- Bücher aus der Schokofabrik
Im digitalen Zeitalter muss die sinnliche Qualität des Buches überzeugen,meint Rainer Groothuis – und gründet mitten in der Krise einen eigenen Verlag. Ein Porträt von Ulrich Rüdenauer
Hamburg-Ottensen
erscheint noch immer ein wenig wie das Dorf, das es in Vorzeiten
einmal gewesen ist. Es gibt Lokale, die «Traube» heißen und die man
andernorts «urig» nennen würde. Man kann sich kaum vorstellen, dass
es in Ottensen noch in den siebziger Jahren sehr wild zugegangen
sein soll. Etliche traditionelle Unternehmen hatten damals dicht
gemacht, die Arbeiter zogen in andere Stadtteile, die Mieten wurden
günstiger und die alternative Szene umtriebiger. Davon sind an
manchen Ecken noch ein paar bunt bemalte Bauwagen übrig geblieben.
Aber der natürliche Gang der Gentrifizierung hat sich auch hier
vollzogen, und bald werden die Spuren geplatzter alternativer
Lebensmodelle gänzlich verschwunden sein. Inzwischen wohnt in dem
Altonaer Stadtteil eine kulturbeflissene, durchaus wohlhabende
Schicht. In den ehemaligen Lagerhallen und Fabriken sind Kreative
eingezogen, und es ist faszinierend, wie die alten Gebäude trotz
aller Transformationsprozesse und Renovierungsmaßnahmen ihre
Geschichte weiter mit sich herumtragen. Hier wurde inmitten von
Maschinen und riesigen und lauten Gerätschaften körperlich
gearbeitet, weshalb die Räume für die kleinen MacBooks, die dort
heute artig vor sich hinschnurren, reichlich überdimensioniert
wirken.
Auch die ehemalige Schokoladenfabrik, in der Rainer Groothuis mit
seiner Agentur und seinem Verlag residiert, erscheint so, als
könnte man noch in die Räumlichkeiten hineinwachsen: Alles ist sehr
großzügig und offen, heimelig und geschäftig zugleich. Die
Menschen, die hier arbeiten, sind jung und leger, und sie haben
Ideen. 25 sind es inzwischen; sie alle haben genug Platz im großen
Konferenzraum, wo Rainer Groothuis jetzt entspannt sitzt, sich eine
Marlboro nach der anderen anzündet und erzählen soll, wie der Weg
vom Emdener Buchhändler zum Verleger des Corso-Verlags verlaufen
ist. «Ach, die epische Fassung», sagt er, und er sagt das charmant
und auch ein bisschen schnippisch.
Welterfahrung und Herzensbildung
Es war ungefähr so: Abitur gemacht und nicht gewusst, was nun. «Da war nur eine vage Vorstellung eines vagen Studiums, weshalb ich ’79 zu dem skurrilsten, schrägsten und interessantesten Emdener Buchhändler gegangen bin und gefragt habe: Können Sie nicht eine Aushilfe gebrauchen?» Der Buchhändler Burkhart Krebs war schon recht alt, linksliberal und eigensinnig, aber in Sachen aktueller Literatur nicht sehr bewandert – da überließ er Groothuis das Feld, und der bestellte es. Eigentlich machte die Aushilfe von Anfang an auch alles andere, was es in einer Buchhandlung zu tun gibt. Der Job wurde im Nachhinein einfach zur Lehrzeit umdefiniert, der Form halber. All das führte dazu, dass Groothuis Herrn Krebs beerben sollte – was der junge Mann auch kurzzeitig ins Auge fasste, um dann aber doch Fluchtpläne zu schmieden. Emden ist nicht der Mittelpunkt der Welt und nicht das Ende aller Träume, und wenn man Anfang zwanzig ist, schon gar nicht. Also bewarb er sich bei drei Berliner Verlagen. Von zweien kamen Absagen, der dritte meldete sich erst gar nicht. Der dritte war Wagenbach, und von diesem Verlag hatte «ein junger, aufgeregter, ostfriesischer Linker» solch ungebührliches Verhalten nicht erwartet. Also hakte er mit Wut im Bauch nach, und das zeigte Wirkung.
