- Boden ist nicht nur igitt
Kolumne Stadt, Land, Flucht: Wenn er „Boden“ oder „Erde“ hört, denkt der moderne Mensch zuerst an Schmutz und Dreck. Die UN haben dieser Ressource aber das Jahr 2015 gewidmet. Denn in ihr schlummern überraschende Kräfte
Es regnet seit Wochen. Wie wir Menschen machen unsere Böden eine harte Zeit durch: In Gummistiefeln über den Hof marschieren, bedeutet Wandeln auf wechselndem Grund – auf Hühner-, Gänse- und Pferdemistmatsch, auf Grasmatsch, Moormatsch, Sandmatsch, dann und wann vermischt mit Hagelmatsch.
2015 haben die Vereinten Nationen zum Internationalen Jahr der Böden ausgerufen. Die Idee dazu kam vom thailändischen König Bhumibol, der bekannt ist für seine Bestrebungen, Mensch, Umwelt und Natur in ein ökologisch-ökonomisches Gleichgewicht zu bringen. So steht dieses Jahr im Zeichen dieser lebenswichtigen, nicht erneuerbaren Ressource, die uns Essen und Kleidung, Energie und sauberes Wasser liefert, die uns schützt vor Fluten, die Treibhausgase bindet und ein Viertel der gesamten Artenvielfalt beherbergt. Laut einem UN-Promotionsvideo werden weltweit pro Minute zwei Hektar dieser Böden zerstört. Sie verschwinden, weil gerodet wird und Städte wachsen, sie leiden unter miserabler landwirtschaftlicher Praxis, unter Verschmutzung und Raubbau. Tausende von Jahren dagegen brauche es, um ein paar wenige Zentimeter dieser wertvollen Ressource wiederherzustellen.
Nachhaltigkeit avanciert zum Modewort. Selbst Waschmittel- und Windelhersteller wollen nachhaltig produzieren. Aber gerade der Landwirtschaft liegt sie als Urgedanke eigentlich zugrunde. Jede Bauernfamilie, die sich um das Überleben ihrer Nachfahren sorgt, muss ihren eigenen Grund und Boden nachhaltig bewirtschaften, ist er doch die Grundlage ihres Tuns. Diesen Gedanken beschrieb bereits Hans Carl von Carlowitz im 17. Jahrhundert. Der Sohn einer sächsischen Adelsdynastie forderte in seiner „Sylvicultura oeconomica“ zum ersten Mal eine „continuierliche beständige und nachhaltende Nutzung“ des Holzes, das damals in den Wäldern geerntet wurde.
Nachhaltigkeit schon vor über 300 Jahren gefordert
Carlowitz ging es darum, den Kreislauf der Natur nicht zu unterbrechen. Alles muss immer weitergehen. Und das bedeutet, Verantwortung zu übernehmen für das eigene Handeln. Allzu leicht entziehen wir uns heute diesem Gedanken. In einer globalisierten Welt, in der Raum und Zeit in Auflösung begriffen sind, handeln wir abgekoppelt von der eigenen Verpflichtung für künftige Generationen. Wir erleben Gemeinsamkeit in kurzen Abschnitten: Arbeitsverträge, Beziehungen, Projekte, Teams werden auf Zeit zusammengestellt, realisiert und dann wieder beendet.
Für uns heute Handelnde werden die Auswirkungen unseres Tun immer vielschichtiger und damit immer komplexer. Je mehr wir die Arbeitsschritte aufteilen, desto schwerer wird es, Verantwortung für Grund, Boden und Natur zu erfühlen. Was hat die Kühltheke bei Aldi mit einem verschmutzten Schweinekoben zu tun? Was das neue Smartphone mit den unter unmenschlichen Bedingungen gewonnenen Coltanvorkommen aus dem Kongo? Der Ruf nach nachhaltigen Erzeugnissen für alle klingt schön, nicht nur die niedrigverdienende Familie aber wird ihr Geld vielleicht eher für den Klavierunterricht des Sohnes ausgeben als für das Hühnchen aus dem Hofladen. Und ist das nun schlecht?
Hier endet moralisch eindeutiges Urteilen. Es endet der Anspruch allgemeiner Maximen für das richtige Handeln. Mich überfordert das. Und es bereitet mir ein ständiges schlechtes Gewissen – ob beim Filme Schauen, beim Betreiben von Hobbys oder beim Einkaufen.
Respekt aber für das, was uns unmittelbar umgibt, bleibt das Mindeste, was jeder für sich leisten kann. Und so stapfe ich heute bewusster über den Hof, streife meine dreckigen Stiefel an der Fußmatte ab und freue mich auf den Frühling, wenn aus all dem Matsch, dem Mist, den Blättern und dem vielen Regenwasser die grünen Wiesen wiederauferstehen. Dort werden unsere Tiere dann ihr Futter finden.
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