- Schweinis Wade und Merkels Ferse
Liegt es am Euro, dass die EM in Polen und der Ukraine fußballerisch bislang nur Hausmannskost bietet? Oder liegt es am ZDF? Es lohnt, angesichts der Krise an den Fußball-Philosophen César Luis Menotti zu erinnern. Für den war das schöne Spiel auf dem Platz die Keimzelle einer neuen Gesellschaft
Es war ein Arbeitssieg, souverän erkämpft, aber ohne spielerischen Glanz. Zwei schnelle, steile Pässe gegen eine in die Jahre gekommene Abwehr reichten, um die Niederlande zu schlagen. Immerhin, so gut ist Deutschland zuletzt 1996 in ein Euro-Turnier gestartet – und da stand am Ende der Titel.
Trotzdem liegt eine merkwürdige Stimmung über dem Land. Echte Fußballbegeisterung will nicht aufkommen. Spielwitz auf der Fanmeile sähe anders aus. Der Autokorso nach dem Sieg gleicht eher einer Pflichtübung. Ob Russland oder Polen ein Vorrundenspiel gewinnt, Griechenland oder Tschechien, ist den meisten Deutschen sowieso egal. Aber auch die Ballzauberer aus Spanien oder Frankreich verheddern sich derzeit in doppelten Viererketten, der FC Chelsea lässt grüßen. Selbst die Witze über die Holländer klingen in diesem Fußballsommer abgestanden. Stattdessen lagen sich Mark van Bommel und Sebastian Schweinsteiger nach dem Spiel müde in den Armen.
Es ist nicht zu übersehen, die Euro 2012 ist noch nicht so recht in Fahrt gekommen. Die Frage ist, liegt es an den Schiedsrichtern – die sind schließlich immer schuld. Liegt es am Wetter, an der ZDF-Bohrplattform auf Usedom? Oder folgt nun die Euro-Krise auf die Euro-Krise?
Womit wir bei Schweinis Wade wären und bei Merkels Achillesferse. Fußball und Politik hätten nichts miteinander zu tun, schrieb der Ex-Cicero-Chefredakteur Michael Naumann in der vergangenen Woche an dieser Stelle. Fußball sei einfach nur ein schönes Spiel. Welch ein Irrtum.
Fußball ist Politik und Politik ist Fußball. Wenn Schweinis Wade zwickt, dann ist das ein Politikum, wenn Merkel zur Achillesferse Europas wird, dann hat das Folgen auf dem Platz. Oder ist es umgekehrt?
Dem Argentinier César Luis Menotti verdankt die Welt die Theorie des linken Fußballs, nach der es auf dem Platz eben nicht nur um den Sieg geht, sondern auch um die Schönheit des Spiels, um das Fußball-Fest, an dem die Menschen wachsen können. Aufrichtig sei der linke Fußball, schrieb der Weltmeister-Trainer von 1978 einst, genial einfach und grundsätzlich schön sowie nur dem Publikum verpflichtet. Das Kollektiv sei beim linken Fußball wichtiger als der Star, so werde das Spiel mit dem runden Leder zur Keimzelle einer besseren Gesellschaft.
Seite 2: Am kommenden Samstag wird Griechenland wohl aus der Euro fliegen, Anfang kommender Woche aus dem Euro
Das Problem ist nur: Die Frage einer bessere Gesellschaft steht in Europa derzeit nicht auf der Tagesordnung. Krisensitzungen, Rettungspläne und Sparpakete aller Orten. Vielleicht kommen die Euro-Kicker deshalb derzeit nicht aus sich heraus.
Am kommenden Samstag wird Griechenland wohl aus der Euro fliegen, Anfang kommender Woche aus dem Euro. Schadenfreude ist da verboten. Spanien ist pleite. Spielt das Team deshalb ohne Sturm? Italien geht es auch nicht viel besser. Europa steckt in der Krise. Von der deutschen Kanzlerin wird deshalb viel erwartet, doch sie traut sich genauso wenig zu wie der formschwache Team-Kapitän Philipp Lahm. Das SPD-Team tourt derweil mit drei Spitzen durch Europa. Wo doch jeder Fußballfan weiß, moderne Mannschaften spielen nur mit einer Spitze. Außer die Niederlande, die boten in der zweiten Halbzeit gegen Deutschland gleich drei Angreifer auf, aber das hat auch nicht geholfen.
Kein Wunder also, dass bei der Euro 2012 in Polen und der Ukraine fußballerisch vor allem Hausmannskost geboten wird. Das scheint im Trend zu liegen. Schon das Champions-League-Finale vor ein paar Wochen hatte einen Sieger, der sich vor allem auf die Verhinderung des schönen Spiels verstand. Aber auch der Verlierer des „Finale dahoam“ hatte Spielwitz und Leidenschaft nicht gerade erfunden. Die Ballkünstler aus Barcelona hingegen mussten zuschauen, aber immerhin hat das schwarz-gelbe Fußballkollektiv aus Dortmund die Deutsche Meisterschaft gewonnen, das macht Hoffnung.
Von dem braven Herrn Löw hingegen ist die Fußballrevolution im Übrigen nicht zu erwarten. Wenn es auf dem Platz erst wird, greift er – wie gegen Portugal – auf alte deutsche Tugenden zurück und er hält an Lukas Podolski auch dann noch fest, wenn er gar keinen Ball mehr trifft . Im Übrigen hilft beim Fußball weiße Salbe genauso wenig wie in der Politik.
Wobei ehrlicherweise Menottis Fußballkollektiv die Weltmeisterschaft 1978 im eigenen Land auch nicht erkämpft, sondern erspielt hat. Die stärkste Szene des Finales gegen die Niederlande bot der Trainer-Philosoph erst nach dem Abpfiff. Bei der Siegerehrung verweigerte er dem argentinischen Diktator Jorge Rafael Videla den Handschlag. Die Geste war ein politisches Statement und mutig, im Gegensatz zu den vielen abgesagten Politikerausflüge Charkiw, Liwiw oder Kiew.
Am 1. Juli findet in Kiew das Finale der Europameisterschaft statt. Auf der Tribüne wird der ukrainische Präsidenten Wiktor Junokowitsch sitzen. Nach dem Spiel wird er dem Sieger die Medaillen umhängen. Bis dahin ist es für Deutschland und alle anderen Teams noch ein weiter Weg. Aber es bieten sich noch viele Gelegenheiten vom Kampf zum schönen Spiel zu finden, aus dem Turnier ein Fest zu machen. Vielleicht wird das Turnier in Polen und der Ukraine so doch noch zu einer Keimzelle eines neuen Europas.
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