- Werden die Grünen ohne Roth jetzt Schwarz?
Schluss mit der Kettung an die SPD: Die Grünen wollen sich künftig alle Bündnisoptionen offenhalten – auch mit der Union. Und die Partei verabschiedet sich von Claudia Roth, dem linken Urgestein
Claudia Roth schüttelt ungläubig den Kopf. Minutenlang klatschen die Delegierten für sie, dreimal gibt es Standing Ovations. Sie jubeln, pfeifen; sie feiern sie wie einen Popstar, bis der scheidenden Grünen-Chefin die Tränen kommen. „Jetzt habt ihr Claudia zum Weinen gebracht“, sagt Frithjof Schmidt, der eine Dankesrede auf sie hält.
Claudia Roth und die Grünen, die Parteichefin und ihre Basis – elfeinhalb Jahre lang währte diese Verbindung. Jetzt zieht sich Roth, die Bundestagsvizepräsidentin werden will, zurück. Sie wolle „dem Amt nicht zum Verwechseln ähnlich sehen“, sagt die 58-Jährige. Am Samstag im Berliner Velodrom braucht die Partei Claudia Roth noch einmal, um sich nach dem Wahldebakel wieder aufzurichten. „Traurig waren wir, aber jetzt ist auch mal wieder gut“, ruft sie den Delegierten zu.
Mit Claudia Roth geht nicht nur ein linkes Urgestein, eine schrille Kultfigur, eine, die Emotionalität in die Politik brachte. Nachdem zuvor auch Jürgen Trittin abserviert wurde, fällt mit Roths Rückzug auf dieser Bundesdelegiertenkonferenz ein Tabu: Bislang positionierten sich die Grünen klar links. Ein Lagerwahlkampf mit der SPD, Rot-Grün, das war die einzige Option. Jetzt sind plötzlich andere Ausrichtungen denkbar.
Özdemir genervt vom „Gehabe der Flügel“
Die Grünen wollen sich künftig alle Koalitionsoptionen offen halten. Also auch „Rot-Grün-Rot oder Schwarz-Grün“, so steht es im Antrag des Parteivorstands, den die Delegierten verabschieden. Dem ist ein hartes Ringen um Formulierungen vorausgegangen; rund 2600 Änderungsanträge gingen vor dem Parteitag ein.
Zu dieser neuen Ausrichtung passt, dass Parteichef Cem Özdemir wiedergewählt wird. Er erhält 71 Prozent der Stimmen. Nicht großartig, aber solide. Immerhin hatten Medien spekuliert, ob die Bundesdelegiertenkonferenz ihm einen Denkzettel verpassen würde. Dazu kam es nicht.
Özdemir sagt, ihn habe das „Gehabe der Flügel“ genervt. Damit meint er den parteiinternen Richtungsstreit; der Vorsitzende gehört selbst dem Realo-Flügel an. Was ihn nicht daran hindert, gleich wieder in Flügellogik zu verfallen: In seiner Bewerbungsrede hält Özdemir sich mit Kritik an der Union zurück, stattdessen attackiert er die SPD. Er warf Parteichef Sigmar Gabriel vor, den gleichzeitigen Ausstieg von Atom und Kohle als Hindernis für die Energiewende bezeichnet zu haben. Distanz zu den Sozialdemokraten: Was im Wahlkampf noch undenkbar war, ist jetzt möglich. Der großen Koalition, versprach Özdemir, werde er noch „ordentlich Feuer unterm Hintern machen“.
Das neue linke Plätzchen in der Parteispitze, das Claudia Roth hinterlässt, wird nun von Simone Peters besetzt. Die Saarländerin hält eine brave, mausgraue Rede, fordert „100 Prozent Erneuerbare Energien“. Peters wolle die Grünen wieder stärker thematisch ausrichten, „integrativ und streitbar“ machen und als starke Opposition „gegen eine XXL-Partei im Bund“ positionieren. 76 Prozent der Delegierten stimmen für sie.
