Der Schriftsteller Maxim Biller bereist für Cicero die Städte seines Lebens. Nach Berlin, Prag und Tel Aviv hat ihn die literarische Selbsterkundung in eine Stadt geführt, in der er seine Kindheit verbrachte und doch nie zu Hause war
Ich kam als Kind nach Hamburg, und als ich wegging, hoffte ich, ich würde niemals wiederkommen. Jetzt bin ich wieder da. Alle paar Wochen komme ich aus Berlin, ich bleibe oft länger, als ich vorhatte, und wenn ich wegfahre, schaue ich immer ganz lange aus dem Zugfenster.
Am liebsten steige ich am Dammtor ein, dann kommt der Hauptbahnhof und dann schon Berlin. Zwischen Dammtor und Hauptbahnhof sieht Hamburg wie eine Stadt ohne Sorgen aus. Ich liebe es, wie nach ein paar Sekunden Fahrt der Blick plötzlich weit wird. Ich sehe die ruhige, graue Alster, dahinter den Ballindamm und den Jungfernstieg mit ihren feinen Fassaden und noch weiter in der Ferne ein paar dunkelrote Kirchtürme und Hochhäuser. Ich weiß die Namen der Kirchen nicht, keine Ahnung, was das für Hochhäuser sind.
Als meine Eltern, meine Schwester und ich 1970 von Prag nach Hamburg zogen, sah Hamburg noch so aus wie in einem alten „Tatort“. Ein bisschen schäbig, überall deutsche Kneipen, kaum Ausländer auf den Straßen. Hamburg, sagt meine Mutter, war trotzdem eine angenehme, offene Stadt. Jeder konnte hier sein, wie er wollte, sagt sie, Frauen, die sonntags allein spazieren gingen, oder junge Männer mit langen Haaren und Bärten wurden nicht komisch angeschaut. Ich glaube, sie irrt sich.
Mein Vater weiß nicht mehr, wie Hamburg zu der Zeit war. „Ich musste arbeiten“, sagt er. „Ich musste für unsere Familie ein neues Leben organisieren. Frag deine Mutter. Frauen haben mehr Sinn für solche Sachen.“
Ich frage sie noch mal.
„Wart ihr froh, in Hamburg zu sein?“
„Ich musste arbeiten“, sagt sie. „Frag deinen Vater.“
„Jetzt sag schon.“
„Ja, sehr.“
„Bist du sicher?“
„Wir haben freundliche Menschen hier getroffen. Und die Straßen waren breit und großzügig.“
„Ich war nicht froh, in Hamburg zu sein.“
„Nein?“
„Nein.“
Wir zogen bald ins Grindelviertel, in eine große, dunkle Altbauwohnung, in der meine Eltern bis heute wohnen. Wir hatten keine Ahnung, was das Grindelviertel war. Niemand hatte eine Ahnung, was das Grindelviertel war. Und wer es wusste, erzählte es uns nicht. Zum Beispiel Frau Coulé, die unter uns wohnte. Frau Coulé wohnte seit 1932 in der Bieberstraße. Sie wusste, dass das Grindelviertel vor dem Krieg eine jüdische Gegend war, eine sehr jüdische Gegend. Allein in der kleinen Bieberstraße gab es eine Jeschiwa, eine Synagoge, eine jüdische Mädchenschule, einen Thoraverein, eine jüdische Bibliothek. Heute sieht man in der Bieberstraße vor allem deutsche, chinesische und amerikanische Studenten. Früher waren es junge Frauen mit braunen Augen und schwarzen Haaren, junge Männer mit dem Sidur unterm Arm, Rabbiner, Geschäftsleute, jüdische Mütter mit ihren Kindern. Hätte es etwas geändert, wenn ich das gleich gewusst hätte? Hätte ich mich dann in Hamburg besser gefühlt?
Nein – denn alles, was man über Hamburg sagt, stimmt. Wir haben trotzdem eine Weile versucht, es zu ignorieren. Zehn, zwölf Jahre lang taten wir so, als lebten wir immer noch in Moskau oder Prag. Unser Haus war voll mit Freunden und Fremden, es gab immer etwas zu essen, es wurde oft bis um drei Uhr nachts getanzt. Manchmal saßen wir mit unseren Gästen stundenlang im Wohnzimmer auf den zwei Sofas, auf Sesseln und Stühlen, die wir aus der ganzen Wohnung geholt hatten, und diskutierten irgendeine aus der Luft gegriffene These meines Vaters. Mein Vater liebt aus der Luft gegriffene Thesen, dann kommt nämlich, sagt er, das Gespräch in Gang.
