichts. Ein älterer Herr freute sich dennoch über den „Tag der offenen Tür“. Er habe die Volksbühne seit 25 Jahren nicht mehr betreten können. Unter Castorf wäre er da nur über seine Leiche hingegangen. Jetzt musste er nur über ein paar liegende Castorf-Jünger hinweg.
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Castorf ist ein genialer regisseur. Seine letzten inszenierungen waren grosse Kunst. (Seine ersten auch) schade dass man die volksbuehne der langeweile preisgibt. Cecilia mohn
Lieber Herr Wißmann, ich lese Ihre Artikel sehr gerne, weil sie toll geschrieben sind und den Nagel auf den Kopf treffen - so auch diesmal wieder. Mein Wunsch: die Volksbühne möge bald befreit sein von diesem Dercon, oder wie der Nichtskönner heißt.
Schon der Mund - ich liebe rotgemalte Lippen - aber dieser Mund ist eine Katastrophe an Unkunst.
Igittigitt. Was Castorf betrifft - er ist ein genialer Regisseur und war in seinen letzten Inszenierungen - genauso wie in seinen ersten - einfach umwerfend. Trotzdem kann es natürlich eine neue Handschrift an der Volksbühne geben nach so vielen Jahren - aber bitte nicht so langweilig und unbedarft wie die von Dercon.
(Wie wäre es mit meiner? nein, im Ernst ...)
Cecilia Mohn
Nachdem an vielen Bühnen seit Jahrzehnten das brave bürgerliche Abonnement-Publikum mit Antikunst und Hassparolen aus der linken Ecke überschüttet wurden (Nackte, Nazis und viel Körpersubstanzen), gehen die Besucherzahlen an vielen Theater im Land doch langsam zurück.
Was Constantin Wißmann köstlich beschreibt, ist die realsatirische gleichzeitige Abschaffung und Neuerrichting eines Volkstheaters, das nie und nimmer einern Thomas Bern. auf die Bühne brächte.
Vermutlich ein zu wenig linker Bühnenbrecher ...
"Einziger Einfall eines langen Abends: Der rote Mund..."
Und selbst der ist geklaut:
Dem Artikel entnehme ich, dass Castorf eben unfreiwillig schied und dies von Teilen des Publikums auch so gesehen wird. Von wievielen?
Die Phase des "Rückzugsgefechtes" (Castorf) wie auch schon des "Abwehrkampfes (Peymann) kann so eine neue Intendanz derart überlagern, dass man wie der Autor, so empfinde ich es, ängstlich ins Theater geht, neues Publikum abgeschreckt wird und so der neue Intendant scheitern muss.
Bedauerlich, denn ein großer Intendant bedeutet nicht automatisch die Fähigkeit zur Selbstkritik, noch die Einsicht Neues zuzulassen.
Das alles aber hätte passieren müssen, Selbstkritik und Einsicht des alten intendanten mit anschliessender aktiver/freundlicher Überleitung an den Neuen.
Wenn Castorf über seine eigenen Inszenierungen beständig hinauswuchs, die Möglichkeiten der Volksbühne damit evtl. sprengte, dann sollte sie ihm einmal im Jahr Bühne sein für eine transdimensionierte Aufführung.
Wenn er denn so gut ist, wie Frau Mohn beteuert, also frei von Größenwahn.
Das wäre doch einmal eine super Idee, Frau Dorothee Sehrt-Irrek!
CM
Darf man das Ganze Narretei nennen? Ich bin dafür!
Man muss dieses Chris-Dercon-Performance-Paket einordnen.
Zu mindestens es versuchen.
So für sich.
""Nach eineinhalb Stunden des (schon dramatisch mehrfach unterlegten) Herumflanierens sollte es dann doch noch Theater geben.
Und zwar nicht irgendeins, sondern gleich drei Stücke der irischen Legende Samuel Beckett.""
Meine Verortung des dargebotenen "Volksbühnen"-Avantgardismus gleicht einer für mich analogen KUNST-Episode (Einige werden sie kennen):
""Der mit schwarzer lockiger Perücke und schwarzem Vollbart optisch an einen orthodoxen Juden erinnernde Harpe Kerkeling gibt ein Stück zum Besten, das aus wenigen Satzfragmenten besteht, die von anstrengender, expressiver Piano-Musik getrennt werden.
Ihr Inhalt: „Der Wolf – das Lamm -auf der grünen Wiese.
Das Lamm schreit: Hurz!“
Das beflissene Kulturpublikum lauscht mit ernster Miene, applaudiert brav – und führt im Anschluss eine Diskussion über den intellektuellen Gehalt des Stückes.""
Mehr ist nicht dazu zu sagen.