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(picture alliance) Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant in „Liebe“

Michael Hanekes „Amour“ - Das Hohelied der Liebe

Der große Verstörer zeigt sich erstaunlich sanftmütig: Mit „Liebe“ / „Amour“ zeichnet Regisseur Michael Haneke ein grandioses Gemälde der Liebe ohne sentimentale Ausflüchte. Dafür mit einem kompromisslosen Blick in unser aller Zukunft

Zu sehen ist ein Bett. Darin eine Frau. Sie ist alt. Die Herrschaft über ihren Körper hat sie längst verloren. Das Gesicht ist verkniffen. Der Urin fließt in eine Windel, die ihr ihr Mann angelegt hat. Aus der Schnabeltasse, die er ihr beinahe schon gewaltsam zwischen die Lippen presst, will sie keinen Schluck mehr trinken. Stattdessen spuckt sie ihm das Wasser ins Gesicht. Er schlägt sie. Diese Ohrfeige, sie schmerzt ihn wohl mehr als sie.

Es heißt, die Liebe erträgt alles. Sie glaubt alles, sie hofft alles. Sie hält allem stand. So steht es jedenfalls im ersten Korintherbrief geschrieben, im Hohelied der Liebe, der wohl bekanntesten Hymne auf einen schillernden Begriff. Es ist die Wortwendung eines großen Gefühls, einer Metapher, die von der sinnlichen Empfindung bis zur Agapé, der selbstlosen Liebe, einer Art ethischen Grundhaltung reicht, die das Wohl des anderen im Blick hat. Die eben geschilderte Szene ist nur eine von vielen aus Liebe, dem meisterlichen Film von Michael Haneke, in dem es gar nicht so sehr ums Sterben geht, wie es in diesen Bildern zunächst den Anschein hat. Das auch. Doch vielmehr fragt sich der österreichische Regisseur mit dem schlohweißen Haar, wie man mit dem Leiden eines geliebten Menschen umgeht.

Schauplatz dieses behutsam gezeichneten Kammerspiels ist eine großbürgerliche Pariser Altbauwohnung, mit Flügeltüren und holzvertäfelten Wänden, an denen eine (von Haneke eigens alphabetisch sortierte) Bibliothek langsam einstaubt. Das Parkett ist matt geworden und ein alter schwarzer Konzertflügel, auf dem früher einmal viel Schubert gespielt worden sein mag, steht schweigend im Raum. Eingebettet in diese vier Wände, die vom Grundriss Hanekes Wiener Elternhaus nachempfunden wurden, leben George (Jean-Louis Trintignant) und Anne (Emmanuelle Riva), ein pensioniertes Musikprofessoren-Ehepaar in den 80ern, die nach vielen gemeinsamen Jahren immer noch eine zärtliche Bande eint.

Eines Morgens, das Ehepaar sitzt am Frühstückstisch, verfällt Anne in eine katatonische Starre. Eine unendliche Minute lang starrt sie schweigend ins Leere; der kleinen Küche, dieser intimen Szenerie seltsam entrückt. Und man sieht es in Georges besorgtem Blick, dass sich in dieser kleinen Geste bereits der zunehmende körperliche und geistige Verfall Annes andeutet. Sie erleidet einen Schlaganfall, der sie halbseitig lähmt und an den Rollstuhl bindet. Kurz darauf macht sie ein zweiter zum endgültigen Pflegefall. Er nimmt ihr die Sprache, bis auf das vielfach ausgestoßene „Mal“ (franz. „Schmerz“), das ihr immer wieder trocken von den Lippen fällt. Da ist er also, der Tod. Ganz nah ist er schon. Behutsam tastet er sich voran. Und plötzlich ist da etwas, das den Lebenden vom Leben trennt.

Der große Verstörer

Allzuleicht ist man versucht zu sagen, das sei ja gar kein echter Haneke, der ewige Verstörer, der uns mit Funny Games (1997) oder Caché (2005) so befremdete. Und tatsächlich, in Liebe zeigt Haneke das große Gefühl ganz ohne Abgrund, ohne Brutalität. Erstaunlich sanftmütig erscheint Haneke und es ist eben jener Sanftmut, der uns bei diesem Regisseur so unvorbereitet ins Herz trifft. Anders als noch in Das weiße Band (2009) wählt Haneke für Liebe auch ein Milieu, das befreit ist von sozialen und finanziellen Nöten. Auf diese Weise bleibt das Wesentliche übrig, das menschliche Drama, das von der puren Emotion zehrt.

