Bücher des Monats - Mein Vater, der Held

Wie Bernhard Schlink in einer neuzeitlichen Odyssee das Zivile über das Martialische siegen lassen will und am Ende das kriegerische Böse in Person verewigt

Warum eigentlich nicht? Warum nicht mal eine Odyssee des 20. Jahrhunderts erzählen, dabei Joyce ignorieren und – große Moder­nisierung! – konsequent alles umkehren, was Homers Epos einst zum Heldengesang machte? Odysseus, der Viel­befahrene und Listenreiche, könnte in so einer Geschichte natürlich nicht mehr der Held sein, der nach Jahren des Umherirrens siegreich zu Weib und Kind heimkehrt. Der Heros des 20. Jahr­hunderts wäre vielmehr kriegsuntauglich, nach der Niederlage der Seinen hätte er nur eben noch seine Haut gerettet. Penelope wie­derum würde keines­wegs wie vorgeschrieben auf den Heimkehrer warten, sie verbände sich lieber mit dem erstbesten Freier. Gelangt der modernisierte Odysseus dann doch nach Hause, präsentiert sie ihm ein Kind auf dem Arm, ein anderes am Rock­zipfel, zusammen mit deren Vater, ihrem neuen Ehemann. Odysseus muss also wei­ter­ziehen – nicht auf göttlichen Ratschluss, sondern schlicht, weil er keinen Ort mehr hat (und eigentlich, Abenteurer, der er ist, einen solchen auch niemals hatte). Eine Vergangenheit dagegen hat er wohl, und die zu verbergen scheint mehr als ratsam: Der Antiheld des 20. Jahrhunderts, ins Kriegsgeschehen als Propagandist einer mörderischen Staatsmacht verstrickt, muss nach der Kapitulation abtauchen; muss eine neue Identität annehmen und schließlich fortgehen, weit, weit übers Meer, möglichst auf Nimmerwiedersehen. Es geht nicht länger um Heim­kehr, sondern um Flucht.

So ungefähr dürfte sich Bernhard Schlink seinen neuen Roman mit dem Titel «Die Heimkehr» vorgestellt haben: als ein Gedankenspiel und Schreib-Experiment, das sich je nach Bedarf zur Unterhaltungs- wie zur ernsten Seite neigen lässt und damit also genau das Richtige ist für das zweite Romanprojekt des Welt-Megaseller-Autors. Mit seinem Debüt «Der Vorleser» schaffte er es als erster deutscher Autor auf Platz 1 der Bestsellerliste der «New York Times», wurde in 37 Sprachen übersetzt und mit nationalen wie internationalen Preisen ausgezeichnet; in Deutschland ist «Der Vorleser» mittlerweile Bestandteil des schulischen Kanons. Denn Bernhard Schlink, im Hauptberuf Professor für Staatsrecht und überdies Verfassungsrichter, nimmt es gern mit schwergewichtigen Fragen auf; die hüllt er dann in ein leichtes Erzählgewand.


Telemach, alltagsgrau

So ist es in seiner zeitangepassten Odyssee auch der Sohn, der die Spur des verscholle­nen Vaters aufnimmt; der Heldengesang wird, im moderaten Alltagston, von ihm intoniert. Die Quelle, die ihn auf die Spur des Verschollenen führt, stammt auch nicht länger aus den Überlieferungen eines blinden Dichters – Suchvorlage ist vielmehr ein Groschenroman, verfasst vom flüchtigen Vater selbst. Keine unwitzige Idee.

Die wiederum fundamentale Themen mit sich führt. Die Frage nach Schuld und Gerechtigkeit, Verantwortung und Stra­fe hatte Schlink bereits im «Vorleser» thematisiert. Etliche juristische Schriften und einen Erzählungsband später (seine Kriminalroman-Trilogie hat der Autor inzwischen auch abgeschlossen), taucht sie nun als phi­losophisches Zentrum des neuen Romans wieder auf.

