Denker von Welt - Ein neuer Kosmopolitismus liegt in der Luft

Gegen die globale Macht des Kapitals könnte die Macht der Konsumenten stehen. Sieben Thesen für eine bessere Welt

Der nationale Blick, der Gesellschaft mit nationalstaatlicher Gesellschaft gleichsetzt, macht blind für die Welt, in der wir leben. Wir benötigen einen kosmopolitischen Blick, um die Realität der Verwobenheit von Menschen und Bevölkerungen über den Globus hinweg überhaupt zu sehen: Der gemeinsame begriffliche Nenner der dichten Welt ist «Kosmopolitisierung», das heißt: die Erosion klarer Grenzen, die Märkte, Staaten, Zivilisationen, Kulturen und nicht zuletzt die Lebens­welten der Menschen trennten. Die Welt ist zwar nicht grenzenlos geworden, aber die Grenzen verwischen und vermischen sich und werden durchlässig für Informationsströme, Kapitalströme. Weniger dagegen für Menschenströme: Touristen ja, Migranten nein. Es findet eine «innere Globalisierung» in nationalen und lokalen Lebenswelten und Institutionen statt. Dies verändert die Bedingungen der Konstruktion von sozialer Identität, die nicht länger durch die negative Gegenüberstellung von «wir» und «denen» geprägt werden muss.

Für mich ist wichtig, dass Kosmopolitisierung nicht irgendwo im Abstrakten oder Globalen stattfindet, irgendwo über den menschlichen Köpfen, sondern sich auch im alltäglichen Leben der Menschen abspielt («banaler Kosmopolitis­mus»). Dasselbe gilt für die internen Operationen der Politik, die auf allen Ebenen, sogar der Ebene der Innenpolitik, global geworden ist, weil sie mit der globalen Dimension von wechselseitigen Abhängigkeiten, Strömen, Netzwerken, Bedrohungen usw. rechnen muss («Weltinnenpolitik»). Beispielhaft gefragt: wie verändert sich das Verständnis von Macht und Herrschaft im kosmopolitischen Blick? Dazu sieben Thesen.

 

Globalisierung ist Niemands-Herrschaft

Erste These. Im Verhältnis von Weltwirtschaft und Staat ereignet sich ein Meta-Machtspiel, das heißt ein Machtkampf, in dem die Machtregeln des nationalen und internationalen Staatensystems umgeschrieben werden. Es ist insbesondere die Wirtschaft, die eine derartige Meta-Macht entwickelt hat, indem sie aus dem Käfig des territorialen, nationalstaatlich organi­sierten Machtspiels ausgebrochen ist und sich neue Machtstrategien im digitalen Raum erobert hat. Meta-Machtspiel heißt: Man streitet, kämpft um die Macht und verändert gleichzeitig die nationalstaatlichen Regeln der Weltpolitik.

Wer der Frage nachgeht, woraus die Kapitalstrategien ihre Meta-Macht schöpfen, trifft auf einen merkwürdigen Umstand. Der Grundgedanke kam in der Überschrift einer osteuropäischen Zeitung zum Ausdruck, die beim Besuch des deutschen Bundeskanzlers im Jahre 1999 titelte: «Wir vergeben den Kreuzrittern und erwarten die Investoren.» Es ist die genaue Umkehrung des Kalküls der klassischen Macht- und Herrschaftstheorie, das die Machtmaximierung transnationaler Unternehmen ermöglicht: Das Zwangsmittel ist nicht der drohende Einmarsch, sondern der drohende Nicht-Einmarsch der Investoren oder ihr drohender Ausmarsch. Es gibt nur eines, das schlimmer ist, als von Multis überrollt zu werden: nicht von Multis überrollt zu werden.

Diese Form der Herrschaft ist nicht länger an die Ausführung von Befehlen gebunden, sondern an die Möglichkeit, in anderen Ländern günstiger zu investieren, und der dadurch eröffneten Drohkulisse, etwas nicht zu tun, nämlich nicht in diesem Land zu investieren. Die neue Macht der Konzerne gründet nicht auf Gewalt als ultima ratio, um anderen den eigenen Willen aufzuzwingen. Deswegen ist sie viel beweglicher, da ortsunabhängig und in der Folge dessen global einsetzbar.

