- Im Herbst ans Sterben denken
Kolumne Stadt, Land, Flucht: Die meisten Menschen zieht es in Städte. Kein Wunder, kann eine unstete Gesellschaft hier doch am besten ihre Unverbindlichkeit leben. Das Land dagegen zwingt zum Einhalten
Wenn der Abendnebel die Schafe auf der sumpfigen Wiese umhüllt und die Hühner aufhören, Eier zu legen. Dann beginnt der Herbst. Es ist das zweite Mal, dass ich ihn auf dem Land erlebe. Und jetzt glaube ich nicht mehr an Zufälle. Wie schon im vergangenen Jahr holen mich trübe Gedanken über die Endlichkeit des Lebens ein.
Ich bin für diese Kolumne seit einem guten Jahr geradezu auf der Suche nach Unterschieden zwischen meinem alten Leben in der Großstadt Berlin und dem neuen bäuerlichen Dasein in der Lüneburger Heide. Auf den ersten Blick fanden sich viele. Auf den zweiten dagegen schrumpften sich vermeintlich exklusive Städterthemen wie die Gentrifizierung diverser Viertel oder der unreflektierte Ökowahn der Bevölkerung auf Beobachtungen zusammen, die sich auf dem Land genauso finden lassen. Die Engstirnigkeit, das Spießertum, die Kungelei und Fremdenangst, die man den Landeiern dagegen zuschreibt, hatte ich in der Stadt ebenso registriert.
Etwas ist aber wirklich anders: Die Stadt machte es mir leichter, im Hier und Jetzt zu leben.
Die Gegenwart der Natur, des nahen Flusses, das Erleben der Jahreszeiten. Das erinnert mich ständig daran, dass eben wirklich alles fließt, stetig weiter zieht, sich verändert. Gleichzeitig stehen uralte Bäume wie Monumente vor unserem Gehöft. Mit ihrer Langsamkeit mahnen sie täglich, dass wir selbst nicht viel Zeit auf Erden haben. Wer neben einer jahrhundertealten Eiche steht, spürt, dass alle täglich und leichtfertig getroffenen Entscheidungen für unser kurzes Menschenleben bedeutsame Konsequenzen haben.
Mahnung der eigenen Endlichkeit
Es ist vielleicht kein Zufall, dass eine Gesellschaft, die sich von der Rente nichts verspricht, nichts mehr versprechen sollte, deren Arbeitsverträge auf Monate befristet sind, deren Beziehungen ein paar Jahre halten genauso wie ihre Wohn- und Lebenskonzepte – dass diese Menschen nicht zwischen hohen Eichen und Buchen wurzeln, sondern dass sie in die Städte ziehen. Dass es sie in Ballungsgebiete drängt, in denen mehr Menschen sind, von denen viele gedankenlos durch ihr Leben rasen, die Richtung wechseln, sich umorientieren. Denn Beständigkeit ist die Sache der Städte nicht.
Ich verstehe das. Besonders im Herbst. Diese ständige Mahnung der eigenen Endlichkeit kann schon Angst machen. Wenn wir einen Apfelbaum pflanzen, wissen wir nicht, ob wir seine Früchte noch ernten können. Bei der Auswahl von Holz, Steinen, Dachmaterial für ein Stallgebäude, das instand gesetzt wird, denken wir darüber nach, ob es noch für die Enkel nutzbar sein wird. Wenn wir einmal tot sind. Das muss man aushalten können.
Es ist eine neue Art zu denken. Ich sehe den Nachbarn, dessen Kühe kaum noch Gras auf den Wiesen finden. Die Weidesaison geht zu Ende, bald werden sie den Winter in ihrem Offenstall auf Stroh verbringen und die Silage fressen, die der Bauer im Sommer von seinen Wiesen voller Klee eingefahren hat. Er hat vorgesorgt. So wie er es in jedem Jahr tut. Die Kinder des Hofes sind es nicht anders gewöhnt. Die Großmutter lebt im Altenteiler und wird zum Mittagessen an den Familientisch geholt. Mit den Alten wird es genauso sein, wenn sie einmal nicht mehr arbeiten können. Das Leben ist vorgezeichnet.
Für mich als Stadtgeborene sind diese Lebenskonzepte neu. Und eindrücklich fällt mir das vor allem im Herbst auf – nicht umsonst die Zeit, die allegorisch für das Altern, das Welken, das Sterben steht. Der Herbst erinnert also an den Tod. Klingt dramatisch, ist aber vielleicht gar nicht so schlimm. Denn der nächste Frühling kommt bestimmt. Und vielleicht gewöhnt sich der Mensch mit dem Rhythmus der Jahreszeiten auch ein bisschen besser an den Rhythmus des Lebens. Vielleicht fällt das Abschiednehmen jenem eines Tages leichter, der sich alljährlich diesen Herbstgefühlen ausgesetzt hat. Man wird sehen.
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