- Ferien vom Über-Ich
Mit der Rittner-Bahn in die Sommerfrische
Ein Raum, in dem man allein sein könne, und ein Wald in der Nähe. So hatte Freud es sich vorgestellt; festgehalten in einem Brief vom Februar des Jahres 1911. Ein verständlicher Wunsch. In einer Welt, die vom Modernismus in Raserei versetzt worden war, waren Natur und Stille zu Raritäten verkommen. Das galt vor allem in Wien, der Kaiser- und Ringstraßenmetropole an der längst schon nicht mehr blauen Donau, in der die Elektrische immer lauter zu knarzen schien, wenn sie am Franz-Josefs-Kai um die Ecke gebogen kam.
Wie anders hingegen die Welt hier draußen: gut 1000 Höhenmeter oberhalb Bozens, der historischen Handelsstadt, wo es seit Jahrzehnten immer mehr Touristen hin verschlagen hatte. Hier, im Talbecken am Zusammenfluss von Etsch und Eisack, hatte man Ende des 17. Jahrhunderts die Sommerfrische erfunden. Wenn sich im Juli und August die Sonne wie eine erbarmungslose Despotin über das lang gezogene Etschtal legte, flohen die Menschen hinauf auf den Ritten, um in luftigen Höhen Erfrischung zu finden. Der damals 51-jährige Wiener Professor war ganz aus dem Häuschen: „Hier auf dem Ritten“, schrieb er am 14. September desselben Jahres an seinen Freund, den Psychologen C. G. Jung, „ist es göttlich schön und behaglich. Ich habe eine unerschöpfliche Lust am Nichtstun, temperiert durch zweistündige Lektüre in neuen Dingen, bei mir entdeckt. Auf wiedersehen! Ihr getreuer Freud.“
„Schöner als alle anderen Orte“
Endlich Ferien vom Über-Ich – wenigstens für ein paar Wochen! Sigmund Freud hatte sich das abgelegene Urlaubsdomizil gut gewählt. Bereits im April war der Vater der Psychoanalyse schon einmal auf den Bozner Hausberg gefahren, um im kleinen Örtchen Klobenstein eine Lösung für sein jährlich wiederkehrendes „Sommerproblem“ zu finden. Er entdeckte sie schließlich im historischen Hotel Post, einer alten Pferdewechselstation aus dem 14. Jahrhundert, deren im alpinen Baustil errichteten Gebäude noch heute das idyllische Dorf im Schatten des 2260 Meter hohen Rittner Horns schmücken.
Freuds Familie war vorausgereist. Und am 31. Juli 1911 machte sich auch der Professor selbst auf den Weg. Er erreichte Bozen mit dem Zug, fuhr mit der Straßenbahn zum Rittner Bahnhof und von dort mit einer vier Jahre zuvor freigegebenen Zahnradbahn hinauf nach Oberbozen. Ein kostspieliges Vergnügen, soll ein Billett bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs noch gut die Hälfte eines monatlichen Arbeiterlohns gekostet haben. Den meist gut betuchten Sommergästen war es egal; und auch der Professor, obwohl ein Leben lang von schwerer Eisenbahnphobie getrieben, wird den hohen Preis nicht sonderlich beachtet und von Oberbozen die Rittner Schmalspurbahn bis nach Klobenstein genommen haben. Freuds damals 17-jährige Tochter Anna, später selbst eine berühmte Therapeutin, schrieb über dieses Paradies für Sommerfrischler, dass hier die Bahn nur alle Stunde führe und Wagen oder Automobile gar nicht: „Ich weiß nicht, aber ich finde Klobenstein doch fast schöner als alle anderen Orte, wo wir bis jetzt waren.“
Freud ließ die Landschaft nicht los
Schöner als alle anderen Orte – ein Urteil von zeitloser Güte. Zwar hat sich die Taktung der alten Schmalspurbahn seit
den Jahren der Belle Époque vervielfacht, und die vorgelagerte Zahnradbahn ist 1966 durch eine Seilschwebebahn ersetzt worden; die Zugfahrt über den mehr als 100 Quadratmeter großen Rittner Bergrücken aber gleicht noch immer einer Tour durch ein weit hingestrecktes Traumland. Da schaut der Fahrgast zur Rechten auf Heuschober und Tannungen, die sich vor das atemberaubende Panorama der schroffen und im Sonnenlicht gelbgräulich leuchtenden Dolomiten schieben; und zur Linken schmiegt sich das ein Meter schmale Schienenbett an waldige Hügel und bemooste Wiesen heran. Ab und an passiert das zu Freuds Zeiten noch braun-beige strahlende Bähnchen kleine Seen, die sich hinter schattigen Bergwäldern verstecken. Über deren glatt hingestreckten Oberflächen springt das Sonnenlicht derart glitzerig hinweg, dass Reisende sie für Landmarken aus einem Märchenbuch halten könnten: „Wer aus mir trinkt, der wird ein Wolf“, hatten die Brüder Grimm ein gutes Jahrhundert vor Freud über ähnlich verwunschene Gewässer gemunkelt. Etwas ungläubig reibt sich daher noch heute jeder Fahrgast die Augen, wenn die für gewöhnlich mit 30 Stundenkilometern dahinfahrende Bahn an einem hölzernen Haltepunkt pausiert, über dem der Name „Wolfsgruben“ geschrieben steht.