Doch scheint sich Bernhard Schlink seiner Geschichte diesmal nicht ganz sicher gewesen zu sein: Er baut sie wie eine Zwiebel, in der immer neue Häute den eigentlichen Kern, die Geschichte des Vaters,
umlagern und überdecken; aus der zudem etliche Erzähltriebe ins Leichte, Belanglose, nicht selten auch ins erzählerische Nichts wachsen. Nicht nur die Vatersuche, sondern das Erzählen überhaupt überlässt er dem vaterlosen Sohn, einem ordnungsliebenden, ziemlich grauen Telemach. Mit diesem Kunst­griff kann die Geschichte nur zeigen, was der graue Peter zu fassen vermag; und einer wie er, das steht leider rasch fest, wird für den listenreichen Vater kaum ein ernsthafter Kontrahent sein.

Dennoch stürzt sich der Roman mitten ins Herz der abendländischen Überlieferung: Auf dem Umschlag verweist ein bunt bemalter hellenischer Krieger bereits auf das homerische Thema, der Text auf der Rückseite macht es explizit: «Eine Odyssee durch die Wirren eines Jahrhunderts» – think big! Fragt sich allerdings, ob die Geschichte des massenmordenden 20. Jahrhunderts sich auf der Folie einer kulturgeschichtlich derart wirkungsmächtigen Helden-Saga erzählen lässt: ob das Antihelden-Konstrukt am Ende nicht doch von der Vor­bildgeschichte des großen Einsamen überwältigt werden wird.

Ein Zweifel, der durch einen anderen Grundzug der großen Vorlage noch bestärkt wird – traditionell liefert das Heldenepos  Sinnbilder fürs Weltganze, ein Zug zur existenziellen Typisierung ist immer mit eingeschlossen. Und so könnte dann, was sonst nur der Einzelfall eines fiesen Vaters wäre, in der neuen Odyssee plötzlich als die Verkörperung des Bösen an sich dastehen.


Erdig, adlig, selbstgewebt

Sohn Peter ist schon als Kind ein armer Wicht. Die eiskalte Mutter liebt ihn nicht, sie versorgt ihn nur (und schlägt manchmal mutwillig-feindselig zu); vom Vater ist daheim nie die Rede. Ein wenig verschnaufen kann der Junge nur bei den Großeltern im ordentlichen, sparsamen Schweizer Ambiente – alles erscheint hier handgewebt, erdverbunden, naturbelassen. Der Großvater zeigt Peter manchmal Fotografien vom Vater, ansonsten vermittelt er Lebenslehren durch die Schilderung berühmter Schlachten oder Gerichtsverfahren; die Großmutter sagt ihm Gedichte vor. Und am Abend sitzen die Alten traulich unter der Lampe und verdienen sich ein Zubrot mit der Bearbeitung von «Romanen zur Freude und zur guten Unterhaltung» – von der Lektüre der Korrekturbögen, die Peter als Schmierpapier behalten darf, wird eines Tages seine Vatersuche ihren Ausgang nehmen.

Zu lesen ist auf den losen Blättern nämlich die unvollständige Geschichte eines deutschen Soldaten, der aus einem russischen Lager flieht und sich von Sibirien bis nach Deutschland durchschlägt: bis in die Heimatstadt seiner vermeintlichen Penelo­pe, an den Ort, an dem später auch sein Sohn leben wird – Zufall über Zufall! Dieser spielt Peter auch das Roman-Material just dann wieder in die Hände, als der alt
genug ist, um Nachforschungen nach dem Autor und dessen Geschichte anzustellen, alt und gebil­det genug auch, um zu erkennen, dass es sich bei dem Groschenroman um eine Paraphra­se auf die Odyssee handelt. Der Heftchen-Autor hat sich selbst da­rin zum Heros vergrößert, und natürlich handelt es sich bei diesem um niemand anderen als um Peters Vater.

