- Botschaften aus dem literarischen Geheimfach
Marguerite Duras’ «Hefte aus Kriegszeiten» sind die Nussschale, die bereits das Material des gesamten späteren Werks der französischen Kult-Autorin enthält. Aber auch dessen Grundlage: die prägenden Erfahrungen der Kindheit
Da sind sie wieder: die frühen Lebensjahre in Indochina; die einheimischen Großgrundbesitzer, die der Mutter unbrauchbaren Boden verkaufen; die Reisfelder, die sich in Sumpfland verwandeln; die ruinösen Lebensverhältnisse, die schrillen Aktivitäten einer um ihr Überleben kämpfenden Familie. Und da ist auch wieder Marguerite Duras. Noch heißt sie Marguerite Donnadieu, eine in den großen Städten Indochinas gestrandete Jugendliche, die, in notdürftig hergerichteter Garderobe, kolonialen Glanz auf sich wirken lässt in der Hoffnung, diesem etwas abluchsen zu können.
Die «Hefte aus Kriegszeiten», nachgelassene Schriften aus den Jahren 1943 bis 1949, die Marguerite Duras kurz vor ihrem Tod 1996 dem Pariser Institut Mémoires de l’édition contemporaine (IMEC) übergab, setzen mit der autobiografischen Erzählung «Kindheit und Jugend in Indochina» ein. Man nimmt teil am Debüt der Motive, bevor sie als ein Amalgam aus Erfindungen und Melodramatisierungen unzähligen Büchern, Theaterstücken und Filmen ihre unverwechselbare Sogkraft verliehen. Man befindet sich auf der Stufe des ersten Beutezugs.
Der wenige Jahre später aus dieser Vorlage entstandene Roman «Heiße Küste» («Le barrage contre le Pacifique», 1950) zeigt die sozial und emotional grenzgängerische Kleinfamilie bereits so weitgehend in Form und auf Distanz gebracht, dass ihr von Verzweiflung, Nervenkitzel und Verbrechen gezeichnetes Alltagsleben als eigenständiges literarisches Sujet auf den Markt gebracht werden konnte: ein erster wirksamer Beleg für die Tragfähigkeit der «asiatischen» Kindheit mit ihren dramatisch ausgereizten Spielarten von Dichtung und Wahrheit.
Auf dem Weg in den «Durassic Park»
In der frühen Erzählung, vom «Ich» der Schriftstellerin vorgetragen, ist immer wieder von den katastrophalen Bodenverhältnissen des von der Mutter erworbenen Nutzlandes die Rede: ein Ausgangspunkt für das Unglück, das den gesamten familiären Binnenraum infiziert. Der private, in einem fließenden Parlando gehaltene Ton der Erzählung lässt an die Aufzeichnungen eines Tagebuchs denken. Man wird Zeuge einer ums Überleben kämpfenden kindlichen Existenz, die sich gezwungenermaßen als Teil des entgleisenden Familienlebens versteht und gleichzeitig nach Mitteln und Wegen sucht, sich außerhalb davon einen rettenden Platz zu sichern. Diese Suche wird sie zur Dichterin machen. Ihr «Indochina» verankert die Person in Geheimnis und Mythos. Sie wird aus «Indochina» als eine vom Fatum Berührte hervorgehen und es nach und nach zu einem eigenen Kontinent ausbauen: dem «Duras-Land», wie ihre Biografin Laure Adler es ausdrückte. «Le Monde» verstieg sich, angesichts des eng verfugten Sprachimperiums der Dichterin, zum Begriff des «Durassic Park».
Schon in dieser frühen Erzählung thematisiert Marguerite Duras die weiterreichende Wirkung ihres damaligen Lebens, dessen Bedeutung für die Orte, die Figuren und Motive ihres Schreibens. Sie sei, so schreibt sie, hängengeblieben mit ihrem Leben in dem Jahr, in dem sie Indochina verließ: eine Achtzehnjährige, die für immer «in einer grenzenlosen Kindheit versunken» sei. Die unverzüglich folgende Versicherung der Dreißigjährigen, sie habe fortan versucht, «mit allen Mitteln da herauszukommen», darf man mit Skepsis betrachten. Zwar liegt es nahe, ihr Werk als Resultat eines solchen Befreiungsversuches zu sehen; richtig ist aber auch, dass das zu Brachland gewordene Reisfeld den Makel der Unbebaubarkeit in die Familiengeschichte selbst hineintrug: Symbol eines ohnmächtig ertragenen Unrechts, das von der Tochter zum poetischen Neuland umgewidmet wurde und zur Vorlage für ein Leben in Romanform geradezu einlud.