Es gab dort eine
seltsame Stelle, erzählt Groothuis, halb Lektorat, halb
Herstellung, und sein energisches Auftreten brachte ihm diese
Stelle ein. «Wie immer auch der Eindruck entstanden sein mag, ich
hätte Ahnung von Herstellung – provoziert hatte ich ihn nicht»,
erinnert sich Groothuis. «Wahrscheinlich hätte die
Hauptherstellerin damals» – der Posten war nämlich kurzfristig
vakant geworden – «einen Blinden auf drei Beinen genommen,
Hauptsache, es kam jemand.» Der junge Buchhändler aus Emden
entwickelte Händchen, Auge, Talent und blieb bei Wagenbach. Wurde
bald Haupthersteller, dazu noch Werbeleiter, und wenig später wurde
ihm die Position des Geschäftsführers angetragen; nicht gerade
üblich in dieser Zeit, dass man einem 30-Jährigen eine solche
Verantwortung zuteil werden ließ.
Groothuis hatte bald einen Ruf in der Branche: Die berühmte
Salto-Reihe bei Wagenbach, jene unverwechselbaren roten
Leinen-Bände, verdankt sich nicht zuletzt seinen Ideen. Aber
irgendwann ging es bei Wagenbach nicht mehr weiter, «ich hatte
alles gelernt, was man in einem kleineren Haus lernen kann». Und
Berlin ging ihm auf die Nerven – er wollte zurück in den Norden.
Über den Umweg Bremen landete er 1997, wo er heute ist: in
Hamburg-
Ottensen. Schon am Anfang, mit nur wenigen Stammkunden, lebte man
auf großem Fuß: Zehn Mitarbeiter auf 270 Quadratmetern hatte die
damals gegründete Agentur Groothuis, Lohfert, Consorten. Das nennt
man Chuzpe.
All das hört sich nach einer bruchlosen Erfolgsgeschichte an, eines
entwickelte sich organisch aus dem anderen. Und tatsächlich hat man
den Eindruck, einem nicht nur erfolgreichen, sondern in seinem
Erfolg glücklichen Menschen gegenüberzusitzen, der große, von
Pathos nicht ganz freie Worte liebt. Von «Welterfahrung» oder
«Herzensbildung» spricht er so selbstverständlich und emphatisch
wie etwas nüchternere Zeitgenossen von Kompetenzerweiterung oder
Ausbildung. Auch sein Hang zur Ironie nimmt den Wörtern nicht den
ihnen innewohnenden Wallungswert. Bei solchen Leuchtturmbegriffen
geht es eindeutig um Positionierung – an einem Ort, den manche
gerne in selbstgefälligem Pessimismus verloren geben:
Kultur.
Wer will schon eine Villa im Tessin?
Nicht, dass Rainer Groothuis ökonomischer Verstand fehlte. Zum «Herzblut» kommt freilich «Kalkül». Geschäftssinn ist dem 1959 geborenen Emdener ebenso eigen wie sein Enthusiasmus für waghalsige Ideen, die sich etwa im Agenturnamen widerspiegeln: «Gesellschaft für Formfindung und Sinneswandel». Man versteht, was damit gemeint ist – dass nämlich Form und Inhalt unverbrüchlich aufeinander bezogen sind, dass Gestaltung etwas zu Gestaltendes voraussetzt, im besten Falle Substanz. Das gilt für die Agentur Groothuis, Lohfert, Consorten, die für Verlage und andere Kunden Bücher gestaltet, Texte verfasst, Konzepte entwickelt. Und natürlich sollen auch die Bücher, die Rainer Groothuis in seinem Corso Verlag herausbringt, substantiell sein – und adrett obendrein.