Nicht Imperialismus, sondern Nicht-Imperialismus, nicht Invasion, sondern der Rückzug der Investoren ist das, was den Kern der globalen ökonomischen Macht konstituiert. Diese de-territorialisierte Macht der Wirtschaft bedarf we­der der politischen Durchsetzung noch der politischen Legi­timation. Ihre Einsetzung vollzieht sich vorbei an den Insti­tutionen selbst der entwickelten Demokratie, wie Parlamen­ten und Gerichten. Diese Meta-Macht ist weder illegal noch legitim; sie ist «translegal». Aber sie verändert die Regeln des nationalen und internationalen Herrschaftssystems.

Die Analogie zwischen der militärischen Logik staatlicher Macht und der ökonomischen Machtlogik ist auffallend und verblüffend. Dem Volumen des investierten Kapitals entsprechen die Feuerkraft und Waffengewalt, mit dem allerdings entscheidenden Unterschied, dass die Drohung, nicht zu schießen, die Macht vermehrt. Produktentwicklung ist das Äquivalent für die Erneuerung der Waffensysteme. Zweigniederlassungen großer Firmen in vielen Ländern ersetzen Militärbasen und den diplomatischen Dienst. Die alte Militärregel, Angriff sei die beste Verteidigung, lautet übertragen: Staaten müssen in Forschung und Entwicklung investieren, um die globale Offensivkraft des Kapitals voll zu entfalten. Mit dem Forschungs- und Ausbildungsetat wächst – so die Hoffnung – die Bedeutung der Stimme, über die ein Staat in den Arenen der Weltpolitik verfügt.

Die Macht der drohenden Nicht-Investition ist schon heute allgegenwärtig. Danach ist Globalisierung keine Option; Globalisierung ist eine Niemandsherrschaft; niemand hat sie angefangen, niemand kann sie aufhalten, niemand ist verantwortlich. Das Wort «Globalisierung» steht für organisierte Unverantwortlichkeit: Du hältst Ausschau nach jemandem, an den du dich wenden kannst, bei dem du dich beschweren kannst, gegen den du demonstrieren kannst. Aber es gibt keine Institution, keine Telefonnummer, keine E-Mail-Adresse. Alle sehen sich als Opfer, keiner als Täter. Selbst Konzernherren – Machiavellis «moderne Prinzen», die umworben werden wollen – müssen, ihrem Selbstverständnis nach, ihr Denken und Handeln auf den Altären des Shareholder Value opfern, wollen sie ihrerseits nicht gefeuert werden.

 

Ein neuer Blick für anderes Handeln

Zweite These. Der Witz des Meta-Machtarguments liegt darin: Die Handlungs-Chancen der Mitspieler konstituieren sich im Meta-Machtspiel selbst. Sie hängen wesent­lich davon ab, wie sie das Politische selbst definieren und neu bestimmen. Diese sind Voraussetzung für den Erfolg. Nur die entschiedene Kritik der nationalstaatlichen Orthodoxie sowie neue Kategorien, die einen kosmopolitischen Blick anleiten, eröffnen neue Machtchancen. Wer an der alten, nationalen Dogmatik festhält (etwa am Fetisch «Souveränität» und der daraus abgeleiteten unilateralen Politik), wird übersprungen, überrollt und darf sich darüber noch nicht einmal beklagen. Es sind die Kosten, die das Festhalten an den alten, nationalstaatlichen Machtspielregeln für Staaten nach sich zieht, die den kosmopolitischen Blickwechsel nötig machen. Mit anderen Worten: der Nationalismus – das Beharren auf dem Standpunkt, das weltpolitische Meta-Machtspiel sei und bleibe ein nationales Spiel – erweist sich als äußerst kostspielig. Das musste zuletzt die Weltmacht USA im Irak erfahren.

Die Verwechslung von nationaler mit globaler Politik verstellt den Blick und blockiert zugleich das Erkennen und Ergreifen neuer Machtspielzüge und Machtressourcen. Unerschlossen bleibt die Möglichkeit, die Gewinn-Verlust-Regeln oder Verlust-Verlust-Regeln des Meta-Machtspiels in Gewinn-Gewinn-Regeln zu verwandeln, von denen Staat, globale Zivilgesellschaft und Kapital gleichermaßen profitieren. Es gilt die Umkehrung des Marx’schen Grundsatzes: Nicht das Sein bestimmt das Bewusstsein, sondern das Bewusstsein der neuen Handlungssituation – der kosmo­politische Blick – maximiert die Handlungschancen der Spieler im weltpolitischen Machtspiel. Es gibt einen Königsweg, um die eigene Machtstellung zu verändern: Man muss den Blick auf die Welt ändern. Eine skeptische, realistische Weltbetrachtung – aber gleichzeitig auch eine kosmopolitische!


