- „Timoschenko war respektlos“
Mykola Asarow ist einer der mächtigsten und einflussreichsten Männer der Ukraine. Mit Cicero sprach der Premier über Demokratie, Schulden, Pressefreiheit und Gasgeschäfte. Ein Blick in ein von Skandalen geschütteltes Land
Ein Fahrer der ukrainischen Regierung steht schon am Flughafen Borispol. Der liebenswürdige Leonid spricht lieber russisch als ukrainisch, so wie etwa ein Drittel aller Ukrainer. Angeregt von den jeweiligen Bauten am Straßenrand referiert er über die Geschichte seines Landes, bis der Wagen auf den Vorplatz des Regierungsgebäudes in Kiew rollt. Leonid spricht noch kurz über den Bau aus Stalins Zeiten. Die oberste Fensterfront des zehnstöckigen Architekturdenkmals hat der frühere Premier Pawlo Lasarenko in den Neunzigern weiß streichen lassen. Heute sitzt Lasarenko wegen Geldwäsche im Gefängnis.
Um mit dem heutigen Premierminister der Ukraine, Mykola Asarow, zu sprechen, muss man mehrere elektronische Sicherheitsschleusen passieren, mit einem abgenutzten Fahrstuhl in den sechsten Stock fahren und in den siebten Stock gehen. Wer früh kommt, wartet in einem offenen Vorraum. Darin befindet sich ein beigefarbenes Ledersofa, auf dem mindestens zehn Menschen sitzen könnten, natürlich nur theoretisch. Es ist ein Vorraum des Vorraums, wie sich nach einer Weile herausstellt. Im nächsten Raum stehen etwa 14 Stühle und ein großer Tisch, alles in neobarocker Opulenz. Drei Männer in Anzügen warten schon. Wir unterhalten uns vorsichtig. Einer soll fotografieren, einer zuhören und einer im Notfall übersetzen. Nach einer Weile sage ich, in diesen Vorräumen könne man erfahren, wie die Vermittlung von Machtfülle durch Platzfülle funktioniere. Einer der Männer rät, unbedingt den Film „Der große Diktator“ von Charlie Chaplin anzuschauen. Dann öffnet sich eine Tür. Vielleicht zu einem weiteren Vorraum? Nein, Mykola Asarow bittet zum Gespräch.
Herr Premierminister, Sie haben gesagt, dass die Ukraine
in einem halben Jahrhundert ein stabiler europäischer Staat sein
wird. Was meinten Sie damit?
Vor allem meinte ich damit, dass es am schwierigsten ist, die
Gewohnheiten in einem Land zu ändern – die Traditionen, die
Denkweise, die Mentalität. Ich meine Charakteristika, die in
anderen europäischen Gesellschaften als selbstverständlich
gelten.
Was denn zum Beispiel?
Nun, dass sich jeder Beamte vor der Gesellschaft für seine
Handlungen verantworten muss. Das ist bei uns noch keine Norm.
Wie erklären Sie sich, dass Reformen in der Ukraine so
viel länger brauchen als beispielsweise im benachbarten
Polen?
Keine Gesellschaft wünscht Veränderungen. In der Ukraine glaubt man
obendrein nicht an das Gute von Veränderungen. Wir haben schon zu
oft vergeblich versucht, etwas zu ändern. Misslungene Reformen
machen einen Reformprozess noch schwieriger. Außerdem gab es den
Sozialismus in Polen nur ungefähr 30 Jahre lang, während er in
der Ukraine 70 Jahre existierte. Was sein Verhältnis zum Staat
anbelangt, ist der Pole ein Individualist, der Ukrainer hingegen
ein Gemeinschaftswesen. In den Augen des Ukrainers ist der Staat
vor allem ihm gegenüber verpflichtet. In Polen denkt man nicht
so.
Die Finanzagentur Bloomberg geht davon aus, dass die
Wahrscheinlichkeit eines Staatsbankrotts der Ukraine nur
unwesentlich geringer ist als der Griechenlands. Was wollen Sie
dagegen unternehmen?
Ich schätze die Agentur Bloomberg sehr. Aber ich bin der Ansicht,
dass sie die Lage anhand von Daten beurteilt hat, die nicht ganz
mit der Realität übereinstimmen. Für mich gibt es objektive
Kennziffern: etwa das Verhältnis unserer kumulierten Schulden zu
unserer Wirtschaftsleistung, das mit 35 Prozent sehr niedrig
ist. Dagegen beläuft sich das Verhältnis des griechischen
Schuldenbergs zur Wirtschaftsleistung auf 160 Prozent. Unsere
Wirtschaft wächst, die griechische schrumpft. Wir werden keine
Probleme haben, unsere Schulden zu bezahlen.
Der Internationale Währungsfonds (IWF) ist jedoch mit
Ihrer Wirtschaft so unzufrieden, dass er sogar das Kreditprogramm
ausgesetzt hat. Holen Sie sich demnächst das Geld aus
China?