Beispielhaft ist die in dieser Form hier zum ersten Mal zur Sprache kommende Brutalität des älteren Bruders gegenüber dem zart gewachsenen Kind. Wenn der Junge Opium geraucht hatte, steigerte sich seine Quälsucht. Marguerite Duras hat seine Misshandlungen, die die Dimension der Folter streifen, in einer Haltung der Ergebenheit hingenommen, die für ihr späteres Leben Weichen stellte. Der in der Erzählung mitgeteilte Grund für den fehlenden Widerstand zeigt den Grad der Entwirklichung, das Ausmaß der ins Metaphysische abgetauchten Lesart der eigenen Geschichte an: Das Aufbegehren gegen die Schläge des Bruders, so schreibt sie, wäre ihr als das einer «Ketzerin» erschienen. Wichtiger als die psychologische Deutung, der Anspruch auf Gleichberechtigung und ein Einspruch im Sinne der Humanität erweist sich die ins Magische hinüberspielende Erklärung der Duras, sie habe sich den «Glanz des Ereignisses», das der Bruder für sie war, erhalten wollen. «Sein Leben spielte sich so unerbittlich wie ein Verhängnis ab», das ist es, was ihr «imponiert». Die Erzählung gibt mit bestürzender Inständigkeit Auskunft über den Pakt, den Marguerite Duras mit einer höheren, den Bewusstseinskräften entglittenen Instanz, mit der «Macht des Schicksals» eingegangen ist.
Dieses
poesiefördernde Weltverhältnis beschert den frühen Misshandlungen
durch Mutter und Bruder die Würde der «höheren Motive». Beide
erscheinen ihr in einem Licht, das sie «direkt» als Auserwählte
«der Gewalt Gottes» unterstellt. Die Erschaffung einer Parallelwelt
macht das unaushaltbare Drama erträglich. Ob nun die jahrelang
erduldeten körperlichen Misshandlungen realer Art waren oder
bereits ein Phantasma darstellen, spielt keine Rolle für die
Bedeutung, die Marguerite Duras ihnen gibt. Ihre frühe Erzählung
zeigt bereits den autoritären élan der Setzung und die für
ihre Dichtungen so charakteristische Ausfallbewegung hin zur
Metapher. Unübersehbar der Eigen-Sinn, die entschlossene
Geste, dem Dasein, wenn es denn schon mit so viel Schrecken
daherkommt, außermenschliche Wirkungsgesetze im wahrsten Sinne des
Wortes zuzuschreiben.
Krieg und Kindheit haben dieselbe Farbe
Duras wird sich in den Jahren ihrer ersten literarischen Arbeiten, in der Zeit der Fertigstellung ihrer «Indochina»-Erzählung, in Paris mit Georges Bataille und Michel Leiris befreunden, später mit Maurice Blanchot. In deren Texten begegnet sie jener Chiffre, «dem Heiligen», die zum Ausdruck bringt, was bereits früh zum Zentrum ihres Schreibens wurde. Literarisch und ethnopoetisch neu gefasst, wird dieser der religionswissenschaftlichen Tradition entstammende Begriff zur Formel für das Ungewöhnliche, Verbotene, «Inkommensurable», ein Dreh- und Angelpunkt für die literarische Moderne, die in Frankreich die geistige Auseinandersetzung bestimmt. In deren dunklen Sprachen und Reflexionen über den Tod, die Liebe, über Schuld und Barbarei, über die Verzweiflung und über das Schreiben findet sich Marguerite Duras mit ihren Erfahrungen wieder. Nathalie Sarraute bezeichnete das Schreiben als eine Annäherung an den «inneren Schatten», eine Formulierung, die Marguerite Duras häufig zitierte.
Kein Wunder, dass sich Jacques Lacan nach einem Gespräch, das er mit ihr führte, enttäuscht über die Begegnung äußerte. Er hatte sich, ähnlich wie Sigmund Freud, als dieser die Dichtungen Arthur Schnitzlers studierte, Aufschlüsse über die menschliche Psyche erhofft, die sein psychoanalytisches Instrumentarium ihm vorenthielt. Er habe von ihr nichts Neues erfahren können, meinte Lacan, so sehr stimme sie selber «mit den Gebrauchsweisen des Unbewussten überein» – gemeint war dessen lückenlose mythologische Überformung, die sich wie ein roter Faden durch das gesamte Werk der Duras zieht.