Eben noch war der ein enger Mitarbeiter des berüchtigten Gauleiters von Nie­derschlesien, wenig später wirkt er mit der geborgten Identität eines ehemaligen KZ-Häftlings für ein sowjetisch dirigiertes Boulevardblatt in Ost-Berlin, schließlich steigt er in den USA zum charismatischen Profes­sor für politische Theorie auf – so ein Mann ist zwangsläufig schwer zu fassen. Die Suche seines Sohnes erstreckt sich denn auch über Jahre, der Leser folgt zugleich dessen eigener Lebensgeschichte.

In beiden Biografien spielen dabei Namen eine Rolle, die immer auf Erde und Land, auf die Bearbeitung des Bodens weisen: Johann Debauer, Peters Vater, schreibt unter dem Pseudonym Volker Vonlanden rassistische und kriegerische Pamphlete, als US-Philosoph nennt er sich John de Baur. Nur während seines kommunistischen In­termezzos muss er als Walter Schmoller ungeadelt durchs Leben gehen – der aufmerk­same Leser ahnt, dass aus dieser Karriere nichts werden kann: Dem Decknamen fehlt der veredelt-erdige Schmelz.

Auch die Welt, die hier befahren wird, sortiert sich nach übersichtlichen Kriterien. Der Osten ist in der «Heimkehr» der Raum, den der Mensch flieht – Vonlanden im Fieseler Storch seines Gauleiters oder, weniger privilegiert, seine schwangere Kurzzeit-Gelieb­te mit dem Flüchtlingstreck. Auf der Straße als Ex-Nazi erkannt, verlässt später der vorgebliche Jude Walter Schmoller flucht­artig das sowjetisch besetzte Ostberlin. Und auch sein Sohn, in der Nach-Wendezeit durch kleine Hochstapeleien zum Lehrenden an der Humboldt-Universität avanciert, wird der ehemaligen Hauptstadt der DDR rasch wieder den Rücken kehren.

Amerika dagegen ist das gesuchte Land, Land der Suchenden: Telemach-Peter gibt eines Tages seine Habilitation über «Gerechtigkeit» auf und lässt sich in Kalifornien zum Masseur ausbilden (eine der vielen Luftwur­zeln der Erzählung). Seine spätere Ehefrau lebt mit ihrem ersten Mann in New York, während der politische Philosoph John de Baur einen Lehrstuhl an der Columbia University innehat und nicht weit von dort in einem verlassenen Hotel bizarre Verhaltens-Experimente betreibt. Nach Amerika, lernt der Leser, gehen die, die vor etwas davonlaufen und ihr Glück suchen. Die es aber – in sich selbst! – gefunden haben, kehren ins wohlsortierte deutsche Bürgerleben zurück und wollen davon nie mehr lassen.


Im Reich der Dämonen

Und das mit den besten Gründen. Denn Amerika ist bei Schlink das Land, in dem ein seinen frühesten Überzeugungen treu gebliebener Ex-Nazi zum Schüler des deutschen Juden Leo Strauss wird: des Vordenkers der fundamentalistischen Neokonservativen im Weißen Haus. Auch beim dekon­struktivistischen Literaturtheoretiker Paul de Man, der nach seinem Tod als früherer antisemitischer Hetzer und Nazi-Kollaborateur enttarnt wurde, bildet de Baur sich weiter, bis er selbst als Gründer der «Decon­structionist Legal Theory» wie einer «Theorie der Odyssee des Rechts» reüssiert; unter dem Beifall der intellektuellen Avantgarde proklamiert er «die Gleichberechtigung von Gut und Böse».