Wir lehnen weder Kredite aus China noch vom IWF ab, sofern die
Bedingungen für uns gut sind.
Seite 2: Die Ukraine und das Gas
Der IWF fordert von Ihnen, die Gaspreise im Land zu
erhöhen, damit der ukrainische Gassektor wirtschaftlich arbeiten
kann. Vor den Parlamentswahlen waren Sie dagegen. Und
heute?
An meiner Haltung hat sich nichts geändert: Wir wollen nicht, dass
unsere Leute wegen hoher Gaspreise leiden.
Die Ukraine lebt auch von den Transitgebühren für ihre
Gasleitungen. Wie wollen Sie das Gas durch die Leitungen pumpen,
wenn diese marode sind, die Staatskasse aber zu knapp ist, um sie
zu modernisieren?
Was ist das ukrainische Gassystem? Das sind – einfach
ausgedrückt – drei Rohre. Eine Leitung ist kaputt, die anderen
beiden müssen modernisiert werden. Dies bedeutet: Wenn noch etwas
kaputtgeht, entsteht in Europa ein kolossales Risiko.
Die Ukraine lehnt sich also gelassen zurück und tut so,
als ob sie die Pipelines nicht braucht?
Na ja, wir brauchen sie, aber im Moment sind sie nicht sehr
hilfreich. Für uns hat es keinen Sinn, sich mit einer
Modernisierung der Pipelines zu beschäftigen, wenn die EU und
Russland ihr Gas lieber über die South Stream Pipeline oder die
North Stream Pipeline nach Europa pumpen. Wir brauchen Garantien
von Russland und von der EU. Die EU denkt, dass die Ukraine diese
Investition alleine auf sich nimmt. Wir jedoch haben einen anderen
energiepolitischen Kurs eingeschlagen. Wir machen uns unabhängig
und haben begonnen, mehr Gas in unserem Land zu fördern, nach Gas
im Meer zu suchen und Energie zu sparen.
Im Verhältnis zu ihrer Wirtschaftsleistung verbraucht
die Ukraine immer noch viermal so viel Energie wie
EU-Länder.
Wir sind es nicht gewohnt, sparsam mit Wärme, mit Gas oder auch mit
Wasser umzugehen. Die gesamte Wirtschaft der früheren Sowjetunion
basierte auf der Vorstellung, dass Gas und Wasser nichts kosteten.
Aber jetzt kosten sie etwas. Wir müssen nicht nur die Gewohnheiten
ändern, wir müssen alles umbauen, Häuser, Straßen, Wasserleitungen
und so weiter. Die Fläche der Ukraine ist ungefähr doppelt so groß
wie Deutschland. Wir haben Wasserleitungen mit einer Länge von
ungefähr etwa 200 000 Kilometern. Fast alle müssen ersetzt
werden.
Westliche Beobachter monieren, dass die
Wirtschaftseliten, etwa aus der ostukrainischen Region Donezk,
keineswegs an der Marktwirtschaft interessiert sind.
Das ist falsch. Alle sind in diesem Modernisierungsprozess aktiv,
private und staatliche Firmen. Um vom Gas unabhängiger zu sein,
haben wir innerhalb eines einzigen Jahres sieben große
Elektrizitätswerke von Gas auf Kohle umgestellt.
Gibt es da nicht auch ein strukturelles Problem? Nehmen
wir die Auftragsvergabe für die diesjährige
Fußballweltmeisterschaft: Vor zwei Jahren beschloss das von Ihrem
Präsidenten dominierte Parlament ein Gesetz, das die Verpflichtung
zur transparenten Ausschreibung aufhob. Als Folge gingen die
meisten Aufträge ohne Ausschreibung an Firmen aus Donezk – die
Heimat des Präsidenten.
Aufträge bekamen die Firmen, die in der Lage waren, innerhalb sehr
kurzer Zeit und mit hoher Qualität in dieser Größenordnung zu
bauen. Wenn Sie die Region Donezk etwa mit dem Gebiet Ternopil im
Westen der Ukraine vergleichen, werden Sie feststellen, dass es in
Ternopil nicht eine Firma gibt, die in der Lage wäre, in solchen
Dimensionen zu bauen.
Sie sind gebürtiger Russe. Von Ihnen heißt es, Sie seien
mehr an einer Mitgliedschaft in der Zollunion mit Russland
interessiert als an einer mit der Europäischen Union.
Die Ukraine ist umgeben von Stereotypen. Eines davon lautet, dass
wir nicht an der EU interessiert wären. Natürlich sind wir das.
Schließlich haben wir – bis Anfang dieses Jahres – alles
dafür unternommen, damit das Assoziierungs- und das
Freihandelsabkommen zustande kommen können. Wenn uns jedoch die
Russen versprechen, die Gaspreise zu senken, falls wir in eine
Zollunion mit ihnen einsteigen, so ist das auch eine interessante
Option.