Die nun zum ersten Mal in Deutschland erscheinenden nachgelassenen Schriften stellen ein Konglomerat von vier unterschiedlich gestalteten Heften dar, ein «rosa geädertes», ein «beiges», ein «Hundert-Seiten»-Heft und ein Heft des «Verlags des 20. Jahrhunderts», Letzteres ein Hinweis auf einen möglichen Namen für den Verlag, den Marguerite Duras 1947 mit ihrem Mann Robert Antelme gründet, der schließlich «Éditions de la Cité Universelle» heißen wird. Im Vorwort wird zu Recht darauf verwiesen, dass es sich bei den Dichtungen der Duras um ein «Werk ohne Reste» handelt, der gesamte Nachlass ist darin eingegangen. Die hier publizierten Arbeiten breiten ihren Stoff mit größerer Ausführlichkeit und Intimität, insgesamt affektreicher aus (etwa die Entwürfe zu den späteren Romanen «Heiße Küste», «Der Schmerz», «Der Matrose von Gibraltar») als die fertigen, zur Veröffentlichung bestimmten Texte; diese sind im Ton offizieller gehalten, modellieren den Ablauf der Dinge deutlich lakonischer und verknappen die Ökonomie der Szene. Der Romanentwurf «Madame Dodin» zeigt darüber hinaus zum Teil nur skizzenhafte Überschriften der geplanten Szenen an, die von inhaltlichen Hinweisen und Selbstermahnungen an die Autorin bis zur burlesk verdichteten Gedächtnisstütze reichen.
Allerdings ist auch im Entwurf zum Roman «Der Schmerz» bereits jene radikal schonungslose, an archaische Schichten der Menschennatur rührende Stelle enthalten, in der Marguerite Duras vom «Schweineblut» der Deutschen spricht, das sie zwischen den Ruinen Berlins hindurchfließen sehen möchte; noch ist nicht sicher, ob ihr Mann das Lager Buchenwald lebend verlassen wird. «Ich will meinen Haß voll und ganz», schreibt sie, als ihr in Paris ein deutscher Priester begegnet, der, ein Kind an der Hand führend, an ihr vorübergeht und ihr mitteilt, dass es sich um eine Waise handele. Unter Hohn kommentiert sie seine «Nächstenliebe» mit den Worten, «wozu uns daran erinnern, daß es in Deutschland noch kleine Kinder gibt?»
Am Grab des Vaters entsteht der Name Duras
Die Stelle hat eine geheime Verbindung zu einer im Vorwort der «Hefte» zitierten Formulierung aus dem Romanentwurf «Der Liebhaber», wo es heißt: «Die Kindheit ufert aus bis in den Krieg hinein.» Die Analogie von Krieg und Kindheit stellt eine Engführung dar, die, aus eigenen Erfahrungen resultierend, zur übergreifenden Formel wird. Beide, Krieg und Kindheit, haben «dieselbe Farbe», schreibt Duras. Der kalte Blick auf das deutsche Kind gilt auch ihr selbst. Die Kindheit als Schlachtfeld, eine Tragödie, die niemals endet. Man kann als Leser der Duras die Erfahrung machen, dass, je tiefer man sich auf sie einlässt, umso deutlicher ihre Attitüden, der Zug ins Plakative und Despotische ihrer Dichtungen hervortreten. Der Leser lernt, sich ihr mit einer gewissen Vorsicht zu nähern. Die zum geheimnisumwitterten Katastrophengebiet gewordene Realität verdankt sich einem Kunstgriff, dem flächendeckenden Zug des Tragischen, der dem Werk seinen Mystizismus und seine Vehemenz verleiht. Allerdings auch seine völlige Humorfreiheit; den Mangel an Spielräumen des Absurden und der Groteske.
Hier sind die Menschen mit der Auslotung ihres Schicksals beschäftigt: vom Leben in ihrem innersten Gewebe zerzauste Geschöpfe, grandios überzeichnete Spiegelungen, Schattenbilder eigenen Erlebens. Sie bilden die Folie, auf der sich plastisch die eigentliche Leidenschaft der Schriftstellerin zeigen kann. Je tragischer, je zerstörerischer die Verhältnisse, desto deutlicher kann sich eine sprachliche Gegenwelt etablieren, die mit dem Willen zur Furchtlosigkeit geradezu imprägniert ist. Eine Sprache, die nicht mit der Wimper zuckt; als habe ein Samurai persönlich sich ihrer angenommen, damit sie den Zumutungen des Lebens in Augenhöhe gegenüberstehen kann.
Aber es gibt in den «Heften aus Kriegszeiten» auch weniger heldenhafte Auftritte der Duras. Ihnen ist ein Anhang mit dem Titel «Andere Texte» beigegeben, der in einem kurzen Prosastück etwa ihren Besuch am Grab des Vaters beschreibt. Sein sanfter Tod wird hier zum ersten Mal in Sprache gefasst, sie liest sich wie ein Aufschrei nach einem Frieden, der seiner Verfasserin selber verwehrt war. Sie hat, darin mag sich die Bedeutung spiegeln, die sie dem Tod, diesem Tod gegeben hat, ihren wohlklingenden Familiennamen Donnadieu am Anfang ihrer Laufbahn abgelegt und sich den Namen des Ortes gegeben, in dem sich das väterliche Grab befindet: Duras.