Regeln verletzen – das darf nur das Kapital

Dritte These. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Weltsicht, die durch den Zusammenbruch des Kommunismus in Europa widerlegt wurde, ausgerechnet von den Siegern des Kalten Krieges übernommen wurde. Neoliberale haben die Schwächen von Marx’ Gedanken zum eigenen Bekenntnis erhoben: seine hartnäckige Unterschätzung nationalistischer und religiöser Bewegungen und sein eindimensionales, lineares Bild der Geschichte. Dagegen haben sie sich der Marx’schen Einsicht verschlossen, dass der Kapitalismus anarchische und selbstzerstörerische Kräfte freisetzt. Warum Neoliberale glauben, die Dinge könnten sich im 21. Jahrhundert anders entwickeln, bleibt ihr Geheimnis. Jedenfalls sprechen die drohenden ökologischen Katastrophen und Revolutionen eine andere Sprache.

Die neoliberale Agenda ist der Versuch, die historischen Augenblicksgewinne des mobilen Kapitals festzuschreiben. Die Kapital-Perspektive setzt sich selbst absolut und autonom und entfaltet so den strategischen Macht- und Möglichkeitsraum der klassischen Ökonomie als subpolitisches, weltpolitisches Machthandeln. Danach ist das, was gut ist für das Kapital, zum Besten aller. Das Versprechen lautet, ironisch gesagt: Die Maximierung der Kapitalmacht ist

letztlich

der bessere Weg zum Sozialismus.

Die neoliberale Agenda pocht allerdings zugleich da­rauf: Im neuen Meta-Machtspiel hat das Kapital zwei Steine und zwei Spielzüge. Alle anderen verfügen weiterhin wie bisher nur über einen Stein und einen Spielzug. Die Macht des Neoliberalismus beruht also auf einer radikalen Ungleichheit: Nicht jeder darf die Regeln verletzen, sondern Regelverletzung und -veränderung, das ist und bleibt das revolutionäre Privileg des Kapitals. Der nationale Blick der Politik zementiert die Machtüberlegenheit des Kapitals. Diese beruht aber wesentlich darauf, dass die Staaten nicht nachziehen; dass Politik sich selbst im ehernen Gehäuse der nationalen Machtspielregeln fesselt. Wer aber ist dann die Gegenmacht und der Gegenspieler des globalisierten Kapitals?

 

Die Gegenmacht sind wir: die Konsumenten

Vierte These. Die Rolle der Gegenmacht zum regelsprengenden Kapital fällt im öffentlichen Bewusstsein des Westens nicht dem Staat zu, sondern der globalen Zivilgesellschaft und deren vielfältigen Akteuren. Wenn man das zuspitzt, kann man sagen: Die Gegenmacht der globalen Zivilgesellschaft beruht auf der Figur des politischen Konsumenten. Dessen Gegenmacht resultiert – ähnlich der Macht des Kapitals – aus der Macht, immer und überall nein zu sagen, den Kauf zu verweigern. Diese «Waffe des Nichtkaufens» ist weder örtlich noch zeitlich noch sachlich einzuschränken. Sie ist allerdings beispielsweise darauf angewiesen, dass man überhaupt über Geld verfügt; oder auch darauf, dass es ein Überangebot von Produkten und Dienstleistungen gibt, zwischen denen der Konsument wählen kann.

Fatal für die Interessen des Kapitals ist es, dass es gegen die wachsende Gegenmacht der Konsumenten keine Gegenstrategie gibt: Selbst allmächtige Weltkonzerne können ihre Konsumenten nicht entlassen. Denn Konsu­menten sind – anders als Arbeiter – keine Mitglieder. Auch das Erpressungsmittel, in anderen Ländern zu produzie­ren, wo Konsumenten noch brav sind, ist ein gänzlich untaugliches Instrument. Gut vernetzt und gezielt mobilisiert, kann der entbundene, freie Konsument, transnational organisiert, zu einer scharfen Waffe geformt werden.

