Er war der ewige Kronprinz von Erich Honecker. Zu DDR-Zeiten galt er als moderater Gesprächspartner der Bundesrepublik. Seit der Wiedervereinigung jedoch fühlt sich Egon Krenz verfolgt, zu Unrecht als Staatsverbrecher verurteilt und von den Medien denunziert
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Hollendorf ist kein Ort, den es in die Schlagzeilen drängt. Die Peenemündung ist nah, aber die Weltgeschichte weit weg. Dass die 200 Einwohner zählende Gemeinde in Vorpommern kürzlich dennoch von sich reden machte, verdankt sie einem prominenten Gast, der sich nur sehr selten einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert: Egon Krenz. Der Wirt des Dorfclubs hatte den letzten Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und letzten Staatsratsvorsitzenden der DDR zu einer Lesung eingeladen, damit endlich einmal „Leben in die Bude“ kommt. Und es kam Leben in die Bude. „Egon Krenz – Ja, es gab den Schießbefehl“ stand am übernächsten Tag auf der ersten Seite der Bild-Zeitung. Hatte der letzte starke Mann der DDR also in der ostdeutschen Provinz eingestanden, was er zwei Jahrzehnte geleugnet hatte? Hatte Egon Krenz sich endlich zu seiner politischen Verantwortung für die Mauertoten bekannt? War der bekennende Kommunist in einem kleinen Kreis Wohlgesonnener zu überfälligen Einsichten gekommen?
Von wegen, das Dementi folgte prompt. Von einem „späten Geständnis“ will der mittlerweile 71-Jährige nichts wissen. Schriftlich teilte Egon Krenz noch am selben Tag mit, er habe auch in Hollendorf nichts anderes gesagt als in den achtzehn Jahren zuvor. Über „Schusswaffengebrauchsbestimmungen“ schreibt er anschließend und über das „Grenzgesetz der DDR“, ansonsten bleibt er, wie immer, vage. Nachfragen unerwünscht. Reden will Egon Krenz nicht, zumindest nicht mit Journalisten. „Das macht doch keinen Sinn“, sagt er am Telefon und legt auf. Egon Krenz fühlt sich verfolgt, missverstanden, denunziert. In Briefen klagt er darüber, dass die bürgerlichen Medien Geschichten über ihn „erfinden“ und ihn als „Freiwild“ betrachten. Der Ex-SED-Chef gefällt sich in der Rolle des Opfers.
Schießbefehl ja oder nein, um diese Frage kreist seit 18 Jahren die öffentliche Beschäftigung mit der Person Krenz. Politiker oder Bösewicht, Machtopportunist oder Überzeugungstäter, Staatsmann oder Staatsverbrecher? Juristisch ist die Sache geklärt. Vom Landgericht Berlin wurde Egon Krenz im August 1997 im sogenannten Politbüroprozess wegen Totschlags in vier Fällen zu einer Haftstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof haben dieses Urteil in Sachen Mauerschüsse bestätigt. Vier Jahre davon hat Krenz überwiegend als Freigänger in der Haftanstalt Berlin-Plötzensee abgesessen.
Krenz hält sich für unschuldig. Er macht die Sowjetunion und den Kalten Krieg zwischen Ost und West für das militärische Grenzregime und die tödlichen Schüsse verantwortlich, alle also, nur nicht die DDR-Führung. Zudem spricht er den westdeutschen Richtern grundsätzlich jedes Recht ab, überhaupt über DDR-Bürger zu urteilen. In der jahrelangen juristischen Auseinandersetzung gab sich Krenz unbeugsam, eine Amnestie lehnte er ab, nicht einmal ein Gnadengesuch wollte er stellen, weil dies einem „Kniefall“ vor den jetzt Herrschenden gleichgekommen wäre. Und als er Ende 2003, eine Woche vor Weihnachten, auf Bewährung aus der Haft entlassen wurde, da verkündete er, kaum hatten sich die Gefängnistore geschlossen, trotzig, er sei „lieber ein Betonkopf als ein Weichei“.