Wenn alle nicht mehr weiterkonnten, fing ein dicker, kluger Mann an, jüdische Witze zu erzählen. Das war Gabriel Laub, ein Jugendfreund meines Vaters aus Prag, der besser Komiker geworden wäre statt Schriftsteller. Er sprach schöner Deutsch als die meisten Deutschen, und die Witze, die er kannte, stammten aus einer Zeit, als jemand wie er einer von Hunderten war. Unsere Hamburger Freunde hingen an seinen Lippen, sie lachten meist an der richtigen Stelle, aber sie machten jedes Mal ein Gesicht, als würde sie dabei jemand beobachten. Es waren immer gute Abende in der Bieberstraße, aber wenn die Leute gingen, fühlte ich mich, als wären sie gar nicht da gewesen. Und wenn ich sie wiedersah, kam es mir so vor, als hätte ich sie gerade erst kennen gelernt.
In keiner Stadt, die ich kenne, ist es so leicht, sich einsam zu fühlen, wie in Hamburg. Ich habe mich zehn Jahre lang in Hamburg einsam gefühlt, obwohl ich hier zur Schule gegangen bin. Ich habe Judo gemacht und Handball gespielt, ich war ein paar Jahre jede Nacht aus, ich habe Drogen genommen und Sex gehabt, ich war oft verliebt, hatte eine Band, und in zwei Theaterstücken bei uns an der Schule habe ich auch mitgespielt. Ich war trotzdem allein, und es kann doch nicht sein, dass ich nur deshalb allein war, weil ich schwarze Haare, eine Woody-Allen-Brille und eine Weile einen komischen Akzent in meinem Deutsch hatte? Vielleicht ja doch.
Die meisten Hamburger vertrauen nur Menschen, mit denen sie aufgewachsen sind und die genauso ernst und schüchtern sind wie sie. Ich weiß nicht, warum. Alle andern sind Fremde, und sie bleiben Fremde, bis sie wieder aus Hamburg weggegangen oder gestorben sind. Mit Fremden geht man in Hamburg sehr höflich um. Man sagt „Guten Tag“, „Danke“, „Auf Wiedersehen“, man kauft bei ihnen Obst und Gemüse, man sitzt in ihren Restaurants und ruft laut „Scusi!“, wenn man bezahlen will. Man lacht über ihre Witze, man tanzt auf ihren Partys, man diskutiert mit ihnen ihre aus der Luft gegriffenen Thesen, und dann geht man wieder nach Hause und denkt, was war denn das?
Eines Tages habe ich kapiert, dass es so ist, das war bei unseren Nachbarn, den Kruses. Die Kruses hatten zwei zarte blonde Kinder, einen Fernseher von Wega, ein Landhaus in der Lüneburger Heide und das Bild von Frau Kruses Vater in Wehrmachtsuniform an der Wand. Vielleicht kam Frau Kruse darum fast jeden Abend mit einer eigenen Rotweinflasche zu uns herüber, weil der Vater am letzten Kriegstag mit seinem Jeep über eine Mine gefahren ist, und vielleicht kam sie, weil ihr Mann, der Anwalt, nicht oft zu Hause war. Einmal war er zu Hause, und da saßen wir mit ihm, meine Schwester, ihr israelischer Mann und ich. Er trank ein bisschen, aber so viel auch wieder nicht, und nach einer Weile sagte er, mein Vater sei für ihn ein typischer Jude, weil er immer so aufgeregt und hinterhältig sei. Wir sind sofort aufgestanden und gegangen und redeten von diesem Tag an mit den Kruses kein Wort. Ich hörte noch ein, zwei Jahre durch die Wand ihre Kinder spielen, dann ging ich nach München und habe sie alle nie wiedergesehen.