In diesem Text berichtet sie von den Vogelrufen im Garten, der behutsamen Umsorgung des kranken Vaters durch zwei ihm ergebene Angestellte, über die Stille im Haus und das übergangslos vom Schlaf zum Tod führende Ende: «Sein Tod ist für mich immer noch so sanft wie ein Nachmittagsschlaf.» Die Art und Weise, wie hier das Sterben des Vaters übernommen und zum eigenen Erlebnis umgedeutet wird, lässt ahnen, welche Entfernungen die exzessive Persönlichkeit der Duras hat zurückzulegen müssen, um sich dem Zustand der Kontemplation und Stille nahe fühlen zu können.
Eine Szene, die in die Kindheit scheint
Auch noch in einem anderen Sinn ist dieser eher zurückhaltende Text aufschlussreich. Es muss für sie, die Tochter, die große Schriftstellerin und Intellektuelle am väterlichen Grab den Gedanken gegeben haben, ein Bild für die Ewigkeit finden zu wollen. Man nimmt ihr Bemühen wahr; auch, wie es scheitert. Sie stellt sich vor, wie irgendjemand «neue Blumen» auf das Grab legen würde und wie die Tage und Nächte «über den Leib» des Vaters «streichen». Oder dass der Schatten der Bäume «filigranes Gold» über den Grabstein «wischen» wird. In dieser kurzen Passage erfährt man viel über die Binnenstruktur des Werkes: über das Gesetz der Konservierung. Die Leidenschaft der Duras für wiederkehrende Motive und Figuren in ihrer Literatur lässt sich mit der Obsession Vladimir Nabokovs für das Aufspießen von Schmetterlingen vergleichen: wunderbare Lebewesen, die, vom Tod getroffen, dennoch goldbestäubt für immer dem menschlichen Auge erhalten bleiben.
Dass die nachgelassenen Schriften mit der Bezeichnung «Hefte aus Kriegszeiten» versehen wurden, verweist auf deren Werkstatt-Charakter. Die Ankündigung des Verlages, mit ihrer Veröffentlichung werde ein «literarisches Geheimfach» geöffnet, erliegt demgegenüber dem sakralen Code der Duras. Ihr gesamtes Werk scheint letztlich einem Geheimfach entsprungen zu sein, einer Art Großraumkäfig, in dem die Protagonisten und ihre Geschichten einander gegenseitig auf die Füße treten. Unabhängig davon stellt die Veröffentlichung der «Hefte» – deren fundierte, tongetreue und den Eigenbewegungen der Sprache folgende Übersetzung Anne Weber zu verdanken ist – einen Gewinn für die heutige Erfahrung mit Literatur dar. Sie geben Anlass, sich erneut mit dem Werk einer Schriftstellerin zu beschäftigen, dessen existentieller Ton, dessen Tiefenschicht dem Leser Hinweise auf die Gefährdungen, auf das Drama des eigenen Lebens liefern. Diese Eigenschaft verleiht dem Werk heute beinahe etwas Entrücktes, das Gefühl für die menschliche Welt-Fremdheit scheint sich zurückgebildet zu haben.
Berührend in diesem Zusammenhang der Entwurf einer kurzen Szene, die einen Roman mit dem Titel «Théodora» einleiten sollte, aber nicht fortgeführt wurde. Die Szene nimmt ihren Ausgang vom Speisesaal eines Hotels. Marguerite Duras berichtet von ihren Beobachtungen des Nebentisches, an dem zwei Kinder mit ihrer Gouvernante ihr Essen einnehmen. Bei der an Marcel Proust sich anlehnenden Beschreibung geht es im Grunde um wenig. Marguerite Duras verfolgt als hochsensible Diagnostikerin den leisen Widerstand der Kinder, der sich gegen die Willkür ihrer Gouvernante richtet: durch Gestik und Mienenspiel, durch ein Flüstern. Der übergenaue, minutiös auf Einzelheiten eingestimmte Blick der Duras versenkt sich in den Widerstand der beiden Kinder, als könnten sie ihrem eigenen Leben etwas davon abgeben.
Gisela von Wysocki ist Essayistin, Theater- und Musikwissenschaftlerin, Autorin von Hörspielen und Theaterstücken und lebt in Berlin.
Marguerite Duras
Hefte aus Kriegszeiten
Aus dem Französischen von Anne Weber.
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2007. 380 S., 24,80 €
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