Rainer Groothuis redet schnell, oft setzt er ein den Wortfluss zugleich strukturierendes wie auch einen Gedanken unterstreichendes «So!» in den Raum, oder er sagt «Hallo?!», wenn ihm etwas wunderlich oder bemerkenswert erscheint. Man kann sich vorstellen, dass das jungenhafte Gebaren, diese Paarung von Selbstsicherheit, Wachheit und der Fähigkeit zur Neugierde und zum Überraschtsein, auch die Geschäftspartner der Agentur überzeugt haben muss – es kamen im Lauf der Zeit immer mehr dazu. Und damit auch die Kapitalmittel für den Verlag? Rainer Groothuis muss lachen. «Die Agentur ist kein Renditeapparat. Die Rendite ist eigentlich immer nur homöopathisch. Was überhaupt nicht schlimm ist, denn die Gesellschafter streben nicht danach, eine Villa im Tessin zu haben. Es muss sich tragen, die Mitarbeiter müssen davon leben. Wir haben die letzten zehn Jahre nichts aus dem Unternehmen rausgenommen.»
Spaziergänge statt Welterklärungen
Die Idee zum Verlag entstand schon vor einiger Zeit. Damals
jonglierte man mit verschiedenen Konzepten. «Der erste Anlauf war
heiter und dilettantisch, weil er halt noch nicht bestimmt war.»
Prägend wurde dann ein Bildband über Venedig, den Rainer Groothuis
und Christoph Lohfert für einen anderen Verlag gestaltet haben und
zu dem sie auch die Fotos beisteuerten. Damit war die Magazin-Idee
geboren, und auch der Horizont für den Verlag war abgesteckt. Hinzu
kam eine aus der Wagenbach-Phase stammende Faszination für den
Autor Pier Paolo Pasolini, von dem – jenseits seiner
tagespolitischen Einlassungen – noch einige Schätze zu heben seien.
Pasolini dürfte zu einem Grundpfeiler von Corso werden. Und es ist,
das kristallisierte sich ebenfalls bald heraus, die kleinere Form,
die Groothuis vorstellen will. Die Zeit der dicken, welterklärenden
Bücher sei vorbei. Ihm geht es um «das komprimierte, flanierende
Angebot»: «Die Weltbrocken kann jemand anders machen.» Der Kosmos,
der sich unter dem Corso-Label eröffnet, erscheint dabei erst
einmal klein. Ums Reisen geht es. Und um die literarische
Vermessung der Welt beim Reisen. Das ist ein relativ klar
umrissenes Programm. Oder auch nicht, denn eigentlich steckt alles
drin.
«Wir haben mit dem, was wir machen wollen, ja die ganze Welt der
Literatur und die konkrete Welt vor uns», sagt Groothuis, und man
kann ihm schwerlich widersprechen. «Sie werden sich wundern, was
wir im zweiten Programm vorstellen: Auszüge aus Walter Benjamins
‹Passagen›-Werk, ein Gartenbuch, ein Buch übers Trampen, um nur
drei Projekte zu nennen.» Schon im ersten Programm ging es rund –
rund um Europa zumindest: mit Pasolini nach Rom und mit Aby Warburg
quer durch Italien, mit dem Philosophen Horst Günther «Hinaus, ins
Freie» und mit Martin Luther nach Paris. Zudem wurde eine
literarische Städtezeitschrift gestartet, Corsofolio, mehr ein
prächtiger Bildband denn ein Magazin. Rom, Istanbul, Paris, Wien
werden von prominenten Autoren bereist; immer gibt es einen
Stadtführer, der einen einleitenden Essay beisteuert. Im Falle von
Rom war es Martin Mosebach, durch Istanbul flaniert Wilhelm
Genazino – Büchner-Preisträger müssen es schon sein. Viermal im
Jahr wird es eine neue Ausgabe von Corsofolio geben.