 

Autonomie einbüssen, Souveränität gewinnen

Fünfte These. Es führt kein Weg an der Neu-Definition staatlicher Politik vorbei. Die Anwälte und Akteure der globalen Zivilgesellschaft sind zweifellos unverzichtbar im globalen Meta-Machtspiel, insbesondere für die Durchsetzung kosmopolitischer Werte. Die Abstraktion vom Möglichkeitsraum von Staat und Politik in der kosmopolitischen Konstellation aber verleitet zu einer großen Illusion: Die Widersprüche, Krisen und Nebenfolgen der laufenden zweiten «Großen Transformation» könnten durch den neuen Hoffnungsträger, das zivilgesellschaftliche Engagement, zivilisiert werden, und das im globalen Maßstab. Diese Denkfigur gehört jedoch in die Ahnengalerie des Unpolitischen.

Um in der politischen Theorie und im politischen Handeln aus der Nationalitätsfalle auszubrechen, ist die Unterscheidung zwischen Souveränität und Autonomie wesentlich. Der Nationalismus beruht auf der Gleichsetzung von Souveränität mit Autonomie. In dieser Sicht führen wirtschaftliche Abhängigkeit, kulturelle Diversifizierung, militärische, rechtliche und technologische Kooperation zwischen Staaten automatisch zu Autonomie- und damit Souveränitätsverlust. Wenn man allerdings Souveränität daran bemisst, inwieweit es einem Staat gelingt, seine ureigenen nationalen Probleme zu lösen, resultiert die zunehmende Verflechtung und Kooperation, also der Verlust an Autonomie, in einem Gewinn an Souveränität.

Für den Kosmopolitismus ist diese Einsicht zentral: Formaler Autonomieverlust und inhaltlicher Souveränitätsgewinn können sich wechselseitig verstärken. Globalisierung bedeutet beides: eine Zunahme der Souveränität von Akteuren etwa dadurch, dass diese durch Kooperation, Vernetzung und Verflechtung über Entfernungen hinweg handlungsfähig werden und sich auf diesem Weg neue Optionen erschließen – während als Kehrseite dieser Entwicklung ganze Länder ihre Autonomie verlieren. Die inhaltliche Souveränität der (kollektiven und individuellen) Akteure wächst in dem Maße, in dem formal ihre Autonomie abnimmt. Mit anderen Worten: im Zuge politischer Globalisierung vollzieht sich eine Transformation von der Autonomie auf der Grundlage nationaler Exklusion zur Souveränität auf der Grundlage transnationaler Inklusion.

 

Ein Staat, dem die Nation gleichgültig ist

Sechste These. Eine politische Antwort auf die Globalisierung ist der weltoffene, der «kosmopolitische Staat». Dieser entsteht nicht in Auf- und Ablösung des Nationalstaates, sondern in der inneren Umformung desselben, der «inneren Globalisierung»: Die rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Potenziale des Nationalen und Lokalen werden neu ausgelegt und geöffnet. Dieser Zwitter eines sowohl kosmopolitischen als auch nationalen Staates grenzt sich nicht nationalistisch gegen andere Nationen ab. Vielmehr entwickelt er Netzwerke auf der Grundlage wechselseitiger Anerkennung der Andersheit und Gleichheit der Anderen, um transnationale Probleme zu lösen. So erweitert er die Souveränität, um nationale Probleme zu lösen. Der Begriff des kosmopolitischen Staates gründet sich auf das Prinzip der nationalen Indifferenz des Staates. Er ermöglicht das Nebeneinander verschiedener nationaler Identitäten durch das Prinzip der konsti­tutionellen Toleranz nach innen und des kosmopolitischen Rechts nach außen.

Im Gefolge des Westfälischen Friedens 1648 wurden die religiös überformten Bürgerkriege des 16. Jahrhunderts durch die Trennung von Staat und Religion beendet. Ganz ähnlich könnten – das ist die These – die nationalen Welt(bürger)-Kriege des 20. Jahrhunderts mit der Trennung von Staat und Nation beantwortet werden. Ähnlich wie der areligiöse Staat die Ausübung verschiedener Religionen überhaupt erst ermöglicht, müsste das Netzwerk kosmopolitischer Staaten das Nebeneinander der nationalen und ethnischen Identitäten durch das Prinzip der konstitutionellen Toleranz gewährleisten. Ähnlich, wie zu Beginn der Neuzeit in Europa die christliche Theo­logie zurückgedrängt wurde, müsste heute der Handlungsrahmen des Politischen neu erschlossen werden, indem die nationale Theologie gezähmt wird. Ähnlich, wie dies in der Mitte des 16. Jahrhunderts für den theologischen Blick gänzlich ausgeschlossen war, ja, mit dem Ende der Welt zusammenfiel, ist dies heute für die «Theolo­gen des Nationalen» absolut undenkbar, denn es bricht mit dem scheinbar konstitutiven Grundbegriff des Politischen: der Freund-Feind-Schematik.