Seite 3: Die Medien berichten kritisch, also gibt es auch Pressefreiheit
Was erwidern Sie jenen, die der ukrainischen Regierung
ein doppeltes Spiel mit der Medienfreiheit vorwerfen?
Kaufen Sie hier in Kiew zehn Zeitungen. Ich wette mit Ihnen, dass
Sie nicht einen einzigen Artikel finden, der meine Regierung
positiv einschätzt. Das Gleiche gilt für unsere
14 Fernsehkanäle. Trotzdem heißt es, ich würde Druck auf die
Bevölkerung ausüben. Nennen Sie mir ein Beispiel!
Gegen den Sender TVI laufen Steuerermittlungen. Außerdem
ist er nur eingeschränkt zu empfangen.
Was nützt es der Regierung, Druck auf diesen Sender auszuüben?
Lediglich einer von 1000 Bürgern der Ukraine schaut ihn. Der
Kanal ist auf Provokation spezialisiert. Herr Knjaschitzki
(Generaldirektor des Senders, Anm. der Red.) ist ein
talentierter Journalist, der verstanden hat, dass er mit Skandalen
punkten kann – so, wenn er etwa behauptet, unsere Regierung
bedränge die Massenmedien. Wenn wir fragen, wo denn dieser Druck
ausgeübt wird, dann nennt man nur ein Beispiel: TVI.
Und das Internetportal LB.UA.
Ach ja, da gab es einen Skandal. Von Sonia Koschkina
(Chefredakteurin des Senders, Anm. der Red.) hieß es, ich
habe ihr Leben bedroht, und sie wäre deswegen emigriert. Dabei habe
ich sie erst vor kurzem gesehen. (In einem Interview mit der
österreichischen Tageszeitung „Der Standard“ vom 23. Juli erklärte
Koschkina, sie habe Ende Juni in Italien erfahren, dass
Ermittlungen gegen sie liefen, und aus diesem Grund ebenso wie drei
weitere Mitglieder der Redaktion beschlossen, vorläufig nicht in
die Ukraine zurückzukehren, Anm. der Red.)
Auch wegen der Inhaftierung Ihrer Amtsvorgängerin Julia
Timoschenko gibt es heftige Kritik. Wäre es nicht längst an der
Zeit, sie in Ruhe zu lassen?
Sie haben ein sehr gutes Wort gewählt: in Ruhe lassen. Es wäre gut,
wenn Timoschenko unsere ukrainischen Bürger in Ruhe gelassen hätte,
statt ihnen so hohe Gaspreise zu bescheren, und wenn sie selbst
gezahlt hätte, statt die Schulden ihrer Firmen vom ukrainischen
Staat bezahlen zu lassen. Warum verteidigt der Westen Timoschenko,
die ukrainischen Bürger aber nicht?
Weil der Prozess gegen Timoschenko den Eindruck erweckt,
in der Ukraine würden politische Gegner mithilfe der Justiz
ausgeschaltet.
Timoschenko hat einen guten Freund, Pawlo Lasarenko. Er war
Premierminister von 1996 bis 1997. Timoschenko leitete damals eine
Energiefirma. Mit seiner Hilfe hat sie sehr viel Geld verdient. Um
der Verantwortung zu entgehen, hat Lasarenko damals behauptet, er
werde politisch verfolgt. In Amerika haben sie Lasarenko zu neun
Jahren Haft verurteilt, wegen Geldwäsche. Und wer gab ihm das Geld?
Timoschenko. Das können Sie in dem Urteil nachlesen. Ich bin kein
Jurist. Ich habe aber Juristen aus England gefragt, was sie machen
würden, wenn der Angeklagte ihnen drohen würde, so wie Timoschenko
es getan hat: „Wenn du mich verurteilst, dann stecke ich dich ins
Gefängnis, sobald ich Präsidentin bin.“ Timoschenko hat nicht nur
gedroht, sie hat beleidigt und war respektlos. Man spricht einen
Richter mit „Euer Ehren“ an. Timoschenko aber sagte „Euer
Nicht-Ehren“.
Vielleicht ist das ein Zeichen dafür, dass Ihre
Gerichtsbarkeit den Bürgern noch nicht Anlass genug gibt,
respektiert zu werden?
Die ukrainischen Bürger sind per Verfassung dazu verpflichtet, ihr
Gericht mit Respekt zu behandeln. Timoschenko hat sich so frech
verhalten, weil sie glaubte, niemand würde es wagen, sie
einzusperren.
Mykola Asarow ist seit dem 11. März 2010 Premierminister der Ukraine und Vorsitzender der Partei der Regionen. Zuvor war er Finanzminister und stellvertretender Premier seines Landes
Das Gespräch führte Vanessa de L’Or.
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