Die Corso-Bücher erscheinen in einem mittleren Format, so dass die stets enthaltenen Fotografien zur Geltung kommen und der Text ein- und zweispaltig gedruckt werden kann, zuweilen mit einer Marginalspalte versehen; abwechslungsreich und doch mit hohem Wiedererkennungswert sind die Bände gestaltet. Es macht Freude, darin zu blättern, in ihnen spazieren zu gehen, sich in einem Essay etwa von Dorothea Dieckmann zu verlieren, der den Pasolini-Band abschließt. Diese Bücher tendieren zum Gesamtkunstwerk – die Form verführt einen zu den Inhalten, und diese wiederum erfahren durch die Fotografien eine Erweiterung. Rainer Groothuis hat immer schöne Bücher gemacht, auch früher schon. Er hat das äußere Bild des literarischen Programms des DuMont Verlags geprägt oder Umschläge für die Büchergilde Gutenberg gestaltet.
Gegen die Entdinglichung
Dass Groothuis nicht nur schöne Bücher macht, sondern auch Sinn
fürs Geschäftliche hat, zeigt sich darin, dass der Verlag in der
Finanzkrisen-Zeit 2008/2009 entwickelt wurde, um ein eigenes,
kundenunabhängiges Geschäft zu generieren – Agentur und Verlag
laufen unabhängig voneinander und zeitigen dennoch synergetische
Effekte. Groothuis ist in der Lage, eine ziemlich genaue
Zielgruppen-Analyse für seine «flanierenden» Bücher abzugeben:
«Nehmen Sie die große Zahl der ‹Zeit›-Abonnenten, die mit
Interesse das Feuilleton als auch den Reiseteil lesen, dann haben
Sie die klassische Corso-Schnittmenge. Und dazu können Sie noch die
Leser der FAZ und der Süddeutschen addieren.» Aus solchen Sätzen
spricht nicht nur Zweckoptimismus des Verlegers: Nach einer
«berauschenden Frankfurter Buchmesse» sieht Groothuis das Potential
seines Projekts bestätigt, wie sonst hätte er es lancieren können?
Dazu gehört nicht zuletzt etwas, das er sich bei seinem früheren
Arbeitgeber und anderen unabhängigen Verlegern abgeschaut hat: «Man
muss für etwas stehen! Denken Sie an Klaus Wagenbach oder Michael
Krüger – das Faszinosum für einen Großteil des Publikums liegt ja
darin, dass da überhaupt jemand eine Haltung hat.»
Die Haltung des Verlegers Groothuis ist in der Ankündigung des
ersten Programms formuliert: «Wir halten Neugier für eine Tugend
und glauben, dass die Welt noch lange nicht rund ist.» Es ist eine
Sehnsucht, die durch Lesen, Reisen, Denken gestillt werden soll.
Und der Glaube daran, dass sich Qualität auch in der digitalen Welt
durchsetzen kann, dass Bücher in materieller, schöner Form bestehen
können gegen das E-Book. Womit wir bei der Frage wären, was ein
schönes Buch denn nun eigentlich ausmacht. Wer sonst, wenn nicht
Rainer Groothuis, könnte darauf antworten: «Schönheit impliziert
immer einen absoluten Anspruch, das ist per se Unsinn. Schönheit
als Begriff und Arbeitsweise muss im Zusammenhang mit
Angemessenheit gedacht werden, sonst wird es entweder überbordend
kitschig oder es trifft den Inhalt nicht.» Keine Vitrinen-Objekte
also – und keine Ramschware. Kein l’art pour l’art und keine
Beliebigkeit: «Wir machen die Bücher nicht, um ‹schöne› Bücher zu
produzieren, sondern wir machen die Bücher der Inhalte wegen. Und
um diese Inhalte auf die Rampe zu kriegen, müssen die Bücher schön
und angemessen sein. Der Digitalisierung kann man nur durch eine
besondere Dinglichkeit entgegenwirken. Und wir sind einer jener
Verlage, die dem Handel für den Wandel die Bücher liefern, die
deutlich gegen Entdinglichung stehen. Das könnte gut aufgehen. Die
Frage bleibt, ob man uns die Zeit dafür lässt – Zeit, die wir
brauchen, den Handel zu gewinnen und die Leser zu erreichen. Und
die Aufmerksamkeit, natürlich.» Der Aufmerksamkeit kann sich Corso
immerhin schon mal gewiss sein.
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