Nicht nur der erfahrene Traumdeuter Sigmund Freud dürfte an dieser poetischen Landschaft Gefallen gefunden haben. Er beschrieb sie als auf „ganz besondere Weise schön“. Und noch zwei Jahre später, längst wieder zurück in Wien, führte er in einem kleinen Analyse-Manual einen Vergleich an, der ihm hier oben, in der damals noch vollkommen mit Holz verkleideten Rittner Bahn gekommen sein dürfte: „Sagen Sie [in der Analyse] alles, was ihnen durch denn Sinn geht. Benehmen Sie sich so, wie zum Beispiel ein Reisender, der am Fensterplatze des Eisenbahnwagens sitzt und dem im Inneren Untergebrachten beschreibt, wie sich vor seinen Blicken die Aussicht verändert.“
Sagen durch die Fensterscheibe bestaunen
Und die Aussicht verändert sich schnell in den Bergen: Mal tauchen vor den im Sommer heruntergelassenen Fenstern der Rittner Bahn schattige Böschungen voller Brombeeren auf, dann wieder geht es an grünen Senken und kleinen Weiden mit weißen Pferden vorbei. Und immer wieder schweift der Blick in die Weite – hinüber zu den geheimnisvoll leuchtenden Zinnen der Dolomiten. Die hiesigen Menschen haben in ihnen seit je Versteinerungen alter Geister vermutet; und noch heute erzählen ihre Namen von magischen Vorstellungswelten: Da soll es etwa drüben im Latemar-Gebirgsstock einen liebeskranken Hexenmeister gegeben haben, der mit seiner teuflischen Macht den Regenbogen beeinflussen konnte; und etwas weiter im Rosengartenmassiv hauste ein Zwergenkönig namens Laurin. Im orange leuchtenden Berg soll der einst rauschende Feste gegeben haben und, nachdem er einiges Unheil über die Bozner gebracht hatte, durch den tatkräftigen Recken Dietrich von Bern zu Fall gebracht worden sein.
All die Stein gewordenen alten Sagen betrachtet der Fahrgast von
seinem Fensterplatz aus sicherer Distanz. Die Kraft der Gespenster, Wasserfeen und Zauberer, von denen sich manch Mitreisende hier erzählen, scheint hinter dem Zugfenster gebändigt zu sein. Dabei, so heißt es, soll noch 1944 ein Blitz in die zweigliedrige Bahn eingeschlagen sein. Ein Narr, wer darin nicht Laurins letztes Wüten sehen mochte. Sigmund Freud jedenfalls, der stets ein großes Interesse an solch unheimlichen Geschichten gehabt hat, kannte die Südtiroler Sagenwelt gut. Sie dürfte Pate gestanden haben, als er sich in jenen Sommermonaten 1911 an die Niederschrift eines Buches machte, das zu einem Klassiker der Analyse und Religionspsychologie geworden ist: „Totem und Tabu“. In vier längeren Essays erklärt er hierin nicht nur den Ursprung des sogenannten Inzesttabus; Freud beschäftigt sich mit Magie, Götterwelt und Totemismus. „Totem und Tabu“ ist mithin das berühmteste Erbe der Rittener Reise. Denn, so schrieb Freud von Klobenstein aus an den Kollegen Jung: „Ich habe hier sonderbare unheimliche Dinge aufgewühlt.“ Und in einem Brief an den Schweizer Psychiater Ludwig Binswanger: „Die Frequenz der Herrgötter hier in Tirol, wo sie ja zahlreicher sind als bis vor kurzem die Herren Pilger, hat mich zu religionspsychologischen Studien beeinflusst. Nach der Publikation werde ich wohl nicht mehr in Tirol eingelassen werden.“
Leben ohne Urlaub schadet der Seele
Es kam indes anders: Familie Freud unternahm von sich aus keine weitere Reise auf den Ritten. Stattdessen kamen andere Sommerfrischler: darunter berühmte Freud-Schüler wie Otto Rank oder Sàndor Ferenczi, aber auch potenzielle Patienten wie der Prager Stadtneurotiker Franz Kafka. Der war gut neun Jahre nach dem berühmten Professor auf den Ritten gefahren, an einem Mittwoch des Jahres 1920. „Dann fuhr ich mit der elektrischen Bahn nach Klobenstein“, notierte er damals in einem Brief. Ob Kafka dabei, dem therapeutischen Ratschlag Freuds folgend, auch am Fenster Platz genommen hatte, um von dort zu beschreiben, „wie sich vor seinen Blicken die Aussicht verändert“?
Der damals liebeswirre Schriftsteller hätte ein solch nervenreinigendes Setting
sicherlich gut gebrauchen können. Überliefert ist indes nichts davon. Im Gegenteil: In den postum veröffentlichten Briefen an Milena Jesenská – einem Literatur gewordenen Distanz-Nähe-Dilemma – berichtet er von Seelenqualen: „Ich lag im Bett wie in der Folter, die ganze Nacht antwortete ich Dir, klagte Dir, suchte Dich von mir abzuschrecken.“ Doch all das Jammern war vergebens. Den großen Sigmund Freud, der hier auf dem Ritten noch seine Silberhochzeit gefeiert hatte, bevor er im September 1911 wieder abgereist war, hätte der gemütskranke Kafka ohnehin verpasst. So atmete er „nicht ganz bei Verstande“, wie er an Milena schrieb, „reine kalte Luft nahe gegenüber den ersten Dolomitenketten“ und fuhr unverrichteter Dinge wieder hinunter ins Tal. Manchmal sollte man seine Sommerfrische eben nicht auf die lange Bank schieben. Leben ohne Urlaub, scheint es, schadet der Seele.
Fotos: Amadeus Waldner
Dies ist ein Artikel aus dem Sonderheft „Südtirol“ von Cicero und Monopol.
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