- Braucht kein Mensch
Kolumne: Stadt, Land, Flucht. Marie Amrhein hat Windeln gewechselt, Schnuller abgewöhnt, Gesichter aus Gurken und Gelbwurst erschaffen. Sie könnte es Boris Becker gleich tun und auch einen Erziehungsratgeber schreiben. Zumindest einen kurzen
Jetzt endlich hat sie die Augen zu. All das Brüllen, Strampeln, Treten hat ein Ende, die Tränen sind versiegt. Sie atmet ruhig an meinem Hals. Wenn ich mich hinunterbeuge, atme ich Babygeruch, der selbst entfernte Bekannte gierig an meinem Kind schnuppern lässt. Alle Babys riechen so gut. Es ist eine ihrer Waffen im Kampf um Aufmerksamkeit, Nahrung und Wärme. Ums Überleben. Ohne diese Fähigkeiten würden sie im besten Fall links liegen gelassen, im schlimmsten Fall aber, wir lesen es immer wieder, geschüttelt, getreten, gehauen.
Anhaltendes Babygeschrei dringt tief ein in die Nervenbahnen jener, denen es gilt. Die Folge sind Schweißausbrüche und aussetzendes Denkvermögen. Der einzige mögliche Ausweg: Handeln im Sinne des kreischenden Subjekts. Oder aushalten. Etwa beim Autofahren, beim Bezahlen an der Supermarktkasse, auf dem Klo, unter der Dusche, beim Hose anziehen. Wobei es bereits Menschen gibt, die letzteres mit einem Baby im Arm fertig bringen. Um den Betreuer auf seine Seite zu bringen, hat das Baby noch eine weitere umwerfende Fähigkeit: Sein Lächeln. Selbst ein grenzenlos erschöpfter Erwachsener, der in der vorhergegangenen Nacht gefühlte acht Mal vom Zögling aus dem Schlaf gerissen wurde, kann nicht umhin zurückzulächeln, wenn ihn am Morgen ein zahnloser Mund angrinst.
Es ist nun das dritte Mal, dass ich diese Zeit erlebe. Ich habe einen Haufen Windeln gewechselt, habe „bunte Winterküken“-Kostüme gebastelt, Schnuller abgewöhnt und Gesichter aus Karotten, Gurken und Gelbwurst erschaffen. Ich habe eine mühsame Ausbildung abgeschlossen, für die ich in allzu naher Zukunft keine Verwendung mehr habe. Denn ich habe nicht vor, Tagesmutter zu werden oder eine Umschulung zur Kindergärtnerin zu machen. Obwohl ich nun verstehe, was viele Mütter dazu bewegt. Denn ich habe eine Expertise erlangt, die mir keiner mehr nehmen kann. Daher wohl das tiefe Bedürfnis, es Wladimir Kaminer oder Boris Becker gleich zu tun und auch einen dieser vielen Erziehungsratgeber zu schreiben. Es wird ein ganz kurzer.
Erfahrung statt Verunsicherung
Denn meine wichtigste Erkenntnis ist: Ratschläge verunsichern und hemmen im natürlichen Umgang mit dem neuen Baby. Verunsicherung aber ist das letzte, was man braucht. So hieß es: Still dein Kind nicht im Bett, du könntest einschlafen, dann stirbt es am plötzlichen Kindstod. Heute weiß ich, dass dieses Schlafverbot im Familienbett unnötiger Panikmache gleicht. Der sehr kluge Kinderarzt Herbert Renz-Polster erklärte das vor einigen Wochen in seinem Blog mit Hilfe der Ergebnisse einer neuen britischen Studie. Dann hieß es: Iss kein Chilli und keine Zwiebeln in der Stillzeit, das Baby könnte Bauchschmerzen bekommen. Meine Erfahrung ist: Ich kann essen, was ich will, meinem Baby ist es egal. Es hieß: Still das Kind alle vier Stunden, es muss schnell einen Rhythmus finden. Ich erfuhr: Ein Rhythmus stellt sich ganz von alleine ein, ohne den manischen Blick zur Uhr.
Es hieß beim ersten Kind vor gut fünf Jahren: Füttere nichts als Muttermilch bevor sie nicht ein halbes Jahr alt ist. Dann beim zweiten Kind: Beginne schon im vierten Monat mit alternativer Nahrung, um das Allergierisiko zu mindern. Es hieß: Dein Kind muss schnell lernen, alleine einzuschlafen, sonst verwöhnst du es. Meine Erfahrung zeigte: Es wird genau dann alleine einschlafen lernen, wenn ich keine Lust mehr habe, daneben zu sitzen. Es hieß: Das Baby braucht Ruhe, lautes Radio und der Fernseher schaden der kleinen Seele. Meine Erfahrung: Das Baby ist zufrieden, wenn ich es bin, wenn ich es mir bequem mache. Gerne auch Sonntagabend beim Tatort.
Nach drei Kindern habe ich vor allem eines gelernt: Vätern und Müttern werden viel zu viele Vorschriften gemacht, am Ende stehen sie völlig verunsichert an der Wiege. Das wichtigste, was wir unseren Kindern beibringen können, ist, die eigenen Bedürfnisse zu stillen. Dafür müssen sie selbstständig Denken lernen. Und damit sollten wir Eltern anfangen.
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