
- Wie war im Sommer 1961 die Stimmung in Berlin?
Frage des Tages: Sommer ’61 in Berlin – Arbeitspendler, Flüchtlinge, kalter Krieg. Wie war die Situation in der Stadt unmittelbar vor dem Mauerbau?
Vor dem 13. August 1961, dem Tag des Mauerbaus, war Berlin alles andere als eine normale Stadt. Aber zwischen den beiden Teilen, dem Westen mit dem amerikanischen, britischen und französischen Sektor auf der einen und dem sowjetischen Sektor auf der anderen Seite, gab es vielfältige Beziehungen. Ein auswärtiger Besucher der Stadt, der nicht gewusst hätte, dass mitten durch Berlin die Grenze zwischen den Einflusszonen der beiden Supermächte USA und UdSSR verläuft, wäre allenfalls irritiert gewesen, dass es offensichtlich zwei verschiedene Zahlungsmittel gab. Ansonsten aber hätte er das völlig normale Gewusel einer großen Stadt erlebt.
U-Bahnen und S-Bahnen, die Hauptverkehrsadern zwischen Ost und West, funktionierten. Viele Ost-Berliner arbeiteten in westlichen Betrieben, deutlich weniger West-Berliner waren im Ostteil der Stadt tätig. 50 000 Frauen und Männer aus dem Ostteil waren in West-Berliner Industriebetrieben beschäftigt. Von ganz besonderer Bedeutung waren die vielen Ostberliner Studenten der Freien Universität, jener Universität, die ja erst aus dem Geist des Widerstandes gegen die marxistische Indoktrination entstanden war. Mit dem Stichtag 13. August 1961 wurden 400 junge Frauen und Männer über Nacht von ihrem Studienplatz abgeschnitten. Die 14 000 berufstätigen West-Berliner, die täglich zur Arbeit Richtung Osten fuhren, waren vorwiegend bei der Bahn, der Post, bei Theater und Film tätig.
Aber die meisten Berliner ahnten, dass das Leben in der Stadt und die Durchgängigkeit von einem Teil in den anderen immer mehr einem Tanz auf dem Vulkan glich. Die oft nur kleinen Texte auf den lokalen Seiten des Tagesspiegels und die großen Aufmacher auf der Titelseite zeigen die zwiespältige Situation. Berlin war mit Beginn des kalten Krieges zum weltpolitischen Konfliktpunkt geworden. Nicht in Korea, in Berlin wird es, wenn überhaupt, zur Konfrontation der Supermächte kommen. Alle wissen – und verdrängen das.
Chruschtschows Berlin-Ultimatum vom 27. November 1958 hatte West- Berlin in eine Dauerkrise gestürzt, obwohl die Berliner und die bundesdeutsche Politik, auch die Haltung und die Äußerungen der westlichen Alliierten, das Gegenteil zu signalisieren suchten. Chruschtschow hatte den USA, Frankreich und Großbritannien vorgeworfen, sie hätten das Viermächteabkommen verletzt und sie aufgefordert, innerhalb von sechs Monaten die „Besatzung“ West-Berlins zu beenden. Die Stadt solle entmilitarisiert und zu einer „Selbständigen Politischen Einheit“ ohne Anbindung an die Bundesrepublik werden. Die UdSSR drohte, mit der DDR einen Separatfriedensvertrag abzuschließen und ihr die Kontrolle über die Verbindungen zwischen der Bundesrepublik und West- Berlin zu übertragen. Von einem Flughafen unter DDR-Hoheit ist in der russischen Propaganda die Rede. Jeder in West-Berlin wusste, was das bedeutet: Man saß, im übertragenen Sinne, auf gepackten Koffern. Vor allem die Amerikaner würden West-Berlin nicht einfach den Russen überlassen, dessen war man gewiss. Aber ob sie die Freiheit der Stadt um jeden Preis bewahren würden, da konnte man sich nicht so sicher sein, der Zweifel war wohl in allen Familien ein Thema.