Viereinhalb Jahre ist das her. Egon Krenz, der in der DDR immer als Berufsjugendlicher galt, ist alt geworden. Das markante ovale Gesicht mit der breiten Nase und den tiefen Augen bleibt unverkennbar, aber die Haare sind schon fast weiß. Zurückgezogen lebt Krenz seitdem im Ostseebad Dierhagen. Sein Haus in Berlin Pankow, das er 1990 in den Wendewirren gekauft hatte, musste er auf Beschluss des Bundesgerichtshofes wieder zurückgeben, weil der Kaufvertrag für nichtig erklärt worden war. In Vorpommern hat er sich sein Refugium geschaffen. Zu DDR-Zeiten war Dierhagen der Urlaubsort der DDR-Nomenklatura, im Gästehaus der DDR-Regierung stieg auch Krenz gerne ab. Heute ist Dierhagen ein Urlaubsort von vielen, das Gästehaus ein gewöhnliches Vier-Sterne-Hotel, und ein paar Hundert Meter entfernt bewohnt Krenz ein kleines nur 80 Quadratmeter großes reetgedecktes Häuschen unmittelbar hinter dem Deich, in der Garage hat er sich sein Arbeitszimmer eingerichtet. Vermögend ist er nicht, sondern im Gegenteil überschuldet, der Politbüro-Prozess hat viel Geld verschlungen.
Seinen Frieden in der westlichen Gesellschaft und der bürgerlichen Demokratie hat Egon Krenz trotzdem nicht gefunden. Wenn er von der DDR redet, spricht er über „meine untergegangene Welt“, und in dieser untergegangenen Welt lebt Egon Krenz weiterhin. „Betonkopf“ und „Weichei“, „Kommunisten“ und „Ex-Kommunisten“, „Spitzenfunktionäre“ und „Spitzenverleumder“, das sind die Kategorien, in denen Egon Krenz bis heute über die immer kleiner werdende Schar seiner einstigen Mitstreiter urteilt.
Krenz schreibt viel, Briefe an ehemalige Genossen und einstige Gesprächspartner im Westen zum Beispiel. So hat er sich in den vergangenen Jahren unter anderem an Gerhard Schröder, Michail Gorbatschow oder Helmut Kohl gewandt, und mittlerweile hat er viele dieser Briefe veröffentlicht. Immer wieder spricht er in diesen frühere Gemeinsamkeiten an, jene Zeiten, als man sich noch auf Augenhöhe begegnete. Den einstigen Sowjetführer Gorbatschow etwa erinnert er an die Waffenbrüderschaft zwischen UdSSR und DDR, den SPD-Politiker Schröder an freundschaftliche Begegnungen aus jener Zeit, als dieser ein aufstrebender sozialdemokratischer Nachwuchspolitiker war, und Helmut Kohl an Telefongespräche im Wendeherbst, bei denen der christdemokratische Bundeskanzler dem neuen starken Mann in der DDR einst eine „glückliche Hand“ gewünscht hatte.
Einen verbitterten Eindruck erweckt Egon Krenz in diesen Briefen und auch in vielen seiner Artikel, die er in den vergangenen Jahren veröffentlicht hat. Er schreibt von „Rache“ der Sieger und beklagt sich beispielsweise bitter darüber, dass Michail Gorbatschow mittlerweile Ehrenbürger von Berlin ist, während er vier Jahre im Knast sitzen musste.
Der einstige SED-Politiker, der durchaus verschiedene Seiten hatte, verschwindet hinter dieser Verbitterung. Dabei war Krenz nie einfach zu durchschauen. Einerseits war er ein ehrgeiziger SED-Genosse und sozialistischer Apparatschik, zudem galt er als Hardliner. Andererseits war er ein geachteter und verlässlicher Gesprächspartner im deutsch-deutschen Dialog. Zumindest im Verborgenen sympathisierte er mit den sowjetischen Reformern, auch wenn er dies aus Karrieregründen, wie er einräumt, weitgehend für sich behielt. Aber immerhin gehörte er zu den SED-Politikern, die im Herbst 89 darauf hinwirkten, dass es bei den Leipziger Montagsdemonstrationen und bei der Maueröffnung nicht zu einem Blutbad und zu einem Bürgerkrieg kam. Dies bestätigten ihm sogar die Richter des Berliner Landgerichts: Der Angeklagte habe „maßgeblich zur Deeskalation der damaligen Situation“ beigetragen, schreiben sie in ihrem Urteil. Sosehr Egon Krenz die westdeutsche Klassenjustiz verteufelt, so demonstrativ trägt er diesen einen Satz wie eine Monstranz vor sich her.