Doch Amerika ist nicht nur das Land der – je nach Bedarf – relativistischen oder fundamentalistischen Theorien. Es ist überdies das Territorium, in dem legitimatorische Herrschaftstheorie sich wie selbstverständlich in sadistische Praxis überführt. Das gilt nicht nur für das von de Baur favo­risierte Milgram-Experiment. Ohne weiteres kann auch der Professor selbst seinen Dämonen freien Lauf lassen, wenn er gebil­dete Upperclass-Kids zu Opfern seiner zyni­schen Manipulationen macht – wem die Kraft fehlt, sich zu entziehen, hängt dem dunklen Meister künftig in Verehrung an.

Peter Debauer, im Zivilberuf Lektor eines juristischen Verlags in einer überschaubaren deutschen Stadt, ist einem solchen Seminar seines Vaters entflohen; von der Begegnung mit dem «Bösen» kehrt er zu seiner treulich wartenden Barbara zurück. Dem väterlichen Super-Mann mit amerikanischer Familie hat er sich schließlich als Sohn doch nicht zu erkennen gegeben. Vielmehr verfasst er an seinem letzten Tag in New York einen Enthüllungsbericht über John de Baur alias Walter Schmoller alias Volker Vonlanden alias Johann Debauer und sendet ihn an die «New York Times» – ein nicht besonders mutiger Versuch, den Vater zu stürzen. Doch selbst eine öffentliche Debatte über seine wechselnde Karrieren, in der das Stichwort vom «modernen intellektuellen Faschismus» fällt, übersteht de Baur ohne bleibenden Kratzer.

Der Sohn montiert sich derweil, gegen alle eigene Erfahrung, das heile Vater-Bild eines Abenteurers und literarisch-theoretischen Erfindungsgeists, eines spielerischen Hochstaplers und Charmeurs – die Ikone eines neuzeitlichen Odysseus, an die, wie er auf der letzten Buchseite gesteht, «ich mein Herz gehängt habe». Indem er den Vater einschreint im privaten Mythos, gibt der Sohn die Auseinandersetzung mit ihm endgültig auf. Und de Baur bleibt als negativer, amerikanisierter Odysseus unangefochten der Held, der dieser in der homerischen Vorlage einst war: «gar viel umgetrieben, während er sein Leben zu gewinnen suchte».

Auch eine Heimkehr

Eine Auseinandersetzung mit den Menschenschlachthäusern des 20. Jahrhunderts sieht anders aus – am Ende hat das literarische Vorbild Schlinks Versuch einer Neufor­mierung vollkommen kassiert: auch eine Heimkehr. Müßig, da noch von der Überkonstruiertheit und dem überladenen Plot des Romans zu reden, von seiner literarischen Anämie, den Kitsch-Abstürzen oder von Frauenfiguren, vor deren unvermutet mä­nadenhafter Raserei die Männer in Schock­starre fallen. Auch von der Liebe nichts, nichts vom Sex, der im «Kuscheln», einer erwünschten «Routine der Liebe», glücklich aufgeht. Und eisiges Schweigen über die Erwägungen zur «Tapferkeit» des Gauleiters Karl Hanke. Interessant ist allein die unfrei­willige Bewegung, die das Buch in seinem Innern vollzieht.

Zeigen wollte es die westliche Welt der Gegenwart und fixierte sie auf deren ältester poetischer Grundlage wie auf einem Streck­bett. Das fortzeugend Böse der (Groß-)Vätergeneration wollte Schlink entkräften, indem er die zivile Alltags-Zufriedenheit der Söhne dagegenhielt – es sollte endlich Frieden sein. Doch gipfelt «Die Heimkehr» in farbigen Schilderungen machistischer Herrsch-Lust und umrankt sie mit der ausführlichen Präsentation intellektueller Legitimationsstrategien von Gewaltherrschaft. Der böse Gegenheld aber thront am Ende genau dort, wo Schlink ihn hatte löschen wollen: im Zentrum der Aufmerksamkeit und des Begehrens. So ist auch dieser Text schließlich klüger als sein Autor.

 

Bernhard Schlink
Die Heimkehr. Roman
Diogenes, Zürich 2006. 375 S., 19,90 €

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