Das Ultimatum wird zwar im Mai 1959 ohne einen erkennbaren Wandel der Rechtsgrundlagen und der Fakten um Berlin auslaufen, aber es hat Langzeitwirkung. Chruschtschows Ziel ist es, die Westmächte durch dauernde Nadelstiche aus West-Berlin zu vertreiben, sie zu dem Eingeständnis zu bringen, dass sie wegen des Westteils der ehemaligen Hauptstadt keinen Weltkrieg riskieren wollen. Bei den Engländern fand Chruschtschows Idee von der selbstständigen politischen Einheit West-Berlin damals die größten Sympathien. In deren diplomatischem Corps verglich man die Situation auf der nach Unabhängigkeit strebenden Insel Zypern mit West-Berlin und befand, beide hätten ja ungefähr 2,5 Millionen Einwohner, da könne man doch überlegen… Es ist die Phase, in der auch die abstruse Idee zirkuliert, durch einen umfassenden Geländetausch West-Berlin Richtung Lüneburger Heide zu transferieren, wo die Berliner ohnedies gerne Urlaub machen.
Die West-Berliner sind sich des Prekären ihrer Situation durchaus bewusst. Im Tagesspiegel-Immobilienteil künden die vielen Eigentums- und Mietwohnungsangebote aus Bayern, dem Allgäu und der Lüneburger Heide von der tief sitzenden Sorge, ob man sich nicht doch besser rechtzeitig um ein bundesdeutsches Domizil kümmern solle, für den Fall neuer sowjetischer Sanktionen gegen die Stadt. Zwar boomt die Wirtschaft im Westteil, der IHK-Präsident kann am 2. Juli 1961 stolz die um 15 Prozent gestiegene Industrieproduktion erwähnen und dass es seit der Chruschtschow-Note vom November 1958 45 000 neue Arbeitsplätze und 50 000 neue Wohnungen gegeben habe. Aber das Unbehagen bleibt, und aus damaliger Sicht mag die Feststellung zynisch klingen, dass erst mit dem Bau der Mauer und den nachfolgenden deutsch-deutschen Abmachungen West-Berlin eine sichere Stadt geworden ist.
Während Nikita Chruschtschow 1958 von der Überlegenheit des Sozialismus fest überzeugt ist, verharrt Walter Ulbricht noch tief im stalinistischen Denken. Immer wieder versucht der KPdSU-Führer, den SED-Chef zu Reformen zu drängen. Dem Westen das Unsinnige eines weiteren Verbleibens in West-Berlin deutlich zu machen, das kann aus nachvollziehbarer russischer Sicht nur gelingen, wenn das Leben in der DDR attraktiver und damit die seit 1945 anhaltende Abwanderung aus der sowjetischen Besatzungszone beendet wird. Aber Ulbricht verweigert jede Lockerung. Freie Wahlen sind für ihn undenkbar. Mit der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft geht er den Weg in die Repression weiter, statt der von der SED versprochenen deutlichen Verbesserung der Versorgung mit Lebensmitteln tritt das Gegenteil ein. Dass Chruschtschow den SED-Chef, trotz der in der DDR stationierten 380 000 sowjetischen Soldaten, nicht zu einer Verhaltensänderung zwingt, sondern ihn gewähren lässt, hängt vor allem mit Ulbrichts Zuverlässigkeit zusammen. Im Juni 1953 mussten russische Panzer noch bei der Niederschlagung des Volksaufstandes helfen. 1956 griff die ungarische Revolution nicht auf die DDR über. Der Kreml rechnet dies dem SED-Chef als bleibendes Verdienst an.
Dass aber tatsächlich die Macht der kommunistischen Partei in der DDR erodiert, belegen die Flüchtlingszahlen. Seit 1945 haben drei Millionen Menschen das Gebiet der DDR, also die sowjetische Besatzungszone, verlassen. Seit Gründung der DDR 1949 bis 1959 waren es zwei Millionen. Jeder zweite Flüchtling ist jünger als 25 Jahre. In den ersten sechs Monaten 1961 verließen 388 Ärzte und 843 Lehrer das Land, im Studienjahr zuvor kamen 1648 Studenten und 725 Hochschulwissenschaftler in das West-Berliner Notaufnahmelager Marienfelde. Und mit der immer schwieriger werdenden Versorgungslage schwillt die Fluchtbewegung an, die sich ja nur über West-Berlin entladen kann, denn die Grenzen zwischen der DDR und der Bundesrepublik sind längst gesichert. Auch die 50 000 Ostberliner Grenzgänger geraten zunehmend unter den Druck der kommunistischen Partei. Sie werden gedrängt, Arbeit im Osten anzunehmen. Weigern sie sich, werden sie aus Neubauwohnungen zwangsexmittiert, ihre Kinder müssen sich von linientreuen Lehrern in der Schule anhören, ihre Väter seien keine Aktivisten, sondern Schmarotzer, die von den Errungenschaften des Sozialismus profitierten, aber nichts für ihn täten.