Nur half dies alles nichts, und schließlich trat Krenz sogar freiwillig ab. Mehr oder weniger. Als sein Volk im Herbst 1989 immer lauter die Wiedervereinigung forderte und sogar die eigenen Genossen rebellierten, da sah selbst er ein, dass die SED sich der friedlichen Revolution nicht länger entgegenstellen konnte, dass die Macht verloren war und die SED-Diktatur ausgedient hatte. Nur sein kleines rotes SED-Parteibuch rückte Krenz nicht raus, als die dann schon in SED-PDS umbenannte ehemalige Staatspartei ihn im Januar 1990 vor ein Schiedsgericht stellte und aus ihren Reihen ausschloss.
Die Machtlosigkeit im Zentrum der Diktatur, den Absturz und den Bedeutungsverlust innerhalb weniger Monate hat Egon Krenz vermutlich bis heute nicht verwunden. Schließlich fühlte er sich zu Großem berufen. In den achtziger Jahren war Krenz der zweite Mann in der DDR, stellvertretender Staatsratsvorsitzender und der ewige Kronprinz von Erich Honecker. Viel zu spät, erst im Herbst 1989, wendet er sich gegen seinen politischen Ziehvater. Am 18.Oktober 1989 tritt er seine Nachfolge an. 52 Jahre ist er da alt, also eigentlich im besten Politikeralter. Aber innerhalb weniger Wochen fegt die Geschichte über ihn hinweg. Die „Wende“ in der DDR, die Krenz nach dem Sturz Honeckers ausgerufen hatte, wendet sich gegen ihn. Die Mauer fällt, das Politbüro der SED tritt zurück, das Zentralkomitee wird aufgelöst, und am 6.Dezember 1989 gibt Egon Krenz auch als Staatsratsvorsitzender auf. Nur 49 Tage war er an der Macht und konnte lediglich zusehen, wie diese zerrann, wie ein Staat zerfiel und die Allmacht der SED implodierte. In seinen Erinnerungen an die Wende, die 1999 erschienen sind, stellt sich Egon Krenz selbst die Frage, warum er nicht früher etwas getan habe, warum Honecker nicht schon 1986 abgesetzt wurde und sinniert anschließend über seine „fast religiöse Beziehung zur Einheit und Reinheit der Partei“.
Man könnte Egon Krenz also auch eine tragische Gestalt nennen, einen, der anders als Gorbatschow einerseits zu spät kam, um in der DDR noch als Reformer gefeiert zu werden, und der andererseits zu früh an die Macht kam. Wie zum Beispiel sein Genosse Hans Modrow. Der konnte als letzter SED-Ministerpräsident zumindest die Rolle des Nachlassverwalters der DDR übernehmen und wurde dafür vom Westen zumindest weitgehend mit Respekt behandelt. Krenz also war zu jung, um die alte Garde der SED rechtzeitig aus dem Weg zu räumen, und gleichzeitig zu alt, um im Westen noch einmal neu anzufangen.
So blieb Krenz im wiedervereinigten Deutschland nichts anders übrig, als fortan als roter Priester durch das Land zu reisen, den Sozialismus zu preisen und die DDR zu verteidigen. Das Milieu der alten Mitstreiter ist das einzige, das ihm noch Anerkennung zollt. Da kommt er nicht raus, nicht aus der gemeinsamen Geschichte, nicht aus der gemeinsamen Erinnerung und, weil die DDR mittlerweile weg ist, vor allem nicht aus der gemeinsamen Weltanschauung. Natürlich räumt Krenz ein, die SED habe Fehler gemacht, zum Beispiel in der Wirtschaftspolitik. Ein paar Demokratiedefizite räumt er ein und ziemlich viel Realitätsverlust im Politbüro. Selbst die Toten an der Mauer bedauert er, nur jede persönliche Verantwortung weist er von sich. Die Verhältnisse waren es, die militärische Konfrontation war schuld und überhaupt, bevor nicht alle Geheimdienste ihre Archive geöffnet haben, vor allem die westlichen, lässt sich kein endgültiges Urteil über die DDR fällen. So werden Legenden gestrickt.
Vor allem aber pflegt Egon Krenz den Opfermythos, seinen eigenen und den der DDR-Eliten, die nach der Wiedervereinigung aus dem Staatsdienst gedrängt, deren Renten angeblich mutwillig gekürzt und die von der westdeutschen Justiz vermeintlich politisch verfolgt wurden. Und so rar er sich gegenüber den bürgerlichen Medien macht, so umtriebig ist er in eigener Sache. Er schreibt kleine Artikel, die in den Kalenderblättern der DKP oder den Mitteilungen der Kommunistischen Plattform erscheinen, seit achtzehn Jahren arbeitet er an seinen Erinnerungen, ein renommierter Verlag soll sich mittlerweile die Rechte gesichert haben. Und wenn im Neuen Deutschland, dem ehemaligen Zentralorgan der SED, mal wieder die alte Zeit nicht ausreichend gewürdigt wird, dann schreibt er wütend Leserbriefe.