Seite 2: Haneke ist sanft geworden

Haneke zeigt sich wie immer als sorgfältiger, sehr genauer Beobachter, der den Gehalt seiner Arbeit, die Ergebnisse seiner Beobachtungen vertrauensvoll in den Dienst der Geschichte und seiner Figuren legt. Dabei entfaltet Emmanuelle Riva, Jugendliebe Hanekes seit ihrem Auftritt in Alain Resnais Hiroshima, mon Amour (1959), ein großartig hartnäckiges, stures Spiel, an dem sich Jean-Louis Trintignant wiederum bravourös abarbeitet. Es sind beiläufige Szenen, wie die, in der Anne ihren elektrischen Rollstuhl austestet oder die, in der George eine Taube in seiner Wohnung fängt.

Dabei profitiert der Film von einem Schauspiel, das von jeglichem Pathos befreit ist, das von der Andeutung lebt, von den leisen Tönen. Die Dialoge bleiben nüchtern, ebenso wie die Kameraarbeit, die Farbpalette ist gedämpft. Wie es denn nun weitergehen soll, fragt da einmal Georges Tochter Eva, die von der Situation völlig überfordert ist. Und er erwidert: „Wir wechseln Windeln. Wir üben sprechen, manchmal singen wir. Manchmal gelingt es mir, sie zu überzeugen, etwas zu trinken oder zu essen. Manchmal gelingt mir das nicht. Manchmal lacht sie. Dann weint sie wieder, ruft um Hilfe. Nichts davon ist es wert, gezeigt zu werden.“

Und Haneke zeigt es doch, im Dazwischen. Nie war er dabei ein größerer Poet, ein größerer Realist, der die Realität des Alterns, des Sterbenmüssens nicht verklärt (wie so viele misslungene Versuche, der letzte schlimme: Und wenn wir alle zusammenziehen?), sondern zeigt sie, wie sie ist. „Es gibt zwei Sachen, die man vermeiden muss“, sagt Haneke, „das Spektakuläre und das Sentimentale.“ Mit beidem würde er der Ernsthaftigkeit des Themas nicht gerecht. Und so wehrt er sich auch gegen „falsch verstandenen Naturalismus“, spart Krankenhausbesuche und Behandlungsszenarien aus und wahrt hingegen die Intimität in den vertrauten vier Wänden, diesem hermetisch abgeschlossenen Liebeskosmos. Er wahrt den Respekt, den ihm das Alter abverlangt. Auch, weil es eine persönliche Geschichte ist, inspiriert durch den Selbstmord seiner über 90-jährigen Tante, die ihn großgezogen hatte, die, ebenso wie Anne, nicht in ein Heim gebracht werden wollte und die ihn erfolglos um Sterbehilfe bat.

Alles was lebt, muss auch sterben

Mit Liebe wagt Haneke einen kompromisslosen Blick in unser aller Zukunft, die uns ängstigt angesichts der Bilder, die wir im Film zu sehen bekommen. Von einem entblößten, nackten, alten, faltigen Körper, der gewaschen werden muss, vom Stöhnen und Schreien. Er zeigt das Alter als einen Umstand, der nun einmal weder zu ändern noch aufzuhalten ist. Er zeigt es als der Welt gewohnten Gang, der – memento mori – verlangt, dass alles, was lebt, sterben muss. Doch er zeigt uns eben auch, was nach all den Jahren von der Liebe bleibt: tiefste Verbundenheit in gegenseitigem Respekt. Und nur ganz langsam begreifen wir, was rührselig-ritualisierte Formeln wie „bis dass der Tod uns scheidet“, „in guten wie in schlechten Zeiten“, „in Gesundheit wie in Krankheit“, eigentlich bedeuten. Bedeuten können!

Haneke bleibt mit diesem Film also der wohlbekannte Verstörer, der er immer war. Er erschüttert und berührt uns zugleich mit seiner Idee von Liebe. Bis ins Mark. Wie es nun weitergehen soll, fragt Tochter Eva. Und George antwortet: „Es geht so weiter wie bisher, bis es irgendwann zu Ende ist.“ Auch Hanekes Liebe, dessen Titel so schlicht wie treffend ist, geht schließlich weiter, bis er irgendwann zu Ende ist. Und wir Zuschauer verlassen den Saal: verstört und voller Liebe.

Amour, F/D/Österreich 2012 - Regie und Buch: Michael Haneke. Kamera: Darius Khondji. Mit Jean-Louis Trintignant, Emmanuelle Riva, Isabelle Huppert, Alexandre Tharaud. X-Verleih, 127 Minuten.
Ab 20. September in den deutschen Kinos

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