Selbst der neue Fraktionschef Toni Hofreiter, ein Typ mit langen Haaren, gibt sich plötzlich mittig. Der Bayer ruft nach mehr Gestaltungsoptionen, „und sprechen wir es direkt aus: Machtoptionen“. Dreimal habe man Rot-Grün ausprobiert, dreimal sei man gescheitert. Nun müsse die Partei sowohl für Rot-Rot-Grün als auch für Schwarz-Grün offen sein. Dabei ist auch Hofreiter der Kandidat der Parteilinken. Immerhin, ein bisschen Rebellion versucht er doch. Er sagt: „Regieren darf kein Selbstzweck sein.“ Naja, es war ein Versuch.
Es sind Ultra-Realos wie Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen, die plötzlich Applaus erhalten. Oder Winfried Kretschmann, der Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Der hatte die Partei schon vor der Bundesdelegiertenkonferenz mit einem Interview aufgeschreckt. Die Grünen seien aus der Spur geraten, sagte er da – an die Adresse von Jürgen Trittin. Es sei „schlimm“, dass die Grünen ihren Herausforderungen nicht gerecht worden seien, betonte Kretschmann am Freitagabend.
Trittin räumte ein: „Ja, wir haben Fehler gemacht.“ Aber den Eindruck, dass diese Partei aus der Spur sei, könne er nicht teilen. Trittin verteidigte den Kurs der Grünen und äußerte Zweifel an Bündnissen mit der Union oder der Linken.
„Vielleicht waren wir gerade viel zu sehr in der Spur“, versucht es Katrin Göring-Eckardt am Samstag, „und haben zu wenig mitgekriegt, was daneben passiert“. Im Wahlkampf sei es zu wenig gelungen zu erklären, „was unsere Motivation ist“. Die Fraktionschefin betont, die Grünen müssten sich wieder stärker auf Ökologie und Freiheit besinnen. Sie sei erstaunt gewesen, wie weit CDU und CSU in den Sondierungsgesprächen zu Zugeständnissen bereit gewesen seien. Gereicht habe es trotzdem nicht. Mit Blick auf die Linke ruft sie: „Die Hausaufgaben können nicht wir machen, da muss Gregor Gysi seine Partei zum Erwachsenwerden bringen.“ Gegen die Linken klingt da mehr Skepsis durch als gegen die Union.
„Oberlehrerhaft“ und „selbstgefällig“
Das Delegiertentreffen ist aber nicht nur ein koalitionärer Selbstfindungstrip. Es ist auch ein Anlass zur Fehlerdiagnose. Das verheerende Wahlergebnis hat die Partei traumatisiert. Und so keilen die Delegierten los: Die Grünen seien im Wahlkampf „oberlehrerhaft“, „selbstgefällig“, bisweilen „gehetzt“ aufgetreten. Das „Du“ auf den Plakaten habe viele Wähler abgestoßen, schimpft eine bayerische Delegierte. Es helfe jetzt wenig, sich gegenseitig zu versichern, „dass wir die Guten sind, weil wir selbstlos die Welt retten wollen“, warnt Antje Hermenau, Fraktionschefin in Sachsen. Eine Delegierte beklagt, dass sie zum Thema Pädophilie noch keine Entschuldigung gehört habe. Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke analysiert, die Debatte um Kindersex habe der Partei „den Absturz in die Einstelligkeit eingebracht“.
Vielleicht aber ist es Hessens Fraktionschef Tarek al-Wazir, der von diesem Parteitag die wichtigsten Impulse aussendet. Er warnt die Delegierten davor, die Sozialdemokraten in allzu warmen Farben zu malen. „Wenn ich eine Kohlepartei kenne, dann ist das die SPD in Nordrhein-Westfalen“, ruft er unter dem Applaus der Delegierten. „Bei denen setzt automatisch das Hirn aus, wenn jemand ‚Glück auf, der Steiger kommt‘ singt.“ Al-Wazir kündigt an, im hessischen Landtag mit allen Parteien „ernsthaft“ zu sondieren – auch mit der Linkspartei und der CDU.
Ist das die neue Formel dieser Partei nach ihrer Zäsur: Grüne minus Roth gleich Schwarz? Claudia Roth ruft Tarek Al-Wazir am Ende noch zu: „Mach es. Aber bitte nicht Jamaika.“
Vielleicht wird die Zukunft der Grünen ja weder auf dem Parteitag noch im Bundesvorstand entschieden. Sondern in Hessen.
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