Ein historisches Beispiel dafür ist die Europäische Union. Hier ist es gelungen, durch die politische Kunst der Verflechtung Feinde in Nachbarn zu verwandeln. Aneinandergekettet mit den «goldenen Handschellen» des nationalen Vorteils, müssen sich die Mitgliedsstaaten im Streit ihrer wechselseitigen Anerkennung und Gleichheit immer aufs Neue vergewissern. Die Europäische Union in diesem Sinne als kosmopolitischen Staatenbund zu begreifen, der die wirtschaftliche Globalisierung kooperativ bändigt sowie die Andersheit der Anderen achtet – der europäischen Ko-Nationen, aber auch der weltweiten Nachbarn Europas –, das könnte eine durchaus realistische Beschreibung, teils auch Utopie sein.

Theorie und Begriff des kosmopolitischen Staates grenzen sich gegen drei Positionen ab: gegen die Illusion des autonomen Nationalstaates; gegen die neoliberale Vorstellung des minimalen, deregulierten Wirtschafts­staates; sowie gegen die irrealen Verlockungen eines einheitlichen Weltstaates, dessen Machtkonzentration nicht zu brechen wäre.

 

Macht Mauern zu Brücken!

Siebte These. Dieser Einwand liegt in der Luft: Seit langer Zeit wird mit Ideen gearbeitet wie kultureller Relativismus, Multikulturalismus, Toleranz, Internationalismus, und – bis zum Erbrechen – mit Globalisierung und Globalität. Wird mit dem Konzept des Kosmopolitismus nicht alter Wein in neue Schläuche abgefüllt? Handelt es sich vielleicht noch nicht einmal um neue Schläuche, weil der Begriff Kosmopolitismus ja bereits seit den altgriechischen Stoikern oder bei Immanuel Kant, Hannah Ahrendt und Karl Jaspers Verwendung gefunden hat?

Darauf antworte ich: Meine Theorie des «kosmopolitischen Blicks» beschreibt andere Realitäten und ist anders gebaut. Gründen doch all jene Ideen auf der Prämisse der Differenz, der Entfremdung und der Fremdheit der Anderen. Multikulturalismus meint beispielsweise: Verschiedene ethnische Grup­pen leben Seite an Seite innerhalb eines Staates. Und Toleranz meint widerstrebende Akzeptanz, das Zulassen von Differenz als unvermeidbare Last. Kosmopolitische Toleranz dagegen ist mehr als das. Sie ist nicht defensiv oder passiv, sondern aktiv: sich für die Welt der Anderen öffnen, die Differenz als Bereicherung erfahren und den Anderen als fundamental Gleichen ansehen und behandeln. Oder theoretisch ausgedrückt: Die «Logik des Entweder-Oder» wird ersetzt durch die «Logik des Sowohl-Als-Auch».

Kosmopolitisierung meint also gerade nicht Uniformierung und Homogenisierung. Menschen, ihre Gruppen, Gemeinden, politischen Organisationen, Kulturen, Zivilisationen wollen und sollen verschieden bleiben, vielleicht sogar einzigartig. Aber, um es metaphorisch auszudrücken: die Mauern zwischen ihnen müssen ersetzt werden durch Brücken. Solche Brücken müssen vor allem in den menschlichen Köpfen, Mentalitäten und Imaginationen errichtet werden («kosmopolitischer Blick»), aber auch innerhalb des Nationalen und Lokalen («innere Globalisierung»), in Normsystemen (Menschenrechte), in Institutionen (etwa der Europäischen Union) und auch in der «Weltinnen­politik», die nach Antworten auf transnationale Probleme sucht (etwa in der Energiepolitik, der nachhaltigen Entwicklung, im Kampf gegen die globale Erwärmung, im Krieg gegen den Terrorismus).

 

Ulrich Beck lehrt Soziologie an der Ludwig-Maximilian-Universität München und an der London School of Economics and Political Science. Er hat eine Trilogie zum Neuen Kosmopolitismus vorgelegt: «Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter» (2002), «Der kosmopolitische Blick» (2004) sowie «Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit» (2007).

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