Das Netzwerk der alten Genossen ist eng geknüpft. Krenz trifft sich regelmäßig mit Mitstreitern von früher, liest aus seinem Buch „Widerworte“. Im Verein Rotfuchs, einem Zusammenschluss ehemaliger SED-Genossen, die weiter der Diktatur des Proletariats huldigen, tritt er gerne auf. Krenz unterstützt die „Gesellschaft zur rechtlichen und humanitären Unterstützung (GRH), die sich um die vermeintlichen Opfer einer „politischen Strafjustiz“ im vereinten Deutschland kümmert. Auch DKP-Ortsgruppen beehrt er gerne.
Krenz ist und bleibt, so betont er immer wieder, Marxist, Kommunist und Leninist. Auf diejenigen, die sich zum „Kronzeugen gegen die DDR“ haben machen lassen wie sein einstiger Politbüro-Genosse Günter Schabowski oder viele PDS-Politiker, blickt er mit Verachtung herab. Er würde sich „wie ein Lump“ vorkommen, würde er sich nicht schützend vor die anderen DDR-Bürger stellen, sagt er in einem Interview. Auch wenn er „durchaus kritisch“ mit seiner Vergangenheit umgehe, verteidige er seine Freunde „ganz undifferenziert“, schreibt er an anderer Stelle. Krenz kann nicht aus seiner Haut, die DDR hält ihn gefangen. Die Genossensolidarität hat schließlich sein ganzes Leben geprägt, seit er im sozialistischen Nachkriegsdeutschland vaterlos aufwuchs und 1955 im Alter von 18 Jahren SED-Mitglied wurde. Erst machte er in der Jugendorganisation FDJ und anschließend in der Partei Karriere. Ein Leben für die SED. So erweckt er bis heute den Eindruck, als sei er immer noch Staatsratsvorsitzender, ein Staatsratsvorsitzender, dem sein Staat abhandengekommen ist.
Doch die Welt ist heute eine andere, selbst am Grab von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg auf dem Friedhof in Berlin Friedrichsfelde. Einmal im Jahr gedenken dort alle Sozialisten und Kommunisten des Landes zweier ihrer geistigen Wegbereiter. Auch für Egon Krenz ist das ein Pflichttermin. Nur sitzt er nicht mit der übrigen SED-Konkurrenz auf der Ehrentribüne, sondern er muss sich unter das Fußvolk mischen. Vorneweg marschieren mittlerweile andere. Gregor Gysi zum Beispiel, der im Dezember 1989 von Krenz die Macht in der SED-PDS übernahm oder auch der ehemalige SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine, der inzwischen Vorsitzender der Linkspartei, der früheren PDS, ist.
Krenz und Lafontaine kennen sich seit fast drei Jahrzehnten. Solange Deutschland geteilt war, pflegten die beiden enge politische Kontakte. Noch im Sommer 1989 hatte der stellvertretende Vorsitzende des DDR-Staatsrats Egon Krenz den stellvertretenden SPD-Vorsitzenden und Ministerpräsidenten im Saarland besucht, die beiden haben sich über die Systemgrenze hinweg gut verstanden.
Doch das ist Geschichte. Dieses Jahr im Januar allerdings wäre es in Berlin Friedrichsfelde vor der Gedenkstätte der Sozialisten im Schein der Kameras beinahe zu einer gefährlichen Begegnung zwischen Vergangenheit und Gegenwart gekommen. Auf dem Vorplatz steht Oskar Lafontaine und gibt Interviews, plötzlich geht Egon Krenz auf die Gruppe zu. Einige Mitglieder der Linken wittern die Gefahr, also geht einer von ihnen auf Krenz zu, verwickelt den ehemaligen Genossen in ein Gespräch, bis Lafontaine und die Kameras weitergezogen sind. Eine öffentliche Begegnung mit dem Vorsitzenden der Linken und die Bilder davon hätten Egon Krenz sicher gefallen.
Christoph Seils ist Politologe und arbeitet in Berlin als freier Journalist für überregionale Zeitungen und Zeitschriften sowie für Zeit online
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