Im Juli 1961 kommen täglich 1000 Flüchtlinge in West-Berlin an, am 8. August sind es 1700, am 9. August 1926, am 10. August 1709, am 11. August 1532, am 12. August schließlich 2400 Menschen. Am 8. August macht der Tagesspiegel seine Seite eins mit den Fluchtzahlen auf. Die Unterzeile lautet: Furcht vor Absperrung der Fluchtwege nimmt zu. Es ist auch der Tagesspiegel, der am 27. Juli eine Rede von John F. Kennedy zur Lage Berlins auf fast 400 Druckzeilen dokumentiert und den amerikanischen Präsidenten mit dem Satz zitiert: „Berlin (gemeint ist West-Berlin) ist so sicher wie wir alle – denn wir können seine Sicherheit nicht von unserer eigenen trennen“.
Aber dass Kennedy bei der Aufzählung der „essentials“ des ungehinderten Zugangs von und nach West-Berlin sowie zur Lage in Gesamtberlin eines nicht mehr erwähnt, fällt damals niemandem auf – der Präsident nennt in seiner Rede nicht mehr die Bewegungsfreiheit in der ganzen Stadt als ein zu garantierendes Recht.
Heute wissen wir, dass unter dem Druck der Zahlen die sowjetische Spitze am 20. Juli 1961 schließlich dem Drängen Ulbrichts nachgab und dem Bau der Mauer zustimmte. Die sich selbst entschuldigende Lesart der überlebenden DDR-Granden, man sei an der Mauer nicht schuld, die Russen seien es gewesen, haben Historiker wie Hope Harrison, Gerhard Wettig und Manfred Wilke als eindeutig falsch nachgewiesen. Chruschtschow sagte Ja, aber der Fordernde war Ulbricht. Auch das Zögern des Kreml kann die Geschichtsforschung erklären. Die russische Lesart von der angeblichen Überlegenheit des Sozialismus über das kapitalistische System erwies sich in dem Moment als Chimäre, in dem die Mauer gebaut wurde. Die Fluchtbewegung als Erklärung für den nur zögernden Wirtschaftsaufbau war damit weg gefallen. Die Lage wurde zwar besser, von Normalität oder gar von westlichen Standards war die DDR jedoch bis zu ihrem Ende weit entfernt. Noch in den siebziger und achtziger Jahren brachten westdeutsche Gäste zu Familienfeiern in der DDR dringend benötigte Waschbecken oder Kloschüsseln als Gastgeschenke mit.
Dass die SED ihre Mauer nicht als „antifaschistischen Schutzwall“ verkaufen konnte, zeigte sich in den Tagen nach dem Beginn der Absperrung, als westliche Grenzgänger immer noch unbehelligt in den Ostteil der Stadt konnten. Auf den offensichtlichen Widerspruch hingewiesen – wieso durften die denn einreisen, gegen die angeblich die Mauer gebaut worden war? – sperrte die DDR- Führung dann die 14 000 Grenzgänger aus.
Für die West-Berliner Industrie hatte die Abschnürung weitreichende Folgen. Bei Siemens kamen 4000 Beschäftigte am Montag nach dem Mauerbau nicht mehr zur Arbeit. Der damalige Siemens-Chef, der heute 80-jährige Joachim Putzmann, musste sich im Ausland nach den nötigen Arbeitskräften umschauen – der Beginn der Anwerbung türkischer Arbeitnehmer hängt ganz unmittelbar mit dem Mauerbau zusammen.
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