Natürlich kann eine solche Sache überall passieren – aber mir ist sie in Hamburg passiert. Und weil ich den Hamburgern schon vorher nicht getraut habe – wie soll man Leuten trauen, die dir nicht trauen, weil du keiner von ihnen bist? –, ist für mich an diesem Abend Hamburg gestorben. Kann gut sein, dass es auch an irgendeinem anderen Abend oder an vielen verschiedenen Abenden oder an keinem besonderen Abend war. Plötzlich war es eben genug, ich hatte keine Lust mehr, durchs Leben zu gehen, als wäre es nicht mein eigenes, und kaum war ich in München, kam es mir so vor, als sei ich endlich wieder unter den Lebenden, kein Witz.
Aber verdammt, kann dieses kalte Hamburg schön sein! Überall, wo der Hafen ist, wo im schwarzen, glänzenden Elbwasser kleine und große Schiffe schaukeln, wo hinter den Landungsbrücken in riesigen weißen Buchstaben die Namen der Werften schimmern, wo sich hohe schwarze Kräne langsam vor einem endlosen roten Horizont drehen. Oder im Innocentiapark, wenn es gerade dunkel wird, und unten auf der runden Wiese spielen sie trotzdem noch Fußball, und meine Mutter, mein Vater und ich gehen noch eine Runde, weil es so schön ist, obwohl doch Herumlaufen eigentlich nur was für Christen und Pferde ist. Oder in der Grindelallee, in diesem hässlichen türkischen Imbiss – es gibt Tee und Süßigkeiten und eine Zigarette vom Besitzer, der hier jeden Tag von morgens bis nachts steht, und jetzt ist es mal wieder Nacht, er gibt mir Feuer, und wir gucken zusammen raus, und die Lichter der vorbeifahrenden Autos ziehen rote und gelbe Striche hinter sich her wie auf einer zu lang belichteten Fotografie.
Es gibt Momente, da mag ich sogar den Hamburger Regen. Diesen endlosen, dünnen Regen, der einem hier stetig, jahre- und jahrzehntelang, in die Seele reinregnet. Oft kommt er in dünnen, fast unsichtbaren Streifen herunter, dann wieder klatscht er einem wie tausend kleine, dünne Peitschenhiebe ins Gesicht. Manchmal strömt es von oben auf die Stadt herab wie aus einem Wasserfall, viele Tage hintereinander, ohne Pause. Manchmal ist in einer halben Stunde alles vorbei, und plötzlich scheint wieder die viel zu weiße Hamburger Sonne und man denkt, jetzt geh’ ich raus. Doch kaum ist man draußen, verdunkelt sich der tiefe, weite Himmel in Sekundenschnelle, der Wind pfeift aus allen Richtungen gleichzeitig, und man rennt wieder ganz schnell nach Hause. Jedenfalls mache ich das, aber ich bin ja auch kein richtiger Hamburger.
So, und jetzt kommt die Ironie des Schicksals. Jetzt kommt die Antwort auf die Frage, warum ich inzwischen wieder so oft in Hamburg bin. Die Antwort heißt Rosa, hat braune Augen und fast schwarze Haare, so dunkelbraun sind sie. Sie erzählt gern Witze, ist mal verträumt, mal viel zu pragmatisch für ihr Alter, und sie ist meine Tochter. Rosa wächst am Isebekkanal auf – ich glaube, das kann man so sagen. Sie könnte aus ihrem Kinderzimmer Steine ins Wasser werfen, und ihre Schule liegt direkt am Kanal. Auf der anderen Seite des Kanals war früher meine Schule, und ich weiß noch, wie sie einmal eine Leiche aus dem Wasser rauszogen, und wir sind alle aus der Schule gelaufen und haben uns die Leiche angeguckt. Vielleicht wird Rosa auch mal so etwas erleben oder etwas anderes Schaurigschönes in der Art, und spätestens von da an wird der Isebekkanal mit seinem grünen, brackigen Wasser, dem steilen Ufer, den schwarzen Büschen und Bäumen für immer durch ihre Erinnerung fließen so wie durch meine.
