Das Journal - Der Krieg ist noch nicht zu Ende

Norbert Gstrein begibt sich erneut ins Krisengebiet auf dem Balkan – und kann sich zwischen Kolportage und Reflexion nicht entscheiden

«Die Winter im Süden sind schrecklich.» Das sagt ein alter Mann in Buenos Aires, er meint vielleicht auch seine Heimat auf der anderen Seite der Erdkugel, den Balkan, genauer: Kroatien. Seit 45 Jahren lebt er im Exil, jetzt, 1991, wittert er den Kriegsausbruch in Jugoslawien und bereitet seine Rückkehr nach Zagreb vor. Ludwig, der ExPolizist aus Wien, der in Argentinien das Vergessen sucht (seine Freundin und Kollegin kam bei einem gemeinsamen Einsatz ums Leben), soll ihm dabei behilflich sein, als eine Art Knappe, konkret: als Chauffeur und Leibwächter. Ludwigs Integration in die Familie des Alten gelingt allzu gut, sehr bald ist er der Geliebte der jungen Ehefrau.

So weit die Vorgeschichte zu dem, womit Norbert Gstrein seinen Roman beginnt: Marija, eine Wienerin mit kroatischen Wurzeln, beschließt nach ihrem fünfzigsten Geburtstag, eine Auszeit von ihrem Mann Albert zu nehmen und nach Zagreb zu gehen. Dass der Bürgerkrieg mit ersten Scharmützeln begonnen hat, schreckt sie weniger als die Aussicht, mit dem Gatten, der sie dezent betrügt, einfach so weiterzumachen. Der einstige Revoluzzer lässt sich als Lokalgröße des österreichischen Journa­lismus feiern, «als Blüte der Aufrechten und Anständigen im Land», schreibt aber, ganz nach dem Vorbild von Arthur Schnitzlers publizistischem Doppellebenskünstler Fink alias Fliederbusch, schon die längste Zeit unter einem Pseudonym bei der Boulevard-Konkurrenz gegen sich selbst.

Anders als in Gstreins letztem Jugo­slawien-Roman «Das Handwerk des Tötens» (siehe «Literaturen» 11/2003) geht es hier nur am Rande um ein Sittenbild der schreibenden Zunft, um ihre besserwisserische Ahnungslosigkeit gerade in Sachen Balkankrieg. Viel mehr interessiert den Autor das Verbohrte radikaler Überzeu­gungen, die Unbelehrbarkeit eines Mannes, der im Weltkrieg auf der falschen, der faschistischen Seite stand, ein Täter gewiss, aber auch ein Opfer: Nach Kriegsende wurde er von den Engländern beinahe, wie Tausende seiner Kameraden, den Tito-Partisanen ans Messer geliefert. Seine Tochter Marija, deren Perspektive im Roman mit jener des aus der Bahn geworfenen Ludwig verschränkt wird, muss erfahren, dass ihr totgeglaubter Vater lebt und in Zagreb nach ihr sucht, aber auch, dass er seinerseits wider besseres Wissen ihren und ihrer Mutter Tod kolportiert hat, um das Sündenregister der Kommunisten zu ver­längern.

So zusammengefasst klingt das reißerisch, doch Norbert Gstrein hat das Unmittelbare des Geschehens einmal mehr durch ein Spalier von Erwägungen und Relativierungen auf Distanz gebracht. Vielleicht ist der Erzähler einfach zu klug für diese Welt. Was immer seine Figuren denken und sagen, wird von ihm als peinlich, exaltiert, übertrieben, pathetisch und vor allem als sentimental denunziert, die skrupulöse Wiedergabe von Dialogen erhält so etwas höchst Sprödes und Gekünsteltes. Das kann man dem Buch vorwerfen oder als Gstreins ganz persönliche Zurichtung von Geschichte loben – es hemmt auf jeden Fall den Lesefluss.


Rustikaler Landser-Sex

Die Beziehung zwischen dem Alt-Macho und dem jüngeren Ludwig, der sich in Argen­tinien erst an eine Gesellschaft gewöhnen muss, in der seine Polizeivergangenheit kein Stigma, sondern eine Empfehlung bedeutet, ist bald homoerotisch grundiert, bald treten die beiden auf wie Don Quijote und Sancho Pansa, geleitet freilich von einem zweifelhaften Idealismus. Der Exilant hat schlicht den Sinn für das Machbare verloren.

Eindringlicher als die Beschreibung der politischen Zusammenhänge gerät Gstrein die Darstellung der Atmosphäre in der Villa des Alten, das Gefühl des Unwirklichen, in das Ludwig sich fallen lässt, das «wattierte, geradezu narkotisierte Empfinden» einer Existenz fern dem eigenen Schmerz. Oder das ähnlich motivierte Sich-treiben-Lassen Marijas, die, am Vater-Phantomschmerz leidend, sich einem kroatischen Soldaten an den Hals wirft: Heraus kommt ein rustikaler Landser-Sex, der martialischen Männerphantasien zum Verwechseln ähnlich sieht. Hier wird’s dann doch etwas reißerisch.

Den präzis beobachteten Familienszenen und einprägsamen Naturschilderungen stehen auf der anderen Seite stilistische Missgriffe gegenüber, die den Charakter des Spröden noch verstärken: Gatte Albert etwa soll Marijas «Sehnsucht beherzigen» und muss eine Frau «wie ein Gourmet verschlingen». Nicht nur sprachlich hat der Erzähler ihm Unmögliches abverlangt, auch psychologisch: Albert vermocht’s nicht. Und er ist nicht der Einzige.

Dass zum Schluss nichts aufgeht, was im Plot scheinbar angelegt ist, dass die fami­liäre Wiedervereinigung scheitert und Sancho Pansa in seinen Kernaufgaben versagt, ist, besehen im Lichte von Norbert Gstreins historischem wie narrativem Pessimismus, jedenfalls nur konsequent.

Norbert Gstrein
Die Winter im Süden
Hanser, München 2008. 284 S., 19,90 €

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