Ich weiß, Hamburg ist viel mehr ein Teil von mir, als ich es glaube oder will. Manchmal fehlt mir Hamburg sogar. Dann denke ich an große, freundliche Gründerzeitviertel, mit Bäumen, Parks und viel Wasser, und komischerweise stelle ich sie mir immer abends vor und auf keinen Fall im Sommer. Am wichtigsten sind in meiner Erinnerung die Fenster – die erleuchteten Fenster der Häuser und Villen. Sie strahlen gelb und dunkelorange in die Nacht, und oft sind sie mit irgendwas geschmückt, keine Ahnung mit was, oder Kinder haben sie von innen bemalt. Dahinter, in großen, hohen Altbauwohnungen, sieht man helle Bücherregale, Horst-Janssen-Drucke, italienische Vasen und Strohblumen. Ab und zu sieht man auch den Schatten von jemandem, ein Gesicht, eine Hand, die eine Teetasse zum Mund führt, und ich denke gerührt, wie gemütlich haben sie es gerade da drin, diese ernsten und schüchternen Menschen. Aber dann denke ich, eben weil sie so ernst und schüchtern sind, müssen sie sich’s mit sich selbst gemütlich machen, mit wem sonst. Und darum ist draußen nicht mehr sehr viel, nur diese kalte, verregnete, schöne Stadt. Oder ist es genau andersherum?
Während ich das alles so denke, bekomme ich richtig Heimweh nach Hamburg – und nach der dunklen, gemütlichen Wohnung in der Bieberstraße, gleich um die Ecke von der früheren Talmud Thora Schule und der zerstörten Bornplatzsynagoge, wo wir, die Emigranten, es am Ende genauso gemacht haben wie die Hamburger, als wir keine Lust mehr hatten auf unsere fröhliche Emigrantenshow. Allein, unter uns, die Heizung auf 5 und mit den Gedanken immer ein bisschen woanders.
Bestimmt wird Rosa, wenn sie nicht mehr in Hamburg lebt, manchmal auch Heimweh nach Hamburg haben. Ich bin mir sicher, dass sie aus Hamburg weggehen wird, so wie ich weggegangen bin, jedenfalls hoffe ich es. Denn Hamburg passt nicht zu ihr, sie ist zu fröhlich, zu aufgedreht, zu dunkel, es passt zu ihr so wenig wie zu mir, zu meinen Eltern, zu meiner Schwester. Manchmal ist sie aber auch schon so streng und abweisend wie die Leute hier, und wenn sie in Hamburg bleibt, wird sie immer mehr so werden, leider.
Meine Schwester ist schon vor langer Zeit weggegangen, so wie ich, und meine Eltern sind seit einer Weile auch nicht mehr richtig da. Sie verbringen jetzt viele Monate im Jahr in Prag, in unserer neuen Wohnung am Riegerpark, wo man vom Balkon aus sogar die Burg sehen kann und den kleinen Prager Eiffelturm auf dem Petrin, wenn man sich ein bisschen zu sehr übers Balkongeländer beugt. Es geht ihnen meistens gut in Prag, ihre Stimmen sind anders am Telefon, wenn sie in Prag sind, und wenn sie schlechte Laune haben in Prag, klingt das nur wie schlechte Laune und nicht wie zwei Wochen Dauerregen und Windstärke zehn und fünf Kubikkilo Seelengrau.
„Gestern waren wir bei den Feinsteins“, hat neulich meine Mutter am Telefon gesagt. „Und jetzt hab ich Kopfschmerzen.“
„Hast du getrunken?“, sage ich. Meine Mutter trinkt nie.
„Nein.“ Sie lacht. „Wir haben den ganzen Abend geredet, und ich hab auf dem Boden gesessen und gelacht und mich dabei verrenkt.“
Meine Mutter ist 74, und in Hamburg habe ich sie noch nie auf dem Boden sitzen gesehen.
„Auf dem Boden?“, sage ich. „Bist du ein Hund?“
„Hör auf, deine Mutter zu ärgern“, sagt mein Vater von hinten, denn wie immer sprechen wir über Lautsprecher. „Außerdem müssen wir gleich wieder weg.“
„Zu den Feinsteins?“
„Hahaha“, sagt er. „Im Rudolfinum fängt heute die große Kupka-Ausstellung an. Und dann müssen wir ins Slavia.“
Wir legen auf, ich mache die Augen zu und dann schnell wieder auf. Ich sitze mal wieder im Zug von Hamburg nach Berlin. Die Alster und die Innenstadt ziehen langsam an mir vorbei, es ist mitten am Tag, aber der Himmel über Hamburg ist so silbergrau und matt wie ein alter Spiegel.
Ich werde noch sehr oft wiederkommen, ich habe keine andere Wahl.
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